Was im Sommer geschah (eBook)

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2018 | 1. Auflage
382 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-11669-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was im Sommer geschah -  Sarah Challis
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Nach diesem Sommer wird nichts mehr so sein, wie es war. Ein Dorf in Dorset an einem Abend im Juni: Das spurlose Verschwinden der zwölfjährigen Jodie versetzt die Menschen in der kleinen Gemeinde in Sorge. Rachel ist erschüttert, als sie merkt, dass ihr Mann die Polizei belogen hat. Was gibt es zu verbergen, wo war er an jenem Abend wirklich? Enry, der eigenbrötlerische Nachbar, verliert derweil vollkommen den Halt. Doch niemand scheint es zu merken. Welche Erinnerungen quälen ihn? Die Sorge um das vermisste Mädchen lässt die Dorfbewohner näher zusammenrücken, ruft vergessene Gefühle wieder wach und stellt Freundschaften wie Familienbande auf eine harte Probe.

Sarah Challis, geboren in Buckinghamshire, arbeitet als Englischlehrerin und lebt - nach Aufenthalten in Schottland und Kalifornien - heute mit Mann und vier Söhnen in Somerset.

Nina Scheweling war während ihres Studiums der Anglistik, Germanistik und Neueren Geschichte als Literaturübersetzerin tätig. Nach ihrem Abschluss entdeckte sie ihre Liebe fürs Kinderbuch und arbeitet seitdem als freie Übersetzerin, Lektorin und Autorin in der Nähe von Freiburg. Sarah Challis, geboren in Buckinghamshire, arbeitet als Englischlehrerin und lebt - nach Aufenthalten in Schottland und Kalifornien - heute mit Mann und vier Söhnen in Somerset.

Kapitel 1


Jodie Foot verschwand am zweiten Freitag im Juni. Als Rachel Turner davon erfuhr, stand sie gerade in der Küche und kochte das Abendessen. Sie hörte das Gartentor klappen und sah hoffnungsvoll auf die Uhr. Es war kurz vor halb acht, und vielleicht kam ihr Mann Dave doch schon nach Hause, obwohl er ihr am Telefon gesagt hatte, dass er heute wieder länger würde arbeiten müssen. Aber dann erkannte sie die Silhouette ihrer hochschwangeren Nachbarin Cathy, die auf dem Weg zum Hintereingang am Fenster vorbeiging.

Überrascht über den ungewöhnlichen abendlichen Besuch, ging Rachel zur offenen Hintertür, wo sie beinahe mit Cathy zusammenstieß. Das Gesicht ihrer Freundin glühte vor Aufregung über die Neuigkeiten, die sie mitzuteilen hatte.

Cathy stand vor ihr, die Abendsonne im Rücken. Sie hatte sich vor kurzem eine Dauerwelle machen lassen, und seitdem standen ihre Haare in dicken, krausen Wellen von ihrem länglichen Gesicht ab.

«Stell dir vor», sagte sie in vertraulichem Tonfall und sah sich um, wie um sicherzugehen, dass sie nicht von möglichen Lauschern verfolgt worden war, «Jodie Foot ist abgehauen. Sie ist mit den anderen Kindern aus dem Schulbus ausgestiegen, seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Keiner weiß, wohin sie verschwunden ist.» Cathy sprach mit einem leichten Dorset-Akzent, der in Rachels Ohren immer noch fremd klang. «Marion ist völlig außer sich.»

Rachel zuckte gleichgültig mit den Schultern. Jodie machte öfter mal Schwierigkeiten, und es konnte zahlreiche Erklärungen dafür geben, warum sie nicht nach Hause gekommen war. Zudem neigte Cathy dazu, die Dinge etwas dramatischer darzustellen, als sie waren. Es geschah kaum etwas im Dorf, über das sie nicht ausführlich spekulierte – als beispielsweise die alte Mrs Bagshaw ein Huhn vermisste, stellte Cathy die Theorie auf, es sei von Urlaubern gestohlen worden, die außerhalb des Dorfes gezeltet hatten. Sobald irgendetwas Außergewöhnliches passierte, war Cathy ganz in ihrem Element.

Rachel hingegen kümmerte sich nicht sonderlich um die Angelegenheiten der anderen Dorfbewohner, schon gar nicht um die der Foots. Marion, Jodies beleibte, kettenrauchende Mutter, hatte von drei verschiedenen Männern Kinder bekommen. Jodie war irgendwann als mittleres Kind geboren worden und blieb mehr oder weniger sich selbst überlassen. Sie war oft noch im Dunkeln allein draußen, trieb sich mit älteren Mädchen herum, machte sich einen Spaß daraus, Jungs zu provozieren, hatte einen ziemlich derben Wortschatz, rauchte und schikanierte gern die jüngeren Kinder. Sie war kein Mädchen, das man schnell ins Herz schloss oder um das man Angst haben musste.

«Die Jungs haben mir beim Tee gar nichts davon erzählt», sagte Rachel zu Cathy. Ihre zwei Söhne, Pete und Jamie, gingen auf dieselbe Schule wie Jodie und fahren mit ihr zusammen im Schulbus nach Hause. «Sie sind gerade mit den Fahrrädern unterwegs. Hat Marion denn die anderen Kinder gefragt?»

«Hast du sie noch nicht gehört? Sie schreit Zeter und Mordio, um herauszufinden, wo sich Jodie herumtreibt! Aber es scheint ganz so, als sei sie spurlos verschwunden.»

«Das ist ja merkwürdig», sagte Rachel und runzelte die Stirn.

Cathy nickte. «Es sind jetzt schon fast vier Stunden. Ich wäre krank vor Sorge, wenn sie meine Tochter wäre.»

«Vier Stunden sind aber noch nicht sonderlich lange. Es wundert mich, dass Marion sie überhaupt schon vermisst.» Rachel konnte den missbilligenden Unterton in ihrer Stimme nicht verbergen. Sie hielt nicht viel von den Foots. In ihren Augen war diese Familie wahrlich kein Aushängeschild für den Ort und Marion ziemlich verantwortungslos.

«Sie wollte heute Abend ausgehen, und Jodie sollte auf den Kleinen aufpassen.»

Der jüngste Nachwuchs bei Marion war ein schielender, plumper Junge mit zerknautschtem Gesicht und kleinen, engstehenden Augen. Rachel hatte ihn einmal gesehen, als er von Jodie im Kinderwagen herumgefahren wurde. Wütend darüber, festgeschnallt zu sein, hatte er sich mit aller Kraft gegen die Rückenlehne gestemmt, sich mit seinen dicken, roten Fingerchen in die Verschalung gekrallt und laut geweint. Jodie war mit ihm zum Spielplatz gegangen, hatte ihn dort einfach stehen lassen und sich zu den anderen Mädchen auf die Schaukel gesetzt.

«Wo hat man Jodie denn das letzte Mal aufgegriffen?», fragte Rachel und versuchte damit absichtlich, Cathys Besorgnis herunterzuspielen. Immerhin war Jodie schon öfter weggelaufen.

«In Bournemouth. Dort ist sie angeblich die Hauptstraße entlanggelaufen und hat versucht, per Anhalter mitgenommen zu werden.»

«Da siehst du’s. Sie taucht schon wieder auf.»

Cathy seufzte und nickte widerstrebend. Sie musste zugeben, dass Rachel recht hatte.

«Trotzdem», entgegnete sie dann. «Man weiß ja nie, oder? Gerade in der heutigen Zeit und bei einem so jungen Mädchen … Es könnte alles Mögliche passieren.» Cathys Gesicht nahm einen ernsten und unheilvollen Ausdruck an, doch im selben Moment sah sie ein unbekanntes Auto vorbeifahren und vor dem Haus der Foots parken. Entzückt über die Aussicht auf neue Entwicklungen – und aus Angst, etwas zu verpassen –, wandte sie sich um, ging hinaus und winkte Rachel über die Schulter hinweg zum Abschied zu.

Rachel ging zurück in die Küche und sah wieder auf die Uhr. Es war wirklich furchtbar, dass Dave in letzter Zeit so viele Überstunden machen musste. Er war leitender Mitarbeiter einer Elektrofirma, und wenn ein Großauftrag einging, musste er länger arbeiten. Dabei hätte sie sich sehr über ein gemeinsames Abendessen und einen anschließenden Spaziergang mit ihm gefreut. Es war ein herrlicher Abend. Das goldene Sonnenlicht warf lange Schatten über den Rasen hinter dem Haus, flutete durch das Fenster und legte sich wie Sirup über den Küchenboden. Die Geranien, die Rachel in einem von den Jungs vor Jahren selbstgemalten Blumentopf angepflanzt hatte, verströmten einen leichten, sommerlichen Duft.

Sie goss die Kartoffeln ab, die sie schon vor einer ganzen Weile aufgesetzt hatte, und während sie den Kochtopf mit heißem Wasser ausspülte, sah sie aus dem Fenster in den Garten. Dave hatte vor kurzem den Zaun hinter dem Gemüsebeet erneuert, und die roten Latten bildeten nun einen hübschen Kontrast zu dem hellen Grün der Salatpflanzen und dem dunklen Grün des Vogelschutznetzes.

Der kleine Garten war Rachels ganzer Stolz. Das rechteckige Rasenstück glänzte samtig grün, und die schmalen Blumenbeete zu beiden Seiten leuchteten in satten Farben. Vor der Hintertür hatte Dave eine kleine Fläche gepflastert, damit die Jungs dort Fußball spielen konnten, und an der Wand des Schuppens hing ein Basketballkorb, den sie allerdings nur noch sehr selten benutzten. Im Sommer fuhren Pete und Jamie lieber auf den Mountainbikes durch die Gegend oder saßen mit Freunden vor dem Pub auf einer Mauer, tranken Cola, lachten, ärgerten sich gegenseitig oder alberten herum, und manchmal erlaubte der Wirt ihnen sogar, die Kegelbahn oder einen seiner Billardtische zu benutzen.

In dieser kleinen Gemeinschaft fühlte sich jeder dafür verantwortlich, ein Auge auf die Kinder zu haben.

An jedem anderen Abend wäre auch Jodie Foot mit dabei gewesen.

Jodie. Rachel schätzte sie auf zwölf oder dreizehn Jahre, da sie mit Jamie in eine Klasse ging. Sie hatte ein rundliches Gesicht mit einem glatten Teint, und ihre Haare waren mit dunkelroten und orangefarbenen Strähnchen durchzogen, streng aus dem Gesicht gebürstet und mit einer ganzen Reihe glitzernder Spangen zurückgehalten. Wenn sie sprach, hatte sie die Angewohnheit, diese Spangen immer wieder herauszuziehen und neu festzustecken.

Neuerdings trug sie enge, tiefsitzende Jeans, über deren Hosenbund eine blasse Speckrolle hervorquoll. Ihre Bewegungen waren nicht gerade graziös, und Rachel erinnerte sich daran, wie sie Jodie eines Morgens die Straße in Richtung Schulbus hatte entlangschlendern sehen: Ihre stämmigen Beine hatten unter einem kurzen Rock hervorgeschaut, und sie hatte ihre Schultasche am Riemen hinter sich hergezogen.

Eigentlich sollte ich Mitleid mit einem Mädchen aus solchen Verhältnissen haben, dachte Rachel. Jodies ältere Brüder waren Rüpel, die laut grölend und viel zu schnell auf ihren Motorrädern herumfuhren, und wenn sie mit dem Auto unterwegs waren, dröhnte meist laute Rockmusik aus den offenen Fenstern. Weil Marion jedoch für ihr aufbrausendes Temperament bekannt war, beschwerte sich niemand über das unverschämte Verhalten der beiden. Überhaupt war Rachel froh darüber, dass sechs Grundstücke zwischen ihrem Haus, das Dave und sie vor zehn Jahren gekauft hatten, und dem der Foots am Ende der Straße lagen.

Der Garten der Foots war ebenfalls eine Schande. Bei seinem Anblick wusste man sofort, mit was für einer Familie man es zu tun hatte. Das Gras im Vorgarten war lang und ungepflegt und übersät mit ausrangiertem Plastikspielzeug, einer zerbrochenen Rutsche, einem alten Teppich und dem Weihnachtsbaum vom Jahr zuvor, von dem nur noch ein braunes, vertrocknetes Gerippe übrig war. Hinter dem Haus lebte ein großer, vernachlässigter Schäferhund.

Der größte Unterschied zwischen den Foots und Rachel war jedoch, dass die Foots all das, worauf Rachel ihr ganzes Leben lang hingearbeitet hatte und was ihr wichtig war – ein geordnetes, ehrbares Leben, wohlerzogene Kinder, ein schönes Zuhause –, belächelten oder gar verachteten. Trotzdem beneidete Rachel die Foots um etwas: Sie waren ein Teil dieses Dorfes, eine eingefleischte Dorset-Familie mit unzähligen Cousins und Cousinen und Tanten und Onkel. Die Namen dreier Familienmitglieder standen auf dem Kriegerdenkmal auf der Dorfwiese, und Dutzende zierten die Grabsteine auf...

Erscheint lt. Verlag 18.12.2018
Übersetzer Nina Scheweling
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dorf • Dorfbewohner • Dorset • Erinnerungen • Lügen • Nachbarn • Verschwinden
ISBN-10 3-688-11669-0 / 3688116690
ISBN-13 978-3-688-11669-0 / 9783688116690
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