Mein Jahr als Jäger und Sammler (eBook)

Was es wirklich heißt, von der Natur zu leben
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
352 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8455-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Jahr als Jäger und Sammler -  John Lewis-Stempel
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Ein Experiment, das zurück zu den Ursprüngen führt Als John Lewis-Stempel mit seiner Familie nach Herefordshire am äußersten Rand Englands zieht, ist er überwältigt von der Vielfalt der Flora und Fauna. Er wagt ein Experiment, das ihn verändern wird. Kann er es schaffen, ein Jahr lang nur von dem zu leben, was ihm die Speisekammer der Natur bietet? Können ihn die Wiesen, Hecken und Bäche seines sechzehn Hektar großen Anwesens Trelandon ernähren? Der preisgekrönte Autor erzählt spannend von den Herausforderungen und Entbehrungen, die Kälte und Schnee mit sich bringen, aber auch die Ernährung ohne jede Zutat aus dem Supermarkt. Er berichtet von seinem eigensinnigen Jagdhund Edith und den neuen Rezepten, die er kreiert. Am Ende hat sich sein Bewusstsein für die Natur und für seinen Körper ebenso grundlegend gewandelt wie sein Verhältnis zu unserem achtlosen Umgang mit Nahrungsmitteln. Entstanden ist die inspirierende, humorvolle und poetische Beschreibung einer Rückkehr zu den Wurzeln. »John Lewis-Stempel [schreibt] keine Fiktion, aber makellose Prosa. Guter Mann .[...] Gute Bücher für jeden.« Mark Knopfler

John Lewis-Stempel ist Farmer und Autor zahlreicher in England mehrfach preisgekrönter und hochgelobter Bücher, die regelmäßig auf den Bestsellerlisten stehen. Bei DuMont sind außerdem >Ein Stück Land< (2017) und >Im Wald< (2020) erschienen. Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern lebt er in England und Frankreich.

HERBST

Eine Schwalbe macht vielleicht noch keinen Sommer, aber die Abreise der Mehlschwalben bedeutet mit Sicherheit, dass der Sommer zu Ende ist. Im ersten Morgenlicht sehe ich eine letzte umherschweifende Mehlschwalbe auf dem Weg nach Süden, durch den Netzvorhang aus Nebel im Tal. Unsere Mehlschwalben haben sich schon vor einer Woche aufgemacht, die Rauchschwalben, die ihre Lehmnester im zerfallenen Nebengebäude gebaut haben, noch eine Woche früher. Die Mauersegler sind schon lange weg. Die Natur ist in Bewegung; Gruppen von Finken und Ammern fliegen plappernd über uns hinweg, ihre Flugrouten spiegeln die eines Passagierflugzeuges über ihnen im Weiß.

Außer dem Tinnitus hoch fliegender Maschinen ist nichts außer Vogelgesang zu hören. Ein Rabe krächzt geistesabwesend unten in der Tanne am Fluss, wo er nistet. Ich höre Amseln und Dohlen, Singdrosseln auch, aber nicht den einen Vogel, den ich am dringendsten hören möchte. Den ganzen Sommer lang hat mich ein alter Fasanenhahn mit seinen Kock-kock-Rufen verhöhnt. Jetzt, am ersten Oktober, ist er Freiwild. Edith, mein schwarzer Labrador, trabt zu meiner Linken. Allerdings ist sie nicht ganz mein Hund: Seit ihrer Teenager-Schwangerschaft im Frühling ist Edith ihr eigener Hund, mehr um ihre Welpen besorgt als um ihre Dienste für mich. Der ganze mühselige Prozess, sie zu einem Jagdhund zu machen, muss von Neuem beginnen. Während wir hinunter zum Wäldchen gehen, vorbei an den flammenden Herbsthecken der Pferdekoppel und der Sumpfweide, finde ich ein wenig Trost in ihrer überschwänglichen Schleck-schleck-Persönlichkeit, denn eine alte Redensart sagt, langweilige Leute haben langweilige Hunde. Ich muss sehr amüsant sein, wenn ich einen so interessanten Hund habe.

Als wir die Wäldchenwiese erreichen, teilt sich der Nebel plötzlich, die Sonne fängt sich in den Tautropfen an den langen Grasbüscheln, und einen Moment lang, bis sich der Nebel wieder um uns schließt, stehe ich in einem strahlenden Diamantenfeld. Dieser wunderbare Anblick gleicht beinahe die Tatsache aus, dass von dem Fasan kein Fitzelchen und keine Feder zu finden ist, obwohl wir jeden bewaldeten Winkel absuchen. Vielleicht hat der Fasan durch irgendeinen fantastischen inneren Kalender erkannt, dass die Jagdsaison begonnen hat, und sich aus dem Staub gemacht. Oder, etwas wahrscheinlicher, ein glücklicher Fuchs war schneller als ich. Warum auch immer – der alte Fasanenhahn mit seinem auffallenden kragenlosen Hals taucht nie wieder bei uns auf. Sämtliche Fasane, die ich in den nächsten Monaten sehe, sind viel jünger. Manche könnten seine Kinder sein, aber die meisten sind Zuwanderer aus Fasanenjagden in anderen Tälern. Von Hand aufgezogen und dann zu Jagdzwecken ausgesetzt, sind diese Vögel so zahm, dass sie stillhalten, um sich erschießen zu lassen.

Und genau das geschieht heute Nachmittag, als der Nebel sich verzogen hat und die Sonne heiß genug ist für Hemdsärmel und Schmeißfliegen. Ich stehe auf dem Hof und schaue nach den Hunden hinunter zu den unteren Wiesen, als eine blasse Fasanenhenne langsam über meinen Kopf hinweg zur Hauswiese gleitet und vor meinen Augen leise in die Hecke trippelt. Normalerweise nimmt man für die Fasanenjagd eine Schrotflinte, aber da ich mein 5,5-mm-Weihrauch-Luftgewehr in der Hand halte und der Vogel eindeutig keine Angst vor Menschen hat, wage ich es, so nahe heranzugehen, dass ich ihm in den Kopf schießen kann. Anschleichen ist eigentlich unnötig. Ich gehe die Hecke entlang bis zu der Stelle, an der die Henne hin- und herhuscht; sie sieht mich und duckt sich, ich stecke den Gewehrlauf durch das dunkle Gewirr aus Weißdornstämmen, bis sein Ende neben ihrem gelben Auge liegt, dann drücke ich ab. Während sie im Todesflattern zuckt, wird mir plötzlich der intensive Duft säuerlicher Herbstbeeren bewusst, der in der Luft hängt.

Das Töten macht mir zwar keinen Spaß, aber ich weiß, dass es sich – wenn man die Rührseligkeit des 21. Jahrhunderts hinter sich lässt – richtig anfühlt, eine Waffe in der Hand und totes Fleisch vor den Füßen zu haben. Eine atavistische männliche Aufgabe ist erfüllt: Der Höhlenmensch hat ein Mammut für den Stamm erlegt. Und ich weiß noch etwas: Ein Wildtier zu töten hat etwas befreiend Ehrliches, weil man die Verantwortung für den Tod nicht an anonyme Arbeiter im Schlachthof delegiert. Wenn man eine Schusswaffe in der Hand hält, sind all die ethischen Aspekte des Fleischessens präsent, in einem einzigen, intimen, puren Moment, und lassen sich nicht ignorieren.

Seit heute Morgen lebe ich von einem Nahrungsmittel, von dem ich Vorräte angelegt habe. Weil ich abergläubisch dem alten ländlichen Brauch folge, Brombeeren niemals nach Michaeli (29. September) zu pflücken, weil man sonst den gestürzten Luzifer in den Brombeerbüschen findet, habe ich in einem leeren Wäscheschrank in der Diele Töpfe und Tüten, Schüsseln und Schachteln voller Brombeeren gestapelt. Ein paar habe ich zu Sirup verkocht, ein paar habe ich roh gegessen und ein paar habe ich in Brombeergelee verwandelt, mithilfe des gusseisernen Marmeladenkessels meiner Mutter, der sein Leben sicherlich als Requisite für die Hexen aus Macbeth begonnen hat. Beim Geleekochen habe ich Honig statt Zucker verwendet; weil in der Scheunenwand keine wilden Honigbienen mehr nisten, habe ich einen Vorrat eingekauft. Außerdem habe ich mir eine weitere Zutat von außerhalb erlaubt. Salz.

Mein Bauch tut zu weh für eine raffinierte Zubereitung des Fasans; ich zwicke Beine und Flügel mit einer Gartenschere ab, nehme den noch gefiederten Vogel aus, mache dann einen kleinen Einschnitt unterhalb des Kropfs, stecke die Finger hinein und ziehe die Haut über die Schultern und das Hinterteil hinweg ab, bis das Fleisch mit seinen gelblichen Fettstreifen freiliegt. Dann schneide ich den Hals durch.

Der Vogel wird gebraten, vollgestopft mit Wildäpfeln von Bäumen aus der verwucherten Hecke an der Grenze zur Grove Farm; ehrlich gesagt ist es noch zu früh für Wildäpfel, und ich stecke sie nur hinein, damit der Vogel im Ofen nicht austrocknet. Serviert mit Brombeergelee und Behaartem Schaumkraut, als Büschel in dem Drainagegraben gepflückt, der den roten Sandsteinmergel der Wäldchenwiese durchzieht, erinnert mich der Fasan daran, warum er einst dem Adel vorbehalten war. Er ist ein Gericht, das eines Lords würdig wäre. Allerdings ein winziges Gericht. Am Boden der Bratform sieht der Rumpf des Fasans, in einer flachen Pfütze seines eigenen Fetts schwimmend, armselig aus. Mit den Manieren und dem Appetit von Obelix esse ich einen Großteil des Vogels sofort auf.

Um am Abend den Hunger zu vertreiben, zupfe ich an dem Fasanengerippe herum und esse Massen von Brombeeren.

Später, als ich das Luftgewehr vor dem Schlafengehen reinige, sehe ich, dass ich den Fasan aus so geringer Entfernung erschossen habe, dass ein Blutstropfen und eine winzige, daunenweiche Feder an seiner Mündung kleben.

Es gibt eine Speisekammer mit Essen, die sogar noch leichter erreichbar ist als der Fasan auf der Hauswiese. Am hinteren Ende des Hofes liegt ein Brombeerdickicht, das einen Kaninchenbau birgt. Die älteren Kaninchen sind vorsichtiger – man wird kein älteres Kaninchen, wenn man nicht vorsichtig ist –, aber die jungen und unbesonnenen haben die bezaubernde Angewohnheit, auf dem betonierten Innenhof Fangen zu spielen. Oder auf dem Haufen aus weggeschüttetem Bausand zu sitzen und sich in den Schleiern aus Morgennebel die Pfoten zu lecken. Genau das tut ein Kaninchen gerade.

Der evolutionäre Fehler des Kaninchens besteht darin, dass es bei einem beunruhigenden Geräusch erstarrt oder sich auf den Hinterbeinen aufrichtet, um sich besser umschauen zu können; dabei zeigt es seine helle Brust, auf die ein Schütze zielen kann. Die Natur muss einen hinterlistigen Sinn für Humor haben, wenn sie einem Häschen eine Zielscheibe auf die Brust malt.

Wenn ich in der Morgen- oder Abenddämmerung am offenen Küchenfenster sitze, kommt es nur selten vor, dass ich mit meiner Weihrauch-5,5mm-Druckluftbüchse kein Kaninchen erwische. Dieses deutsche Fabrikat ist vielleicht nicht so renommiert wie das britische Webley, aber es ist zuverlässig und hat die gesetzlich maximal erlaubte Geschossenergie. Es durchschlägt dreilagiges Bootsbau-Sperrholz.

Ich pfeife laut. Das Kaninchen unterbricht seine Waschungen. Seine helle Brust erscheint im Zielfernrohr des Luftgewehrs. Rumms, macht es. Das Kaninchen vollführt einen kleinen Todestanz in der Luft. Vorsprung durch Technik. Es gibt noch drei andere Baue auf unserem Land; der größte, mit dreißig Gängen, ist in dem Entwässerungsgraben an der Grenze zu The Grove. Wenn man den Kaninchenbestand reduziert, holt er, genau wie der Unkrautbestand, bis zu einem gewissen Punkt umso stärker auf, um die Zahlen auf das ursprüngliche Niveau zu bringen. Ein weibliches Kaninchen kann in einem Jahr bis zu acht Junge bekommen. Der Winter verlangsamt den karnickeligen Produktionsprozess allenfalls, unterbricht ihn aber nicht.

Allerdings habe ich die Absicht, beim Reduzieren des Kaninchenbestands vorsichtig zu sein, verschiedene Altersgruppen zu wählen und den Finger vom Abzug zu nehmen, wenn ich merke, dass sie stark von Bussard, Fuchs, Hermelin, Eule und all den anderen Lebewesen gejagt werden, die auf sie herabblicken. Ich will keinen Kaninchen-Holocaust. Ich will eine nachhaltige Zukunft. Die Baue sollen auch nächstes Jahr noch da sein. Und im Jahr darauf.

Unsere Kaninchen könnten eine nachhaltige Zukunft vor sich haben. Ich bezweifle aber, dass sie wirklich nachhaltig zu meiner Ernährung beitragen werden; sie müssen das am wenigsten nahrhafte aller Tiere...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2019
Übersetzer Sofia Blind
Sprache deutsch
Original-Titel ›THE WILD LIFE. A Year of Living on Wild Food‹
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aussteiger • bewusstsein für die natur • Bogdan • buch für jäger • Der Pfau • Ein Stück Land • England • Experiment • humorvoll • Landschaft • Leben • leben in der natur • Lebensmittel • Mensch und Natur • Nachhaltigkeit • Nahrungsmittel • Natur • Nature writing • Naturkunden • Naturprosa • naturverbunden • Ökologie • poetisch • Rückkehr zu den Wurzeln • Selbstversorger • Selbstversuch • Tiere & Pflanzen • Umwelt • Umwelt & Ökologie • Verhältnis zur Natur
ISBN-10 3-8321-8455-4 / 3832184554
ISBN-13 978-3-8321-8455-1 / 9783832184551
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