Plötzlich ist es Abend (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
736 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24691-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Plötzlich ist es Abend -  Petra Morsbach
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Die faszinierende Geschichte einer russischen Mutter Courage
Ljusja wird 1926 in St. Petersburg als Tochter eines von Stalin verfolgten Popen geboren. In Kriegszeiten aufgewachsen, ohne Ausbildung und Perspektive, doch von großem Charme und Temperament, sucht sie ihr Glück in der Liebe und ist doch - vielleicht gerade deswegen - meist auf sich allein gestellt. Sie zappelt in den Maschen eines absurden, rigiden Systems und gerät in die Mühlen der Ideologie, derer sie sich freilich ebenso unbefangen wie unbedenklich zu bedienen versucht. »Plötzlich ist es Abend« ist das Protokoll eines beschwerlichen Lebens, aber auch eine Geschichte von unermüdlichem Kampfgeist, Mut und Witz, Liebe und Freundschaft.

Petra Morsbach, geboren 1956, studierte in München und St. Petersburg. Danach arbeitete sie zehn Jahre als Dramaturgin und Regisseurin. Seit 1993 lebt sie als freie Schriftstellerin in der Nähe von München. Bisher schrieb sie mehrere von der Kritik hoch gelobte Romane, u.a. »Opernroman«, »Gottesdiener« und »Justizpalast«. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Jean-Paul-Preis. 2017 erhielt sie den Roswitha-Literaturpreis der Stadt Bad Gandersheim und den Wilhelm-Raabe-Preis.

1


Ljusja ist vierundzwanzig Jahre alt, hat ein uneheliches Kind und arbeitet in der Kugellagerfabrik »Fortschritt«; das heißt, in diesem Augenblick sitzt sie in ihrem Zimmerchen in einer kommunalen Wohnung auf der Petrograder Seite und träumt von der Liebe. Wir sind in Leningrad, im Februar des Jahres neunzehnhundertfünfzig.

Es klingelt.

Ein gewisser Petja, ein Leutnant, der mit Ljusjas Freundin Marina verlobt ist, steht im Treppenhaus. Als Ljusja ihn nicht hereinbittet, schlägt er vor: »Holen wir Marinuschka von der Arbeit ab, und dann trinken wir zu dritt ein Fläschchen!« Sie fahren im Bus ins Zentrum, zu der Garküche, die Marina leitet. Marina steht im Arbeitskittel auf der Straße, schimpft mit einem Lieferanten und stampft vor Kälte mit den Füßen; sie kann noch nicht weg, sie muß Überstunden machen, die beiden sollen in zwei Stunden wiederkommen. Ljusja bemerkt, daß Petja mit diesem Vorschlag sehr zufrieden ist. Ohne einzugreifen, schaut er zu, wie Marina sich gegen die schwere Holztür stemmt, um wieder ins Haus zu gelangen, und schnalzt unternehmungslustig mit der Zunge. Als Marina verschwunden ist, sagt er: »Weißt du was, ich lade dich solang ins ›Kaukasus‹ ein.« Er betrachtet Ljusja mit Wohlgefallen und faßt sie am Arm.

»Ich geh nur mit, wenn du mir versprichst: Kein Wein, kein Tanz!« entgegnet Ljusja. Er willigt ein. Er flirtet. Im »Kaukasus« quasselt er ununterbrochen: Wie schön es jetzt wäre, Schlittschuh zu laufen, und wie schön es ist, daß er Ljusja wiedergetroffen hat. »Dabei hatte ich dich schon ganz aus dem Horizont verloren! Eines Tages sag ich zu Marinuschka: Bring doch ’ne kleine Freundin mit, zu mehreren ist’s lustiger, und mein Freund Borja ... War ich vielleicht platt, als ich dich erkannte. Da hab ich Borja gleich zum Teufel geschickt.« Weil Ljusja nicht reagiert, wechselt er das Thema und spricht von seiner Arbeit. Welcher Soldat was gesagt hat und was er darauf erwiderte. Dem hat er aber gesteckt, daß. Fehlte gerade noch, daß die Soldaten. Sein Oberst meinte anerkennend: Pjotr Wassilytsch, das ist fast schon einen Stern wert. »Schau mich an: Wie sähe ich aus mit noch einem Stern?« Genauso doof, denkt Ljusja.

Was ist das für ein Kavalier? Kein Kellner beachtet ihn. Er redet Blödsinn. Ihre Gedanken schweifen ab. Sie blickt an ihm vorbei auf die holzgetäfelten Wände, die Kristallüster und die geschäftigen Kellner in kaukasischer Tracht und bemerkt nicht, wie ein weiterer Mann an ihren Tisch gesetzt wird. Sie nimmt ihn erst wahr, als eine Flasche Wein auf den Tisch gestellt wird – für ihn. Sie sieht ihn an und denkt: Für diesen Mann würdest du durch Wasser und Feuer gehen und bis ans Ende der Welt.

Seine Augen sind blau und ernst; das rechte hat oberhalb der Pupille einen hellen Fleck. Er trägt eine feine Metallbrille mit ovalen Gläsern. Sein Haar ist schwarz mit silbernen Fäden darin, halblang, gewellt. Er hat exotisch hohe Wangenknochen; dabei feine Gesichtszüge, die ihn städtisch und kultiviert erscheinen lassen. Er mustert seine Tischnachbarn mit einem unnachahmlich verantwortungsvollen, ja besorgten Ausdruck. Ist es Einbildung, daß er, als er Ljusjas Blick begegnet, für eine Sekunde innehält und die bereits zum Sprechen geöffneten Lippen wieder schließt? Natürlich einzigartige Lippen: edel, beherrscht aufeinandergelegt; ein Traum von einem Mund, ein Traum von einem Mann.

Hat er gesprochen? Seine Stimme ist leicht und etwas belegt, nicht eben klangvoll. Aber was hat er gesagt? Da auch Petja nicht reagiert – offenbar hat er nicht damit gerechnet, daß man ihn anreden könnte –, wiederholt der Fremde ohne Ungeduld seine Worte.

»Warum haben Sie nichts auf dem Tisch? Bedient man Sie nicht?«

»Nein«, antwortet Petja verlegen, »meine Begleitung hat mir sogar schon ein Ultimatum gestellt.«

Der Gast sieht sich um, schon kommt ein Kellner. »Darf ich Sie zu einem Wein einladen?«

»Nein«, sagt Petja, »meine Tischdame hat mich nur unter der Bedingung begleitet, daß wir keinen Wein trinken.«

»Doch, doch!« ruft Ljusja. »Natürlich trinke ich Wein!«

Sie prosten einander zu. Eine Tanzkapelle spielt. »Erlauben Sie, daß ich Ihre Dame zu einem Tanz entführe?« fragt der Mann Petja.

Petja räuspert sich. »Eigentlich, äh, ist sie nur unter der Bedingung mitgekommen, daß sie nicht tanzen muß, sozusagen.« Ljusja ist bereits aufgesprungen: »Natürlich tanze ich, ich tanze gern!«

Der Mann führt Ljusja auf die Tanzfläche. Er ist groß, Ljusja sehr klein. Er lacht, als sie fragend und hilflos zu ihm hochsieht, da senkt sie den Kopf und starrt auf seine blaurot gemusterte Seidenkrawatte. Sie tanzen; ist das Wirklichkeit? Was für eine Krawatte; und was für ein Hals!

»Sagen Sie bitte –« Er spricht mit ihr! Er deutet mit seinem Kinn in Petjas Richtung und fragt: »Wer ist das für Sie?«

»Niemand! Niemand!«

»Also könnten wir im Prinzip gehen?«

»Sofort! Sofort! Ich hole gleich meinen Mantel!«

»Nein, das wäre nicht fein. Machen wir es so: Nach diesem Tanz werde ich bezahlen und gehen. Sie erklären ihm die Lage und kommen nach. Ich erwarte Sie an der Ecke Newskij/Plechanowa.«

Als sie von der Tanzfläche zurückkehren, glühen Ljusjas Wangen. Der Fremde verabschiedet sich mit einer leichten Verbeugung, auch in Richtung Petjas, und geht hinaus, ohne sich umzusehen. »Warum setzt du dich nicht hin, Ljusenitschka?« fragt Petja. »Schau, wir haben fast die ganze Flasche Wein übrig.«

»Idiot! Ich habe dir doch gesagt, keinen Wein!«

Petja macht ein verdattertes Gesicht. »Aber Ljusja! Erklär mir doch ...«

»Trink ihn alleine aus, deinen Wein, dann hast du mehr davon! Und wehe, du wagst es, mir zu folgen!« Petja sinkt auf seinen Stuhl zurück und greift nach der Flasche.

Der Garderobier erwartet Ljusja bereits; das muß der geheimnisvolle Kavalier angeordnet haben. Ljusja rennt mit offenem Mantel, das Kopftuch in der Hand, auf die Straße. Die eisige Luft nimmt ihr den Atem.

Obwohl es dunkel und neblig geworden ist, erkennt sie den Fremden schon von weitem. Er trägt einen Mantel mit breitem Biberpelzkragen und eine Samtmütze mit Biberaufschlägen; er sieht aus wie ein Zar. Er lächelt: »Sie haben sicher Hunger. Gehen wir ins ›Europa‹.«

Als sie über eine Fußgängerbrücke den Gribojedow-Kanal überqueren, ist Ljusjas Mut plötzlich wie fortgeblasen. Tatsächlich: Sie betrat die Brücke erwartungsvoll und verläßt sie vernichtet. Der Umschwung kam durch eine Einsicht: Sie hat sich betragen wie ein Flittchen. Was kann sie für diesen Herrn bedeuten? Sie hatte eine Chance, weil sie hübsch, jung und lebhaft ist, und hat sie vertan, weil sie sich benahm, als käme sie aus der Gosse. Ganz klar: Er ist der bestaussehende, kultivierteste, interessanteste Mann von Leningrad, und sie hat sich an ihm festgekrallt wie eine Katze. Nun geht er schweigend neben ihr her. Sicher ist er enttäuscht.

Ljusja bemerkt, wie routiniert er ihr an der Garderobe des »Europa« den Mantel von den hängenden Armen schält. Ihr fällt auch auf, wie schwungvoll er wenig später seine Jacke über die Stuhllehne wirft und wie munter er dabei lacht. Er redet ziemlich viel, und alles klingt weltmännisch und klug. Aber er bestreitet die Unterhaltung allein.

»Was haben Sie?« fragt er schließlich. »Warum sind Sie auf einmal so traurig?«

Ljusja bringt kein Wort heraus.

»Wie heißen Sie?«

»Ljusja«, flüstert sie.

»Sehr erfreut. Ich bin Damir. Ljusja, Ich sage Ihnen, was los ist. Sie schämen sich Ihres Betragens und analysieren Ihre Fehler. Aber das Leben ist so kurz und unübersichtlich, wo kämen wir hin, wenn wir alles Unvorhergesehene analysieren und uns jedes Fehlers schämen würden? Essen Sie, trinken Sie, freuen Sie sich! Ich freue mich auch.«

Ljusjas Stimmung bessert sich nicht. Er bringt sie nach Hause, niedergeschlagen läuft sie hinter ihm her. Natürlich kommen sie erst nach zehn Uhr abends an, und das eiserne Tor im Haupteingang ist schon verschlossen. Sie müssen an das Fenster der Hausmeisterin klopfen, die sicher schon geschlafen hat. »Guten Abend, Nadjeshda Wladimirowna«, flüstert Ljusja beschwörend der krummen Gestalt zu, die ihnen durch den Torbogen entgegenwankt. Nadjeshda Wladimirowna knurrt: »Sieh mal an, du kleine Nutte. Mit einem Offizier ist sie fortgegangen, mit einem Biber kommt sie zurück!« Das Blut schießt Ljusja zu Kopf, sie stürmt an Nadjeshda und Damir vorbei, durch den Hinterhof in ihren Block. Sie hört Damir sagen: »Sie sollten etwas besser hinsehen, wen Sie vor sich haben«, und leider auch Nadjeshda Wladimirownas Antwort: »Hör mal, Biber, das ist mir scheißegal. Ich habe das Tor zu schließen und Schnee zu schaufeln. Verschwinde! Je schneller, desto besser!«

2


Am nächsten Tag kurz vor neun kommt Ljusja in die Fabrik. Sie geht ins Büro, wirft ihren Mantel über einen Stuhl, stellt die nassen Winterschuhe auf eine Zeitung, zieht die Filzpantöffelchen an, umkreist einmal den Samowar, setzt sich an ihren Tisch und bricht in Tränen aus.

»Aber Ljudmilotschka, was haben Sie denn?« ruft Antonina Romanowna erschrocken.

»Ich bin verliebt!« schluchzt Ljusja. »Es ist so furchtbar! Ich habe mich so danebenbenommen! Ich schäme mich ja so!«

»Immer mit der Ruhe. Kommen Sie, trinken Sie ein Täßchen Tee. Sagen Sie, wie heißt er denn?«

»Damir

»Und weiter?«

»Ich weiß es nicht. Nicht mal den Vatersnamen!« schluchzt Ljusja. Antonina Romanowna setzt sich zu ihr, legt ihren Schal um sie und streichelt zaghaft ihre Schultern.

Ljusja erzählt ihr alles.

Antonina Romanowna ist Ljusjas...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Leningrad • Roman • Romane • Russische Geschichte • russisches Familienepos • Russland • Sankt Petersburg • St. Petersburg
ISBN-10 3-641-24691-1 / 3641246911
ISBN-13 978-3-641-24691-4 / 9783641246914
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