All die glücklichen Familien (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
224 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43450-8 (ISBN)

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All die glücklichen Familien -  Hervé Le Tellier
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»Mir war schon immer klar, dass meine Mutter verrückt ist.« Muss man seine Familie lieben? Eine intrigante Mutter, die ihren Sohn bei ihren Eltern abgibt, um im Ausland das Scheitern ihrer Ehe zu verwinden; ein geiziger Stiefvater mit einem geheimen Nummernkonto in der Schweiz; ein nur »Erzeuger« genannter biologischer Vater samt osteuropäischer Geliebter; eine Tante mit legendärem Männerverschleiß; ein verkappt homosexueller Onkel; ein patriarchaler Großvater - und mittendrin: Hervé Le Tellier, der Erzähler, der erschreckt feststellt, dass er für alle diese Komödianten seiner eigenen Familie nichts empfinden kann.

Hervé Le Tellier wurde 1957 in Paris geboren. Er veröffentlichte zahlreiche originelle Bücher, Romane, Erzählungen, Gedichte und Kolumnen. Seit 1992 ist er Mitglied der Autorengruppe OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), die von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde und der Autoren wie Georges Perec, Italo Calvino oder auch Oskar Pastior angehörten. Er lebt in Paris.

Hervé Le Tellier wurde 1957 in Paris geboren. Er veröffentlichte zahlreiche originelle Bücher, Romane, Erzählungen, Gedichte und Kolumnen. Seit 1992 ist er Mitglied der Autorengruppe OuLiPo (Ouvroir de Littérature Potentielle), die von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründet wurde und der Autoren wie Georges Perec, Italo Calvino oder auch Oskar Pastior angehörten. Er lebt in Paris.

I


Die Dialektik des Monstrums


»Höre auf deinen Vater, der dir das Leben geschenkt hat, und missachte nicht deine alt gewordene Mutter.«

Sprüche 23.22

Es dürfte ein Skandal sein, seine Eltern nicht geliebt zu haben. Ein Skandal, sich auch nur die Frage gestellt zu haben, ob es eine Schande sei oder nicht, wenn man in seinem Innersten, trotz aller Anstrengungen in der Jugend, nicht ein so normales Gefühl wie die sogenannte Sohnesliebe empfindet.

Kinder dürfen nicht gleichgültig sein. Sie sind also dazu verdammt, auf immer Gefangene der Liebe zu sein, die sie spontan ihren Eltern entgegenbringen, ganz gleich, ob diese gut oder böse, intelligent oder idiotisch, in einem Wort: liebenswert sind oder nicht. Verhaltensforscher bezeichnen diese unkontrollierbaren und angeborenen Bezeugungen von Zuneigung als Prägung. Fehlende Sohnesliebe ist nicht nur eine Beleidigung für den Anstand, sondern auch eine Messerattacke auf das schöne Gebäude der Kognitionswissenschaft.

Ich war zwölf Jahre alt. Es muss ungefähr elf Uhr abends gewesen sein, und ich schlief noch nicht, denn es war einer dieser sehr seltenen Abende, an denen meine Eltern zum Essen ausgegangen waren. Allein daheimgeblieben, habe ich wohl gelesen, sicher Isaac Asimov oder Frederic Brown oder Clifford D. Simak. Das Telefon klingelte. Mein erster Gedanke war: Das ist die Polizei, es hat einen Autounfall gegeben, meine Eltern sind tot. Ich sage »meine Eltern«, um zu vereinfachen (man muss immer vereinfachen), denn es handelte sich um meine Mutter und meinen Stiefvater.

Es war nicht die Polizei. Es war meine Mutter. Sie verspäteten sich, sie wollte mich beruhigen.

Ich habe aufgelegt.

Soeben hatte ich entdeckt, dass ich mir keine Sorgen gemacht hatte. Ich hatte ihr Verschwinden ohne Angst oder Trauer ins Auge gefasst. Ich war erstaunt, so rasch meine Situation als Waise akzeptiert zu haben, erschrocken auch über ein kleines enttäuschtes Zwicken im Bauch, als ich die Stimme meiner Mutter erkannt hatte.

Da wusste ich, dass ich ein Monster war.

 

*

*  *

 

Von Serges Tod erfuhr ich an einem sonnigen Nachmittag. Serge ist mein Vater. Man fuhr mich gerade im Auto zum Festival von Manosque. Ich erinnere mich, dass außer dem Fahrer mindestens noch der Dichter Jean-Pierre Verheggen und der Schriftsteller Jean-Claude Pirotte im Wagen saßen.

Das Handy hatte geklingelt, die angezeigte Nummer war mir unbekannt und ich nahm ab. Es war meine Schwester. Ich sage »meine Schwester«, obwohl sie in Wahrheit meine Halbschwester ist, auch wenn mir nie wirklich bewusst war, dass ich eine Halbschwester hatte. Sie ist sieben oder acht Jahre jünger als ich; infolge meiner Adoption durch den Stiefvater tragen wir nicht denselben Nachnamen, und wir sind uns wohl nur ein halbes Dutzend Mal in unserem ganzen Leben über den Weg gelaufen. Ich habe indes eines Tages begriffen, dass sie mir den heroischen und mystifizierenden Mantel des großen, fernen Bruders umgehängt hatte, ein imaginäres Prunkgewand, das aus mir ihren Bruder machte, ohne dass es meinerseits irgendetwas gegeben hätte, das aus ihr meine Schwester machte. Aber ich hatte es aufgegeben, ihr diese grundlegende und enttäuschende psychologische Wirklichkeit nahezubringen. Wir hatten einander seit mehreren Jahren nicht mehr gesprochen.

– Unser Vater ist tot, hat sie mir gesagt.

Ich habe, unfähig zu antworten, durch die Scheibe geschaut, während die provenzalische Autobahnlandschaft an mir vorbeizog.

Wir beide teilten so etwas wie die Abwesenheit eines Vaters, da ich ihn nie wirklich gekannt und sie das väterliche Domizil mit ungefähr fünfzehn verlassen hatte, um sich zu ihrer Mutter zu flüchten, und sie ihn in der Folge nur selten wiedergesehen hatte. Diese Leerstelle, der fehlende Vater in unser beider Leben, war im Übrigen der einzige konkrete Gegenstand unserer sehr seltenen Gespräche. Im Unterschied zu mir, der ich mich schließlich mit dieser Abwesenheit abgefunden hatte, war sie, die ihre Kindheit mit ihm verbracht hatte, dazu nicht in der Lage und litt darunter. An jenem Morgen hatte sie wirklich unseren abwesenden Vater verloren.

– Unser Vater ist tot, hat sie wiederholt.

– Ah? Er ist tot? Seit wann denn?

Ich spürte die Stille, die sich im Auto eingestellt hatte. Das ist häufig die Wirkung des Wortes »tot«.

Sie erklärte mir kurz, er sei wegen Atembeschwerden ins Krankenhaus gekommen, die Lage habe sich dort verschlimmert, und in der Nacht sei er von einer Lungenembolie hinweggerafft worden.

Ich erkundigte mich nach den praktischen Details, nach Tag und Ort der Beerdigung. Ich habe kurz daran gedacht, ihr mein Beileid auszudrücken, aber das wäre nicht sehr elegant gewesen. Ich habe noch eine lange Minute Trauer vorgetäuscht, dann aufgelegt. Jean-Pierre Verheggen schaute mich besorgt an.

Zu seiner Beruhigung sagte ich lächelnd: »Nichts Schlimmes. Mein Vater ist gestorben.«

Jean-Pierre hat gelacht, und da wusste ich, dass ich ein Monster war.

 

*

*  *

 

Ich habe vom Tod meines Stiefvaters während des PEN-Festivals in New York erfahren, durch einen Anruf des Krankenhauses Bichat. Ich war in die Vereinigten Staaten geflogen, als er bereits seit einer Woche auf der Intensivstation lag. Es bestand aber keinerlei Lebensgefahr, und in Paris zu bleiben, um einen Mann zu besuchen, der im künstlichen Koma gehalten wurde und meiner Mutter Beistand vorzuspielen, schien mir nicht zwingend erforderlich.

Ich rief einmal täglich an, ich verstand, dass Guys Zustand sich nach und nach verschlechterte, dass die Antibiotika sich mit den Entzündungshemmern in einem eher ineffizienten und auf die Dauer tödlichen Wechselspiel befanden. Ich habe vorgezogen, nicht dort zu sein. Betroffenheit zu simulieren wäre noch schändlicher gewesen, als meine Gleichgültigkeit durchscheinen zu lassen, und das gegenüber einem Krankenhauspersonal, das schon alles gesehen hat und sich nichts mehr vormachen lässt.

Ich habe meinen Stiefvater nie geliebt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Mangel an Gefühlen nicht gegenseitig war. Es ist, wie man so sagt, niemals der Funke übergesprungen.

Ich war anderthalb Jahre alt, als er meine Mutter heiratete. Die Stelle des Vaters stand weitestgehend zur Disposition, aber er riss sich nicht darum, sie zu besetzen, und im Übrigen war auch ich nicht wirklich bereit, sie durch ihn besetzen zu lassen. Die Stelle ist schließlich nie vergeben worden. Die einen werden hierzu mit Gewinn die Studie von Pedersen et al. (1979) über den bestimmenden Einfluss des Vaters auf die kognitive Entwicklung des männlichen Nachwuchses lesen. Den anderen erklärt man am besten, dass die Vaterfigur einen anderen Weg einschlug.

Guy und ich passten nie zusammen. Ich kann mich an keinerlei Zärtlichkeit, keinerlei Vertraulichkeit erinnern, und ich hatte wohl kaum das sogenannte Alter der Vernunft erreicht, als ich entschied, dass er ein Dummkopf sei, ein sicherlich verfrühtes Urteil, das indes niemals in irgendeiner Weise widerlegt wurde.

Eines Tages ließ ich zu Hause eine persönliche Meinung verlauten. Eine Unbedachtheit, denn so etwas passierte mir nur selten, da die Debatten, die durch die von mir vertretenen Ideen ausgelöst wurden, mich nie zufriedenstellen konnten. Ich war elf Jahre alt, es war der Mai ’68, und ich hatte – ohne viel Federlesens, das stimmt – de Gaulles Innenminister, Michel Debré, als »dummes Arschloch« bezeichnet. Die Antwort meines Stiefvaters war: »Wäre er ein so dummes Arschloch, wäre er nicht da, wo er ist.« Diesem Satz verpasste ich umgehend das Etikett ›unterwürfige Blödigkeit‹, wenngleich mir spontan die Formulierung: »Dieser Kerl ist ein wirklich dummes Arschloch« durch den Kopf ging, was beweist, dass das Wort »Arschloch« mir leicht von der Zunge ging. Ich beschloss, keine Zeit mit einem fruchtlosen Streit zu verlieren, was in der Adoleszenz, jener Phase, die den Persönlichkeit konstruierenden Konflikten günstig ist, zweifellos ein Beleg sowohl für Weisheit als auch für einen Überlegenheitskomplex darstellt.

Mein Stiefvater respektierte jede Form von Autorität, Vorgesetzte, die Polizei, Ärzte; und übrigens gehorchte er auch meiner Mutter. Den Starken gegenüber war er schwach, den Schwachen gegenüber natürlich stark. Als Lehrer liebte er es, seine Schüler zu demütigen, sich über den einen vor den anderen lustig zu machen. Das war seine Art, Pädagoge zu sein.

Bei der Befreiung von Paris war der Ende 1931 geborene Guy zwölf Jahre alt, und fünfundzwanzig, als die Ereignisse in Algerien sich auszuweiten begannen. Eine Generation, die Glück hatte und doch eine Generation von Zwittern, mit einer Jugend, die eingeklemmt war zwischen Besatzung und Algerienkrieg. Er war zu spät geboren, um zum Kollaborateur zu werden, zu früh, um während seines Militärdienstes zu foltern. Nichts beweist, dass er das eine oder andere getan hätte. Selbst für schändlichste Taten bedarf es einer gewissen Kragenweite. Wahrscheinlich hätte er sich nicht geweigert, auf einen Wachturm zu steigen.

Meine Mutter und Guy bildeten den seltenen Fall eines symbiotischen Paares ohne Liebe. Sie niemals ohne ihn, er niemals ohne sie, niemals beide zusammen.

Dass Guy starb, berührte sie in keiner Weise, abgesehen von der Aussicht auf eine wirkliche, alltägliche Einsamkeit, die sie sich noch nicht vorstellen konnte. Doch war es ihr wichtig, dass man ihr keine Indifferenz unterstellte. Den Schein zu wahren, war eine gesellschaftliche Aktivität, auf die sie seit jeher sehr viel...

Erscheint lt. Verlag 26.10.2018
Reihe/Serie dtv Literatur
Übersetzer Romy Ritte, Jürgen Ritte
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiografischer Roman • Dysfunktionale Familie • emotionale Wüste • Erwachsenwerden • Familienbande • Familienporträt • Familienroman • Frauenunterhaltung • Paris • Porträt einer Familie • Resilienz • unglückliche Familie
ISBN-10 3-423-43450-3 / 3423434503
ISBN-13 978-3-423-43450-8 / 9783423434508
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