Vorübergehende (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
200 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-3850-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vorübergehende -  Michael Krüger
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WELTFREUDIG UND IRONISCH, VERGNÜGLICH UND MELANCHOLISCH Ein Mann ist im Zug eingeschlafen. Als er aufwacht, lehnt vertrauensvoll EIN FREMDES MÄDCHEN an ihm: Jara. Sie ist ohne Geld, ohne Papiere, nahezu ohne Sprache. Der Mann, ein ERFOLGREICHER MOTIVATIONSCOACH, hatte sich von der Welt schon abgewendet, besiegt von seinen eigenen Allerweltsweisheiten. Doch jetzt denkt er pathetisch: Das Mädchen kann seine Rettung sein. Ihr ein Zuhause zu geben, wird seinem Dasein DEN ERSEHNTEN SINN VERLEIHEN. Also nimmt er Jara bei sich in München auf - womit sein Leben eine entscheidende Wendung nimmt ... EIN ERFOLGREICHER MANN VOR DEM RUHESTAND AUF DER SUCHE NACH DEM SINN EINES ERSCHRECKEND GELUNGENEN LEBENS Hier trifft EINER, DER ALLES HAT UND DOCH NUR LEERE KENNT, auf EINE, DIE GAR NICHTS HAT, UND DENNOCH AN LEBEN UNGLEICH REICHER IST. Diese Konstellation schildert Michael Krüger mit der größten Lust, davon abzuschweifen. Denn wenn sein Erzähler seine Gedankenfahrt aufnimmt, bleibt keiner geschont: nicht die Menschen um ihn herum, nicht die deutschen Landsgenossen, am wenigsten er selbst. BESTECHEND PRÄZISE BEOBACHTUNGEN DER GEGENWART UND IHRER BEWOHNER Michael Krüger erzählt von verschiedenen Arten von Flucht in seinem neuen Roman: der Flucht aus dem Leben, der Flucht in ein Leben, der Flucht voreinander, der Flucht zueinander. Und zeichnet wie nebenbei das WUNDERLICHE GESICHT DER GEGENWARTSGESELLSCHAFT - MELANCHOLISCH UND HOCHKOMISCH, RESIGNATIV UND UNVERBESSERLICH HOFFEND. ***************************************** Pressestimmen: 'Das ist ein großartiger, melancholischer, kluger Roman über die Welt, in der wir leben, und die Absurditäten, die uns darin begegnen, die uns aber allzu oft viel zu normal erscheinen, um sie noch zu bemerken. Michael Krüger sieht sie und beschreibt sie ganz wunderbar.' SWR-Lesenswert, Felicitas von Lovenberg (aus den Pressestimmen zu 'Das Irrenhaus') 'von scharfen, bisweilen überscharfen Beobachtungen, gewitzten Reflexionen und überraschend lyrischen Momenten' FAZ, Wolfgang Schneider (aus den Pressestimmen zu 'Das Irrenhaus') 'Michael Krüger schreibt mit Witz, Verve und leichter Hand.' NZZ am Sonntag, Manfred Papst (aus den Pressestimmen zu 'Das Irrenhaus')

Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf/Sachsen-Anhalt, lebt in München. Er war viele Jahre Verleger des Hanser Verlags und ist Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.?a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010), zuletzt den Eichendorff-Literaturpreis (2017). Bei Haymon erschienen u.a. sein erster Erzählband 'Der Gott hinter dem Fenster' (2015) sowie zuletzt sein Roman 'Das Irrenhaus' (2016).

Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf/Sachsen-Anhalt, lebt in München. Er war viele Jahre Verleger des Hanser Verlags und ist Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010), zuletzt den Eichendorff-Literaturpreis (2017). Bei Haymon erschienen u.a. sein erster Erzählband "Der Gott hinter dem Fenster" (2015) sowie zuletzt sein Roman "Das Irrenhaus" (2016).

1


Hinter Göttingen muss ich eingeschlafen sein. Es gibt Landschaften – besonders in der Mitte Deutschlands –, die, vom Zugfenster aus gesehen, das Auge so wenig reizen, dass man sich besser dem Schlaf überlässt. Wegen meiner schlechten Augen habe ich die traurige Angewohnheit angenommen, im Zug nicht mehr in die Weite zu schauen und den Horizont abzusuchen, sondern mit dem Blick gewissermaßen in der Nähe zu bleiben, in einem Radius von dreißig, höchstens fünfzig Metern. Vor und hinter Göttingen gibt es in diesem Todesstreifen, wie ich diese Distanz nenne, nur Schrebergärten, eine an sich schöne Erfindung, die fälschlicherweise dem Verfasser der früher in ganz Europa verbreiteten „Ärztlichen Zimmergymnastik“ angelastet wird, Daniel Gottlob Moritz Schreber, der als Leibarzt des ziemlich verrückten russischen Fürsten Somorewski gar keine Zeit hatte, sich um gute Luft für Großstadtbewohner zu kümmern. Wie er zu der falschen Ehre gekommen war, als Erfinder der grünen Gürtel in die Geschichte Deutschlands eingegangen zu sein, ist Gegenstand vieler seltsamer Untersuchungen. Noch mehr allerdings interessiert die Historiker der Sohn des Leibarztes, Daniel Paul Schreber, der als Senatspräsident in Dresden eine ziemlich ausführliche Beschreibung seiner Paranoia veröffentlicht hat, „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, die eine Vielzahl von gelehrten wie weniger gelehrten Reaktionen hervorrief, von denen die weniger gelehrten oft die interessanteren sind. Da Schreber sich, in seinen Wahnvorstellungen, als Mittelpunkt des Universums sah, konnten sich viele um 1900 mit ihm identifizieren; für seine protestantischen Mitbürger weniger attraktiv war die Vorstellung Schrebers, sich als Frau mit Gott vereinigen zu wollen, um ein neues Geschlecht hervorzubringen. Es gab doch die Deutschen schon, warum also ein neues Geschlecht? Unglaublich, was Gott alles aushalten musste unter den Menschen, und noch unglaublicher, dass er, wenn auch lädiert, misshandelt und gedemütigt, diese jahrtausendelange Pein überlebt hat. Vielleicht waren die Verrückten wie Schreber tatsächlich näher bei Gott als die Aufgeklärten, weil sie sich eine Beziehung zu ihm vorstellen konnten und zutrauten, während jene vor lauter Distanz den göttlichen Faden verloren hatten. Der einzige Mensch, bei dem Gott sich bedanken müsse, schrieb der schlaflos durch Paris streunende rumänische Philosoph Emile Cioran, sei Bach gewesen. Eine traurige Bilanz nach zweitausend Jahren Christentum. Ich trug auf meinen Reisen immer ein Buch mit Aphorismen bei mir, Lichtenberg,
Nietzsche, Cioran, Canetti, um mir auf Bahnhöfen die Zeit zu vertreiben und auf andere Gedanken zu kommen. Der empfängliche Gott, diese Formulierung ging mir durch den schläfrigen Kopf. Für was empfänglich? Für eine barmherzige Auslegung seiner Worte? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich für den großen Rest interessiert. Auch für Gott war einmal der Moment gekommen, wo er wählen musste. Die Möglichkeiten waren allerdings beschränkt: entweder Gott oder alle Menschen; da hat er es vorgezogen, nichts als Gott zu sein, auch wenn er dafür einen hohen Preis zahlen musste. Nur bei den Narren machte er eine Ausnahme. Bei Schreber hatte er ganz offensichtlich ein Auge zugedrückt.

Mehr als zwanzig Jahre lebte ein Psychoanalytiker in meinem Haus, der Schrebers Aufsatz von 1900, „Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Haftanstalt festgesetzt werden“, sein Leben lang mit einem immer wieder neu gefassten Kommentar versehen hatte, bis er sich dann selber einweisen ließ. Ich war der Einzige im Haus, der noch mit ihm sprach, auch wenn es zunehmend schwerer wurde, die ständig sich wiederholenden Tiraden über die fatale Dummheit seiner psychoanalytischen Kollegen anzuhören. Er war nicht mehr bei sich, wie man so sagt. Den letzten kleinen Klumpen Identität, den er sich bewahrt hatte, brauchte er mit seinem hysterischen Geschrei auf, man konnte zusehen, wie es weniger und weniger wurde. Am Ende blieb allein das Geschrei übrig, ein gekrächztes Gefuchtel ohne Sinn und Verstand, ein Gemenge, das in dem Moment aus ihm herausbrach, in dem er meiner ansichtig wurde. Wann hört man auf, sich zu beobachten? Wann ist es einem egal, wie die anderen einen sehen? Wie fühlt es sich an, in den anderen Zustand zu gleiten, wo einen nur noch die Obsessionen durchschütteln und die mehr als fragliche Zukunft als die einzige Möglichkeit verbleibt, die letzte Illusion vor dem Tod. Ich selbst kam bei ihm nicht zu Wort. Wenn ich einmal zu einer Bemerkung ansetzen wollte, sagte er, ich weiß, was Sie sagen wollen, und redete mich in einen Zustand der Lähmung, der bis zu meinem Aufbruch andauerte. Ich war die Wand, gegen die er anrennen konnte. Seine Klagemauer.

Er hatte sich einen Sessel direkt hinter seine Wohnungstür gestellt, damit er mich, wenn er meine Schritte im Treppenhaus hörte, sofort in seinen stets hell erleuchteten Flur ziehen konnte, um mir Neuigkeiten über die Familie Schreber zuzuflüstern. Ich dürfe mit keinem darüber reden, ermahnte er mich, damit sein auf mehrere hundert Seiten angeschwollener Kommentar, der, wie er sich ausdrückte, die gesamte Literatur der Psychoanalyse zerplatzen lassen würde wie einen Luftballon, mit dem richtigen Knall auf die Welt käme. Nach meiner Kenntnis interessierte sich, außer den Kranken, keiner mehr für die Psychoanalyse, sie war, als Gesellschaftserklärung, in den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vergessen worden wie eine alte Aktentasche. Man hatte geradezu Angst, einer könnte sie finden und zurückbringen und gar noch Finderlohn fordern. Jetzt, wo alle verrückt geworden sind, sagte mir einmal ein befreundeter Psychoanalytiker, kann es eine Analyse nicht mehr geben. Man kauft sich ein Taschenbuch für zehn Euro, in dem man alles über die Seele nachlesen kann, die Seele ist so dünn geworden, dass sie auf hundert Seiten passt. Jedenfalls war es unmöglich, sich einen richtigen Knall vorzustellen, wenn der Schreber-Kommentar tatsächlich einmal veröffentlicht werden würde. Aber das behielt ich für mich. Ich ließ ihn reden, ausreden, sich an sein Ende reden. Es war alles andere als leicht, diese sich schnell und immer schneller ausbreitende Leere mitansehen zu müssen. Als hätte man den Stöpsel gezogen. Anfangs merkt man nicht, wie es weniger wird, dann hört man es plötzlich gurgeln und sieht, wie das letzte Wasser kreiselnd die Wanne verlässt.

In der Wohnung des Analytikers hatte sich ein entsetzlicher Geruch festgesetzt. Schlechte, schwere, verbrauchte Luft. Wenn ich vorschlug, das Fenster zu öffnen, sah er mich mit ängstlich aufgerissenen Augen an, als wäre er überzeugt, dass die Geister seines Lebens sich seiner Arbeit bemächtigen würden. Um Gottes willen, flüsterte er, lassen Sie die Fenster geschlossen. Mehrfach habe ich versucht, ihn dezent darauf hinzuweisen, sich ein Gärtchen zu besorgen, das – fälschlicherweise – nach dem Vater seines Helden benannt war, aber das war verlorene Liebesmüh. Er war davon überzeugt, dass die Mitglieder der Psychoanalytischen Vereinigung leichte Hand hätten, ihn in einem Schrebergarten „abzufackeln“, wie er sich ausdrückte. Die sind doch schon lange hinter mir her! Die warten doch nur auf die erste beste Gelegenheit, mich mundtot zu machen und aus der Welt zu schaffen. Da bleibe er besser hinter den geschlossenen Jalousien seiner Wohnung sitzen, und statt Dahlien und Butterblumen versorge er lieber seine Karteikästen. Aber ich bin bereit, mich in das Schlimmste zu fügen, flüsterte er mir bei meinem letzten Besuch zu; wenige Tage später fand man ihn zitternd im Heizungskeller, wo er sich vor seinen Feinden zu verstecken suchte. Dann ließ er sich einweisen – oder genauer gesagt, er wehrte sich nicht mehr dagegen, eingewiesen zu werden.

Er starb in der geschlossenen Abteilung. Als ich ihn noch einmal sehen wollte, wurde er gerade weggebracht. Ein Kinderleib mit den Händen eines Greises lag unter dem Laken. Diese Hände mit dichten schwarzen Haarbüscheln auf den oberen Gliedern der Finger, die unter dem Tuch hervorlugten wie große böse Spinnen, werde ich nicht vergessen. Offenbar war auch der abgebrühte Pfleger über diesen Anblick erschrocken, denn ich sah, wie er, vergeblich, im Laufen das Tuch über die neugierigen Tiere ziehen wollte.

In seinem Testament hatte er mich als Nachlassverwalter eingesetzt, mit allen Rechten und Pflichten. Die zweihundertdreiundzwanzig Karteikästen, die er nach einem paranoiden System eingerichtet hatte, das bis heute nicht geknackt ist und höchstwahrscheinlich – und nicht nur aus mangelndem Interesse – auch nie geknackt werden wird, habe ich der Universität geschenkt, die, offen gesagt, sich nicht besonders über das Geschenk gefreut hat, weil es unter den Psychologen und Psychoanalytikern im Institut keinen gab, der überhaupt etwas mit dem Namen Schreber anzufangen wusste. Schreber? Das Fach hatte sein Gedächtnis verloren. Vielleicht könne man die Karteikarten als Objekt in der historischen Sammlung ausstellen, um zu zeigen, wie früher gearbeitet wurde, sagte mir der Institutsleiter. Diese Datenmenge haben Sie heute mit einem Klick auf dem Schirm, fügte er fröhlich hinzu, wie es sich für einen Seelenwissenschaftler gehörte. Ein einziger Klick für ein Lebenswerk, dafür hat es sich gelohnt. Für die Bibliothek en bloc fand ich keinen Abnehmer, obwohl sie von zum Teil signierten Erstausgaben nur so wimmelte, also verpackte ich die besten Stücke in Bananenkartons, die noch immer ungeöffnet in meinem Keller stehen, und übergab den Rest einem Antiquar, der sie, mit einem Mundschutz bewaffnet, in fünf Ladungen abholte. Er warf die Bücher in drei verschiedene Kisten: Ramsch, ein...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2018
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deutschland • Eichendorff-Literaturpreis • Flüchtlinge • Flüchtlingsthematik • Gegenwart • Gesellschaftskritik • Hanser • Ich-Erzähler • Ironie • Lebenssinn • Melancholie • Motivationscoach • München • Rettungssuchender • Schicksal • Sinnsuche • Verleger • Zugfahrt
ISBN-10 3-7099-3850-3 / 3709938503
ISBN-13 978-3-7099-3850-8 / 9783709938508
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