Der Duft des Lebens (eBook)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1810-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Duft des Lebens -  Clara Maria Bagus
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Der junge Glasbläser Aviv erhält von dem zwielichtigen Arzt Kaminski den Auftrag, fünfzig Glasfläschchen zu produzieren. Dieser schmiedet den perfiden Plan, Sterbenden die Seelen zu rauben, um sich daraus eine eigene, eine vollkommene zu erschaffen. Seit er herausgefunden hat, warum er zu keiner Art von Liebe fähig ist, beschleicht ihn die Ahnung, die anderen seien mehr als er, mehr Mensch. Doch Aviv deckt die Machenschaften des Arztes auf, und es beginnt ein Wettlauf um Leben und Tod. Wird es ihm gelingen, die in den Fläschchen gefangenen Seelen zu befreien? Die Erkenntnisse, die Aviv bei seinen Entdeckungen sammelt, führen ihn zu einem tieferen Verständnis des Menschseins. Nach ihrem erfolgreichen Debut zeigt Clara Maria Bagus in ihrem neuen Roman wieder mit ungeahnter Tiefe wie jeder aus sich selbst eine Welt hervorbringen kann, in der sich zu leben lohnt. Die Autorin ist eine großartige Erzählerin existentieller menschlicher Fragen.

Clara Maria Bagus hat in den USA und in Deutschland Psychologie studiert und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig. Ihr beruflicher Lebensweg führte sie durch zahlreiche Länder. Dort begegneten ihr immer wieder Menschen auf der Suche nach sich selbst. In einer Welt, in der Orientierung schwer zu finden ist, hat sie ihnen durch ihre berührenden Bücher geholfen, den roten Faden ihres Lebens wiederzufinden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Bern. Clara Maria Bagus ist ihr Künstlername

Clara Maria Bagus hat in den USA und in Deutschland Psychologie studiert und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig. Ihr beruflicher Lebensweg führte sie durch zahlreiche Länder. Dort begegneten ihr immer wieder Menschen auf der Suche nach sich selbst. In einer Welt, in der Orientierung schwer zu finden ist, hat sie ihnen durch ihre berührenden Bücher geholfen, den roten Faden ihres Lebens wiederzufinden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Bern. Clara Maria Bagus ist ihr Künstlername

Aviv


1


In einem fernen Land, bevor der Nebel über die Felder zog, sich über jene Stadt legte, in der unsere Geschichte ihren Lauf nahm, und dort Farben, Klänge, Düfte, ja sämtliche Natur zudeckte und gleichsam die Seelen der Menschen mit sich nahm, wurde am Tag der längsten Schatten ein kleiner Junge geboren, dessen Name Aviv war. Aviv bedeutet »Frühling«, und so ist es nicht verwunderlich, dass diesem Jungen Jahre später die Aufgabe zufallen sollte, die Stadt vor dem Verlust der Seele zu bewahren und ihr den Duft des Frühlings zurückzubringen.

Die Stadt, in der sich die seltsamen Ereignisse zugetragen haben, wirkte wie jede andere Stadt, und man brauchte ein wenig Zeit, um wahrzunehmen, was sie von anderen Städten der Welt unterschied. Wie soll man auch eine Stadt beschreiben, in der ­einem von Jahr zu Jahr weniger Blumen, Düfte, Flügelschläge begegneten, weniger blühende Bäume, Farben und Melodien. Es war eine sterbende Stadt, und nur wenige Menschen nahmen die von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Monat zu Monat eintretenden, schleichenden Veränderungen wahr. Es war eine Stadt ohne Ahnungen.

Genau um Mitternacht des einundzwanzigsten Dezembers gebar Helene einen Jungen, dessen Haut glatt, zart und rosig war wie die Blüte einer Winterkirsche. Eingehüllt in den süßlichen, weichen Duft beginnenden Lebens, glänzten seine Augen in dem wie aus Rosenquarz geschnitzten Gesicht, und sein erstes Weinen war so unaufdringlich und leise, dass es dem Gesang der Vögel glich.

Es war, als hätte Helene über den Zeitpunkt der Geburt eine Vereinbarung mit der Natur getroffen, denn auch die Natur brachte gerade in aller Stille ihre letzten Winterblüten zur Welt, die genau wie Avivs Wesen ein Geheimnis hüteten.

Selma, die Hebamme, wusste nicht viel von der Familie. Das Einzige, was sie über die Wurzeln des kleinen Aviv gehört hatte, war, dass sein Vater nicht mehr lebte. Man erzählte sich, er sei kurz nach der Zeugung gestorben. Doch sie kannte Helene inzwischen gut genug, um den Geschichten keinen Glauben zu schenken.

Behutsam wickelte Selma den kleinen Körper in ein weiches Tuch und legte ihn Helene auf den Bauch. Es war Helenes schönster Moment im Leben, der jedoch nur wenige Atemzüge andauern sollte. Denn plötzlich durchzog mehr und mehr Blut das Laken, auf dem Helene gebettet war. Sie blutete so stark, dass sich das Leinen binnen weniger Minuten dunkelrot färbte. Mit zitternden Händen versuchte Selma den Grund für die starke Blutung zu finden und sie zu stillen, ohne Erfolg.

Tropfen von Schweiß perlten auf ihrer Stirn. Was auch immer Selma tat, das Blut sprudelte nur so aus Helene heraus. Sie legte Avivs Wange an die seiner Mutter und begann in kreisenden Bewegungen den Unterleib von Helene zu streichen. Doch es half nichts. Helene verlor immer mehr Blut, wurde schwächer und schwächer.

Wie konnte das nur sein? Die kleine Welt um Selma drehte sich auf einmal so schnell, dass ihr schwindlig wurde. Sie hockte sich auf den Rand des Bettes und merkte, wie Helenes lauwarmes Blut ihren Kittel durchnässte. Unermüdlich strich sie über Helenes Bauch. Es änderte nichts – Helene würde verbluten.

Als für beide Frauen unleugbar war, dass Helene sterben würde, bat sie um ein Blatt Papier und eine Feder. Sie wollte ihren kleinen neugeborenen Jungen nicht ohne Botschaft verlassen. Doch wie sollte ein kleines Stück Papier für ihre Flut an Gefühlen ausreichen? Für viele Worte fehlten ihr Kraft und Zeit. Helenes Augen füllten sich mit Tränen. Bei jedem Lidschlag verfingen sie sich in ihren Wimpern, die dicht wie Gräser waren, lösten sich mit einem Zittern und tropften auf das Köpfchen des kleinen Aviv. Sie ließen sein kleines Haupt schimmern, als wäre es mit unzähligen, irisierenden Glasperlen bedeckt. Helene drehte den Kopf zu dem ihres Sohnes, strich mit ihrer Nase zärtlich über seine, schloss die Augen und nahm einen so tiefen Atemzug, als wolle sie sich Avivs Duft einverleiben und mit in die Ewigkeit nehmen. Langsam schlug sie wieder die Lider auf und begann zu schreiben.

Einzig das Kratzen der Federspitze auf dem Briefbogen durchbrach die erstickende Ruhe. Und das Rauschen von Helenes letzten Atemzügen, mit denen sie die Tinte trocken blies.

Schachzug eines launischen Schicksals. Einen Wim­pernschlag später war sie tot. Für einen Augenblick legte sich eine unerbittliche Stille über die Zeit. Auch der kleine Junge gab keinen Laut von sich. Ein Schweigen, das sich wie eine Schlingpflanze um das Herz der Hebamme wand. Selma presste ihr Gesicht in die Hände, und als sie es wieder löste, waren die Ab­drücke ihrer Finger darin zu sehen. Weiße Zeichen der Sorge hatten sich in ihre Züge gegraben und verschwanden erst, als sie sich wieder mit Blut füllten.

Regungslos blieb Selma auf dem Bettrand sitzen. Versunken in den Tiefen ihrer Gedanken, verharrte sie dort.

Schon nach wenigen Stunden fühlte sich Helenes ausgekühlter Körper steif und wächsern an, doch der kleine Junge lag noch immer auf ihrem Bauch. Er atmete kräftig und tief, ganz so, als ob er die letzten Lebenssäfte der Mutter eingesogen hätte. Der Körper der toten Helene bewegte sich durch seine Atemzüge leise auf und ab.

Selma öffnete das Fenster. Es wurde Morgen, und die Welt um sie herum hatte wieder zu atmen begonnen. Alles erstrahlte in einem besonderen Licht, und etwas Seltsames war geschehen: Die Blüten in Helenes Garten hatten sich aus den Knospen gefaltet wie Geheimnisse. Auch die Bäume zeigten sich in weißen und rosafarbenen duftenden Gewändern. Mitten im Winter. Ein sachter Wind hauchte eine blaue Feder ins Zimmer, die auf dem Rücken des kleinen Jungen zu liegen kam.

Das Morgenlicht floss über Helenes Haar, ihren zierlichen, toten Körper und fiel in strahlenden Bündeln auf den kleinen Jungen. Und Selma war, als höre sie Musik.

Der Blick nach draußen war tröstend. Es war wärmer geworden. Sachte fing der Schnee an zu schmelzen, Eiskristalle in Ästen und Sträuchern zerflossen und wurden zu glitzernden Perlen. Das Sonnenlicht ließ sie funkeln wie Hunderte von Sternen. Überall tropfte es leise. Selma spürte, wie es mit dem unmerklich fließenden Wasser friedlicher in ihr wurde. Ihre mit Schrecken durchtränkten Gedanken zer­fielen in der klaren, kalten Morgenluft allmählich zu ungebundenen, zusammenhanglosen Worten, bis von ihnen nichts zurückblieb als unfassbares Leid.

Selma nahm einen tiefen Atemzug, schloss das Fenster und setzte sich auf die Bettkante. Sie knotete ihr silbrig glänzendes Haar hinter dem Kopf zusammen, nahm den kleinen Aviv vom Bauch der toten Mutter und wiegte ihn im Arm. Wie lange sie so dasaß, wusste sie nicht.

Was sollte nun mit dem Kind geschehen? Helene hatte zwar eine Botschaft hinterlassen, aber nur für ihren Sohn. Natürlich las Selma den Brief, bevor sie ihn faltete und zusammen mit der blauen Feder in die Tasche ihres Kittels steckte. Sie hoffte, darin etwas zu finden, was ihr eine Antwort gab. Doch alles, was sie der Nachricht entnahm, war, dass sie nicht für den winzigen Aviv bestimmt war – sondern für den großen. Und Selma wollte in Helenes Sinne handeln.

Wahrscheinlich hatte Helene darauf vertraut – wie wir Menschen es oft tun und genau wie Selma es jetzt hoffte –, dass irgendein Zufall sie aus der Pflicht befreien würde, eine solch weitreichende Entscheidung in einem solch gedrängten Augenblick treffen zu müssen. Doch was für ein Ereignis sollte das sein?

Selma selbst fühlte sich alt. Hatte gesehen, wie sich die Welt von Jahr zu Jahr wandelte, wie sie sich immer fieberhafter zu drehen schien, zunehmend um Dinge, die die Herzen vieler Menschen vergifteten. Eine Welt, deren Rhythmus ihr fremd war, in die sie gar nicht mehr zu passen schien. Wie sollte sie ein Kind das Leben an einem solchen Ort lehren?

Doch dieses hilflose Bündel Mensch in ihrem Arm hatte nichts und niemanden auf dieser Erde. Das einzige Vermächtnis: ein Stück Papier, sorgfältig gefaltet in Selmas Schürzentasche, mit den letzten Zeilen der Mutter, den ersten und letzten Worten an ihren Sohn. Ein Brief, der ihn durch die Welt führen sollte, allerdings erst, wenn Aviv alt genug wäre, die Botschaft zu verstehen. Im Gleichklang von Helenes letzten und Avivs ersten Atemzügen hatte ihre Seele einfach diese Welt verlassen und Selma mit dem Kind allein gelassen.

Was sollte Selma nur tun? Hunderte Kinder an­de­rer Frauen hatte sie zur Welt gebracht. Wie gerne hätte sie als junge Frau eigene gehabt. Doch das Schicksal hatte anders entschieden. Als Selma erfuhr, sie könne nie Kinder bekommen und ihr Mann ihr vorwarf, sie sei unergiebig wie trockene Erde, und sich mit einer anderen fortmachte, um eine Familie zu gründen, zehrte sie der Schmerz fast auf. Ihre Lebenstempe­ratur schwand bis aufs Geringste, als sie einige Jahre später hörte, ihr Mann sei Vater zweier Kinder, die ihm die andere Frau ­geschenkt hatte. Dieses Ereignis hatte sie von Tag zu Tag weiter aus der Zeit herausgespült. Der Tod eines Lebenstraums, der gleichzeitig auch ihr eigener war.

Unzählige Momente hatte es von da an gegeben, in denen sie vor Sehnsucht nach etwas, was sie selbst nie erleben durfte, fast zerbrochen wäre. Ein...

Erscheint lt. Verlag 10.8.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte der auszog • Erzählung • existentiell • Fantasie • Fantasievoll • Glück • Inspiration • Inspirieren • inspirierende geschichte • Kunstmärchen • Lebensweisheit • Lebensweisheiten • Märchen • Menschlichkeit • Phantasie • phantasievoll • Seele • um den Frühling zu suchen • vom Mann • Vom Mann, der auszog, um den Frühling zu suchen • Weisheit • Weisheiten zu verschenken • Weisheitsgeschichte • Weltenseele
ISBN-10 3-8437-1810-5 / 3843718105
ISBN-13 978-3-8437-1810-3 / 9783843718103
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99