Dein Leben und meins (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
368 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1808-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dein Leben und meins -  Majgull Axelsson
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Märit hat Nörrköping über fünfzig Jahre nicht betreten - und keine Sekunde hat sie den Ort, an dem sie in den sechziger Jahren ihre Kindheit verbracht hat, vermisst. An ihrem siebzigsten Geburtstag kehrt Märit nun in ihre Heimatstadt zurück. Hier wurde damals ihr geistig behinderter Bruder Lars in ein Heim gegeben und kam grausam zu Tode. Nie wurde darüber gesprochen. Doch Märit will nicht länger schweigen. Sie muss sich ihrer Vergangenheit stellen - und die Bewohner ihrer alten Heimat dazu bringen, es ihr gleich zu tun.

Majgull Axelsson gehört zu den derzeit erfolgreichsten Autorinnen Schwedens. Ihren Durchbruch hatte sie 1997 mit dem Roman Die Aprilhexe, für den ihr der renommierte August-Preis der schwedischen Verlegervereinigung verliehen wurde. Weitere Romane von ihr wurden ins Deutsche übersetzt. Als Journalistin hat sich Majgull Axelsson schon immer für gesellschaftliche Randgruppen interessiert und ihnen in ihren Büchern eine Stimme verliehen.

Majgull Axelsson gehört zu den derzeit erfolgreichsten Autorinnen Schwedens. Ihren Durchbruch hatte sie 1997 mit dem Roman Die Aprilhexe, für den ihr der renommierte August-Preis der schwedischen Verlegervereinigung verliehen wurde. Weitere Romane von ihr wurden ins Deutsche übersetzt. Als Journalistin hat sich Majgull Axelsson schon immer für gesellschaftliche Randgruppen interessiert und ihnen in ihren Büchern eine Stimme verliehen.

1962


Erniedrigt.

Ich war erniedrigt worden.

Staffan Sundell hatte mich erniedrigt.

Mein Bruder Jonas hatte mich erniedrigt.

Åke und Hans-Erik, Mats und Kjell hatten mich erniedrigt.

Das würde ich niemals vergessen.

Nichts davon würde ich jemals vergessen.

Als die Autos verschwanden, waren meine Beine voller Schlamm und ich hatte kein Gefühl mehr in den Füßen. Trotzdem blieb ich eine ganze Weile draußen im Schilf stehen, stand leicht zitternd da und sah, wie die roten Rücklichter immer kleiner wurden, bevor sie ganz verschwanden, und wie das Tageslicht langsam zurückkehrte, wie die Morgendämmerung ein vages Versprechen entsandte, bald zu kommen, obwohl es immer noch Nacht war. Ich glaube nicht, dass ich weinte.

Geh zurück an Land, sagte diese Stimme in meinem Kopf, an die ich mich schon fast gewöhnt hatte.

Ich antwortete nicht, aber gehorchte. Die Stimme war ungewöhnlich verhalten. Sie klang fast wie die einer alten Frau.

Bleib ruhig.

Es war nicht leicht, aus dem Schilf herauszukommen, obwohl es doch so einfach gewesen war, ins Schilf hineinzuspringen. Der Schlamm saugte sich an meinen Füßen fest, er ließ nur los, wenn ich die Knie kräftig hochzog. Watsch, sagte es bei jedem Schritt. Watsch. Watsch. Watsch.

Fast wäre ich über eine Wurzel gestolpert und streckte den linken Arm aus, tastete nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Aber ich fand nichts als Schilf. Ich packte ein paar Pflanzen, sie bogen sich nach unten, trotzdem mochte ich nicht loslassen.

Der Pullover ist kaputt, sagte die Stimme.

Ich nickte stumm und griff nach dem großen Riss zwischen den Brüsten, sah in dem grauen Dämmerlicht, dass die Maschen durchgeschnitten waren und ein paar kleine blaue Fäden lose heraushingen. Diesen Pullover wür­­-
de ich niemals wieder anziehen können. Er war vollkommen zerstört. Und vermutlich leuchtend rot auf dem Rücken.

Du kannst dir einen neuen stricken, sagte die Stimme. Und du bist nicht ernsthaft verletzt. Denk daran. Es besteht kein Risiko, dass du schwanger sein könntest. Und du bist immer noch unschuldig.

Wieder nickte ich, danke, zum Teufel noch mal, vielen, vielen Dank, und ich machte wieder einen Schritt. Watsch!

Die Stimme fuhr im gleichen beruhigenden Ton fort:

Aber vielleicht gibt es eine Wunde direkt unter dem BH … Das hast du doch gefühlt. Obwohl – das war oberflächlich, wirklich nur oberflächlich. Und das gibt bestimmt keine Narbe.

Inzwischen war ich am Ufer angekommen, ich beugte mich vor und umklammerte ein Grasbüschel, zog den rechten Fuß hoch – Watsch! – und fiel der Länge nach hin, blieb für eine Weile reglos so liegen. Lauschte aufmerksam. Waren sie wirklich verschwunden? War es wirklich sicher, dass dieser – ich musste nach dem richtigen Wort suchen – dieser Abschaum verschwunden war?

Ja, sagte die Stimme. Sie sind fort. Jetzt sind nur noch wir beide hier.

Ich rollte mich auf den Rücken. Schaute zu dem blaugrauen Himmel hoch. Ein schwarzer Vogel schwebte still in großer Höhe vorbei, weit entfernt war ein anderer zu hören, ein vorsichtiger kleiner Morgengruß.

So, sagte die Stimme. Setz dich jetzt auf.

Ich gehorchte. Blinzelte und schaute mich um. Der See war ein wenig heller geworden. Und die Nadelbäume am anderen Ufer streiften langsam die Schwärze der Nacht ab und wurden wieder dunkelgrün. Aber das Schilf vor mir war heruntergetreten und fast zerstört.

Das war schlau, sagte die Stimme, ganz ohne Ironie. Das war wirklich schlau von dir, ins Schilf zu laufen …

Ich antwortete nicht, schaute nur auf meine Jeans hinunter. Sie waren fast bis hoch an die Knie braun und nass. Ich musste ziemlich tief eingesunken sein. Aber: Die Jeans würde ich wieder anziehen können. Man konnte sie in der Badewanne ausspülen, bevor man sie wusch, den ganzen Schlamm abduschen … Dagegen die Tennisschuhe! Meine schönen neuen Tennisschuhe! Einer von ihnen war weg, der andere durch und durch lehmig. Die waren nicht mehr zu retten. Dann schloss ich schließlich die Augen und hob die rechte Hand, ließ sie ganz vorsichtig über die Stirn streichen, bis hoch zum Haaransatz.

Ein paar lose Strähnen klebten in etwas Feuchtem, Klebrigem fest. Blut. Dann Stoppeln. Wie bei einem Jungen.

Åkes Taschenmesser, sagte die Stimme in meinem Kopf.

Ich nickte stumm. Das Messer hatte ich viel zu dicht vor Augen gehabt. Es war sehr scharf. Es hatte meine Brust geritzt, als Mats meinen Pullover zerschnitt.

Aber glaube ihnen nicht, sagte die Stimme noch verhaltener. Es war nicht deine Schuld, dass du angefangen hast zu bluten. Haben diese Idioten wirklich geglaubt, du würdest still liegen bleiben, während sie dich beim Haar packen und dir den Pony abschneiden?

Wieder nickte ich. Die Stimme in mir begann zu zittern, als wäre sie empörter über das, wovon sie sprach, als ich:

Das war doch nur bescheuertes Halbstarkengerede! Nichts sonst. Widerliches, verdammtes Halbstarkengerede!

Ich stand auf. Für ein paar Sekunden schwankte die Welt ein wenig, dann beruhigte sie sich. Noch einmal fuhr ich mir mit der Hand über die Stirn und befühlte sie. Ein Stück vom Pony war noch da. Ein Stückchen meines Ponys hatte ich gerettet, indem ich mich freigekämpft und ins Schilf geflohen war.

Aber das war alles, was ich gerettet hatte.

Jemand war auf meiner Abiturientenmütze herumgetrampelt, der braune Sohlenabdruck war deutlich zu erkennen. Außerdem hatte der Schirm einen Riss. Ich rieb mit dem Unterarm über den weißen Stoff, doch das half nicht viel. Schließlich gab ich auf und setzte mir die Mütze auf den Kopf. Vielleicht konnte ich sie in die chemische Reinigung geben …

Dann machte ich mich auf den Weg.

Der Kies auf dem schmalen Weg tat mir an den Füßen weh, ich versuchte lieber am Rand auf dem scharfen Gras zu gehen. Meine Zehen waren immer noch eiskalt, aber das kümmerte mich nicht, ich war voll und ganz damit beschäftigt, mir vorzustellen, wie schön es sein würde, auf die große Straße zu kommen. Denn die war asphaltiert. Und wenn ich erst einmal auf dem Asphalt angekommen war, wollte ich einfach nur weitergehen. Ich würde gehen und immer weiter gehen, einen Kilometer nach dem anderen, ganz bis Himmelstalund, und dort würde ich nach links abbiegen und quer über das große Feld mit dem weichen Gras gehen und sollte wider aller Erwartungen ein Auto auftauchen, während ich noch auf der Straße war, dann würde ich ganz einfach in den Graben rutschen und mich zwischen Wiesenkerbel und knospenden Mittsommerblumen verstecken, denn niemand, kein einziger Mensch sollte mich so sehen, wie ich jetzt aussah. Die Wunde auf der Stirn hatte wieder angefangen zu bluten, aber das war mir gleich. Ich wischte das klebrige Blut einfach mit dem Handrücken weg, während ich mir immer wieder versicherte, dass es kein Problem sein sollte, unsichtbar zu sein. Sicher, ich würde später gezwungen sein, ein Stück zwischen Einfamilienhäusern und Wohnblocks zu laufen, aber auch wenn die Dämmerung bis dahin eingesetzt hatte, so war es immer noch Nacht und es würde noch mehrere Stunden lang Nacht bleiben, oder zumindest sehr früher Morgen. Wenn ich mir nur die richtigen Straßen aussuchte, konnte ich es schaffen. Niemand würde mich sehen.

Niemand außer Jonas. Er sollte mich auf jeden Fall zu sehen bekommen.

Der Asphalt war angenehm unter den Fußsohlen, aber der Weg nach Hause war lang, das wusste ich. Dennoch machte ich keine Pause, ganz im Gegenteil, ich ging immer schneller und mit immer größeren Schritten, lauschte wachsam auf die Stille um mich herum.

Nun, sagte plötzlich eine Stimme hinter meinem Rücken. Wunderst du dich kein bisschen?

Ich stolperte und drehte mich um, blinzelte erschrocken nach hinten. Aber es lief niemand hinter mir, die Straße lag leer und etwas staubig in dem blaugrauen Dämmerlicht.

Sei nicht albern, sagte die Stimme. Natürlich kannst du mich nicht sehen. Du kannst mich ja nicht einmal hören. Mich gibt es nur in deinem Kopf. Zwischen deinen Gedanken.

Ich schob die Hände in die Jeanstaschen und ging wieder los. Dachte gar nicht daran, zu antworten. Nie im Leben. Ich war nicht verrückt. Und ich dachte nicht daran, verrückt zu werden.

Und trotzdem wunderst du dich, sagte die Stimme. Wer ist das da? Wer ist das, der sich in meinen Kopf drängt und vorwitzige Fragen stellt?

Ich fing an zu laufen.

Glaubst du, du kannst entkommen? Das kannst du nicht. Denn ich bin du und du bist ich und man kann sich selbst nicht entkommen. Niemals, nirgends.

Ich schluchzte und stolperte, fiel kopfüber hin und schrammte mir das Knie auf.

Das tat weh, so weh, dass ich endlich anfing zu weinen. Und nachdem ich erst einmal damit angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören.

Ist ja gut, flüsterte die Stimme. Ist ja gut … Du wirst auch das hier überleben. Und jetzt sollst du endlich erfahren, wer ich bin und woher ich komme.

Du wirst härter werden, sagte die Andere.

Wir hatten gerade den Stadtrand erreicht, bald sollten wir nach links zu den unendlichen Rasenflächen des Himmelstalundsparks abbiegen. Ich ging immer noch sehr schnell, hatte die Tränen runtergeschluckt...

Erscheint lt. Verlag 10.8.2018
Übersetzer Christel Hildebrandt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aprilhexe • Autismus • Autist • Behinderung • Dysfunktionale Familie • Familiansaga • Familienbande • Familiengeschichte • Frauenroman • Neuerscheinung 2018 • Schweden
ISBN-10 3-8437-1808-3 / 3843718083
ISBN-13 978-3-8437-1808-0 / 9783843718080
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