Summer (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
350 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76009-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Summer - Monica Sabolo
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70er Jahre, Genfersee: Während eines Picknicks verschwindet Benjamins große Schwester Summer. Spurlos. Benjamin verliert den Boden unter den Füßen, die 19-jährige Summer war sein Fixstern, die einzige Chance auf ein verheißungsvolles Leben für den schüchternen, gehemmten Jungen. Nun zieht er sich immer mehr zurück in eine Traumwelt. Auch seine Eltern gleiten in eine sonderbare Resignation ab und können dem Jungen nicht zur Seite stehen. Summers Verschwinden wird Benjamin nicht mehr loslassen - bis er sich vierundzwanzig Jahre später der Tragödie endlich stellt. Und ihn eine düstere Wahrheit ein weiteres Mal gänzlich aus der Bahn wirft ...

Summer erzählt von einer Familie, die nach einem großen Verlust nicht zur Ruhe kommen kann. Monica Sabolos Sprache ist »glasklar und präzise, jedes Detail ist perfekt in diesem atemberaubenden Familienthriller, in dem Sinnlichkeit und Schrecken aufeinandertreffen.« Elle



<p>Monica Sabolo, geboren 1971 in Mailand, ist Journalistin und Schriftstellerin. Für ihren autobiographischen Roman<em> Das hat alles nichts mit mir zu tun</em> erhielt sie den Prix de Flore. Kurz darauf kündigte sie ihren Job als Chefredakteurin der Zeitschrift <em>Grazia</em>, um Drehbücher zu schreiben. Sabolo lebt in Paris.</p>

Monica Sabolo, geboren 1971 in Mailand, ist Journalistin und Schriftstellerin. Für ihren autobiographischen Roman Das hat alles nichts mit mir zu tun erhielt sie den Prix de Flore. Kurz darauf kündigte sie ihren Job als Chefredakteurin der Zeitschrift Grazia, um Drehbücher zu schreiben. Sabolo lebt in Paris.

Vor vier Monaten


Vor vier Monaten hat das alles begonnen. Anfang April schaute ich aus dem Fenster meines Büros im achten Stock der UBS-Geschäftsstelle an der Place des Eaux-Vives, und mir war, als könnte ich die gläserne Luft greifen. Ich blickte hinüber zum Jet d’eau, und auch das Wahrzeichen von Genf wirkte zum Greifen nahe, die sprudelnde Fontäne, der riesige, wie Sperma spritzende Strahl, das herabfallende, seiden glänzende Wasser und die wie Champagner prickelnde Gischt. Das Büro war übers Wochenende gestrichen worden, und der dicke beige Teppich verströmte den lieblichen Duft von Pflegeprodukten in hellblauen Tuben, bei denen man an Frühlingshimmel oder einen klinisch reinen Tod denkt. Die Fenster waren so sauber, dass sie beinahe nicht mehr zu existieren schienen – irgendwann wird man mir erklären müssen, worauf der in diesem Land so lebendige, neurotische Putzfimmel zurückgeht, man hat den Eindruck, der Gedanke an Zerfall, Fäulnis oder auch nur an einen Fingerabdruck ist den Menschen unerträglich, er stellt eine Bedrohung für sie dar, einen dunklen Wald vor den Toren der Stadt, in dem wilde Tiere und Kreaturen der Finsternis umherschleichen.

Ein ungesunder, betäubender chemischer Geruch von Farbe schwebte im Raum. Am hellen Himmel erkannte ich das Herz eines Gottes, die Wände meines Büros bröckelten – waren sie aus Pappmaché? Einer ekligen, krümeligen Masse? Aus Vogelknochen? –, und dann wankte der Boden und das Zimmer drehte sich über dem sich spiegelnden See, der für einen Augenblick die ganze Welt reflektierte.

Vor der großen Treppe unseres Seehauses im noblen Vorort Bellevue steht meine Maman. Ich bin sieben Jahre alt. Der Geruch von frischer Farbe dringt in meine Lunge. Dieser Geruch ist überall, in den sechs Zimmern, den beiden ineinander übergehenden Salons, der Küche, auf der monumentalen Doppeltreppe. Alles wird gut, sage ich mir, und schaue meine Maman an. Sie lächelt. Auch Papa lächelt, er hat die Ärmel hochgekrempelt und winkt enthusiastisch seinen Freunden, die soeben in Motorbooten ankommen – wunderschöne junge Frauen in Badeanzügen, starke, charismatische Männer, die Papa ähneln, einer von ihnen lenkt sein Schiff mit offenem Hemd und Zigarre im Mund. Sie machen die Boote an dem Steg fest, von dem aus man direkt in den Garten gelangt, hüpfen an Land und springen über eine niedrige Mauer, die mit schwarzem Moos bewachsen ist, das sich zwischen den Fingern zerreiben lässt. Mit Weinflaschen und Badetüchern bewaffnet, laufen sie durch die Metallbogen des kleinen Musikpavillons, barfuß und mit nassen Haaren.

Papa, männlich und stolz, lächelt triumphierend, Maman strahlt in ihrem fast durchsichtigen Kleid, Summer in ihren Shorts und einem ärmellosen Top. Der extrem hohe Pferdeschwanz wiegt zwischen den Schulterblättern hin und her, sie wirkt wie eine zarte Miniatur-Maman. Alle drei sehen blendend aus, mein Herz bläht sich auf, wie ein Papierknäuel in meiner Brust – meine Familie, mein Gott, wie ich sie liebe … Die drei sehen noch blendender aus als die Gäste auf dem Rasen, obwohl all diese Fremden doch sehr beeindruckend sind, die vollkommen nackte Haut der Mädchen, ihre langen, glänzenden Beine, die Männer mit offenen Hemden und Gläsern in der Hand. Ein Leinentuch ist ausgebreitet auf dem langen Gartentisch unter der Pappel, deren dunkles Geflecht von Ästen bis in den See ragt und dort übers Wasser streicht. Flaumige, vom Wind getriebene Blümchen lassen sich auf dem gedeckten Tisch und in unseren Haaren nieder. Am schmalen Strand werfen Mädchen in Bikinis den Enten, die beim Näherkommen düstere Schreie ausstoßen, Brotkrumen hin, und auch die Mädchen geben spitze Schreie von sich, lachen erschrocken auf und setzen ihre nackten Füße vorsichtig auf die Kieselsteine. Ein übers Wasser gleitender Schwan mit öligem Gefieder starrt meine Schwester aus schwarzen Augen an. Sie tritt ans Ufer, junge Frauen mit schimmerndem Teint trippeln hinter ihr her, es hat den Anschein, dass sie die Herrscherin über die Geschöpfe und Kreaturen des Wassers ist und der Schwan auf ihre Befehle hört. Sein wendiger Hals folgt den Bewegungen ihrer Arme, und sie lacht. Ihr Gesicht leuchtet, als wäre ein Scheinwerfer auf sie gerichtet.

Ich bin glücklich, auch wenn meine Füße wie auf einem überschwemmten Teppich im Rasen einsinken, der mir feindlich gesinnt ist. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Rasen nur eine über dem See schwebende Grasdecke ist, die früher oder später unter unserem Gewicht nachgeben und uns in die Tiefe stürzen wird. Maman hat meine dreckigen Beine gesehen, sie zündet sich eine Zigarette an und scheint plötzlich unruhig zu werden, lächelt jedoch weiter den Gästen zu. Ich kenne dieses Lächeln, es ist unergründlich und kriecht wie feuchte Luft unter die Haut.

So hat es angefangen, und als Doktor Traub – er tut immer so, als würde er sich Notizen machen, ich glaube allerdings, dass er überhaupt nichts aufschreibt, oder vielleicht schreibt er in einer Sprache, die es gar nicht gibt – mich gefragt hat, ob es einen »besonderen Vorfall« gegeben habe, der diese »Panikattacken« ausgelöst hat (so fasst er das Ganze nämlich zusammen, diesen Riss, der durch mich hindurchgeht, die Kurzatmigkeit, das Herzrasen, die rasch auffliegenden Schatten, die in meinem Blickfeld erscheinen – sind das Fledermäuse? Oder prähistorische Tiere? –, meine Erschöpfungszustände und den Drang zur Flucht, zu der mir jedoch die Kraft fehlt), habe ich schlicht gesagt: »Mein Büro ist gestrichen worden«, und war doch leicht betrübt über die Lächerlichkeit meiner Antwort.

Der Doktor hat mich ausdruckslos angestarrt.

Mein Name hat ihm sicher gleich etwas gesagt. Wassner. Mein Name sagt jedem etwas. Alle denken bei diesem Namen an Glamour und Tragik. Um ihn ranken sich Legenden wie ein Schleier über einem wässrigen Mond. Aber wir haben das immer ignoriert. Wir haben nicht davon gesprochen. Wir haben so getan, als bemerkten wir die neugierigen, eindringlichen und mitleidigen Blicke gar nicht. Wir sind beobachtet worden, als hätte sich unseren Gesichtern oder unseren – scheinbar lässigen – Bewegungen irgendetwas ablesen lassen. Wir sind von Rauchwolken umhüllt. Oder wir sind selbst nur Rauch.

»Erinnerungen, die von Gerüchen ausgelöst werden, können sehr intensiv sein. Es besteht ein unerklärlicher Zusammenhang zwischen Erinnerungen und Gerüchen.«

Der Doktor wollte mich offensichtlich mit seiner sanften Stimme, die etwas von dampfendem Badewasser hatte, dazu bringen, innerlich loszulassen.

Ich aber schwieg.

Im fahlen Licht des Sprechzimmers schwebte der Geist meiner Schwester, ihr langes, offenes Haar glich Seidenfäden. Ein feines, unsichtbares Spinnennetz, das mit jedem Tag unmerklich anwuchs, bis es irgendwann den ganzen Raum erfüllte und den Doktor und mich wie Babys in Tragetüchern gefangen hielt.

Ich lieferte mir wochenlang einen stummen Kampf mit ihm. Aber meine Erschöpfung wurde immer größer. Ich musste ihm gestehen, dass ich trotz Deroxat, Xanax und meiner morgendlichen Maßnahmen – Atem- und Entspannungsübungen, Versuchen, über mich selbst zu lachen – nicht mehr zur Arbeit gehen konnte, dass mir schwindlig wurde, sobald ich den Teppich im Büroflur betrat, dass ich das Gefühl hatte, in Schlamm zu versinken, dass mein Herz klopfte wie das eines atemlosen, um sich schlagenden Vogels. Dazu dieser Geruch. Überall der Geruch von Farbe, wie ein mich umgebender feuchter Nebel, ich tauchte ein in trübes weißes Wasser, in dem durchsichtige Mikroorganismen trieben, zart wie Spitze.

Der Geruch hatte sich im ganzen Gebäude verbreitet. Und er wurde von Tag zu Tag stärker. Ich spürte ihn, sobald ich die Glastür passiert hatte und in der Eingangshalle stand, er lag in der Luft, umwölkte die Gesichter der Empfangsdamen und den UBS-Schriftzug aus vergoldetem Metall an der Wand.

Der Doktor hat Summer nie erwähnt. Er nimmt ihren Namen nicht in den Mund. Wie die meisten Leute, die mir in den vergangenen vierundzwanzig Jahren begegnet sind. Sie spielen mal besser, mal schlechter mit mir zusammen das große Theater der Unschuld.

Am Anfang, als das Foto von ihr noch überall in der Stadt hing – ein Farbporträt, auf dem sie einen Pferdeschwanz und eine bunte Bluse trug und ein blasser Schein ihr hübsches Gesicht umgab –, war ich überrascht darüber, wie diskret ihr Verschwinden ...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2018
Übersetzer Christian Kolb
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Summer
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Achtziger Jahre • Erinnerung • Familie • Familiendrama • Familiengeschichte • Freundschaft • Genf • Genfer See • Geschwister • Glamour • Jugend • Liebe • Luxus • Nostaligie • Schwester • See • Siebziger Jahre • Sommer • Verschwinden • Verschwundene Schwester
ISBN-10 3-458-76009-1 / 3458760091
ISBN-13 978-3-458-76009-2 / 9783458760092
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