Die Nacht der Erinnerungen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
1008 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24305-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Nacht der Erinnerungen -  Antonio Muñoz Molina
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Von später Liebe und Verrat in Zeiten des Krieges.
Madrid, kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs: Ignacio Abel, ein erfolgreicher Architekt, beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit der attraktiven Amerikanerin Judith Biely. Als Ignacios Frau das Verhältnis entdeckt, versucht sie, sich umzubringen. Judith, geschockt und geplagt von Gewissensbissen, verschwindet spurlos. Auf der Suche nach ihr irrt Ignacio durch die Straßen von Madrid, in denen die politische Lage sich zuspitzt. Wie durch ein Wunder gelingt es ihm, einem Erschießungskommando zu entkommen und nach Amerika zu fliehen. Dort trifft er überraschend Judith wieder, mit der er eine letzte Nacht verbringt, die große »Nacht der Erinnerungen«.

Antonio Muñoz Molina, 1956 im andalusischen Úbeda geboren, zählt zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Spaniens und hat mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht, darunter »Die Augen eines Mörders« (1997), »Die Nacht der Erinnerungen« (2011), »Schwindende Schatten« (2019) und »Gehen allein unter Menschen« (2021). Sein belletristisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, so gleich zwei Mal mit dem spanischen Staatspreis für Literatur. 1995 wurde er in die Königlich Spanische Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2019 ins Präsidium des Museo del Prado. Muñoz Molina lebt in Madrid und Lissabon.

2 Dann ist das Wunder der Erscheinung vorbei. Dass Judith Biely in diesem Augenblick wirklich existiert, erscheint ihm ebenso unwahrscheinlich wie dass sie vor einem Moment den Waggon des gleich abfahrenden Zuges betreten und ihn gezwungen hat, das Melodram ihrer Ankunft in letzter Minute auf dem Bahnhof zu erfinden. Er erinnert sich nicht mehr, wann genau er Madrid verlassen hat, aber er weiß exakt, wie viele Tage vergangen sind, seit er sie zum letzten Mal gesehen hat. Vier Tage lang ist er durch ihre Stadt gelaufen, mit Straßenbahnen gefahren, mit der Metro, in Hochbahnzügen, und nie hat er aufgehört, sie in jeder jungen Frau zu suchen, die ihm entgegenkam oder die er von ferne sah, und die immer neue Enttäuschung hat ihn nicht vor den Wahnbildern des Wiedererkennens gefeit. Auf dem Union Square sah er ein Plakat, auf dem eine Solidaritätsveranstaltung für die Spanische Republik und den glorreichen Kampf des spanischen Volkes gegen den Faschismus angekündigt wurde, und er bahnte sich einen Weg durch die Plakate und Fahnen schwenkende und Hymnen intonierende Menge, allein in der Hoffnung, ihr dort zu begegnen. Vom Schiffsdeck aus sah er die Türme einer Stadt, die sich wie eine leuchtende Steilwand aus dem Nebel schälte, und neben der Angst und dem Schwindelgefühl hatte er nur den einen Gedanken, dass irgendwo in diesem Labyrinth Judith Biely sein konnte. In den endlosen Namensspalten des Telefonbuchs von New York fand er drei Mal ihren Nachnamen, und zwei Mal sagten ihm ungehaltene Stimmen, die er kaum verstand, dass er sich verwählt habe, und beim dritten Mal klingelte das Telefon lange, ohne dass jemand abhob. Aber der Verstand sondert Bilder und Fiktionen ab, so wie die Mundhöhlendrüsen Speichel absondern: Judith, die ihn in der Bahnhofshalle der Pennsylvania Station sucht, ihn in jedem dunkel gekleideten Mann mittleren Alters zu erkennen glaubt, die trotz ihrer hohen Absätze und ihres engen Rocks die hallenden Eisenstufen mit sportlicher Behändigkeit hinuntereilt, um noch rechtzeitig zu kommen. So hat er sie in Madrid unter allen Reisenden gesucht, die auf die Abfahrt ihrer Schnellzüge warteten in jener Nacht des 19. Juli, die immer noch eine ganz gewöhnliche Nacht sein konnte und nicht eine endgültige Trennlinie in der Zeit, trotz der voll aufgedrehten Radios in aufgerissenen und erleuchteten Fenstern, trotz der grölenden Massen in den Straßen und der Schüsse überall, die man noch mit Fehlzündungen oder Feuerwerksknallern verwechseln konnte. Wenige Sekunden vor Abfahrt des Zuges würde er sie entdecken, ihre blonde Mähne durch eine von starken Scheinwerfern gelblich gefärbte Dampfwolke hinter einem Abteilfenster der Wagons-Lits erblicken, und wenn auch sie ihn sah, würde sie ihren Entschluss, mit ihm zu brechen und Spanien zu verlassen, aufgeben und in seine Arme fliegen. Kindische Vorstellungen, unbewusst von Romanen und Filmen inspiriert, in denen das Schicksal die Liebenden kurz vor dem Ende doch zueinanderfinden lässt. Musicals, die er mit ihr in riesigen dunklen, neu und desinfiziert riechenden Madrider Kinos gesehen hatte, wo das Gold von Brokat und Balustraden im flimmernden Licht der Leinwand funkelte.

Sie verabredeten sich in einer Loge des Europa-Kinos in der Calle Bravo Murillo, und obwohl es wenig wahrscheinlich war, dass jemand in diesem von der Stadtmitte weit entfernten Wohnviertel sie erkannte, betraten sie das Kino getrennt zur ersten Nachmittagsvorstellung, in die noch nicht so viele Leute gingen. In der belebten, staubigen Straße herrschte die Hitze eines verfrühten Sommers, und die Sonne blendete; kaum war man durch die granatrot gepolsterte und mit Bullaugen versehene Doppeltür getreten, umfingen einen die künstlichen Wonnen der Dunkelheit und der gekühlten Luft. Sie mussten sich an das Dunkel gewöhnen und suchten einander in den lichtesten Szenen: in der plötzlichen Helligkeit eines Mittags auf dem Oberdeck eines falschen Ozeandampfers, der vor dahinter projiziertem Meer daherzog, mit einer von elektrischen Ventilatoren erzeugten Meeresbrise, die die blonden Locken der Heldin wehen ließ; zwei Millionen Menschen, die am Tag der Arbeit mit Olivenzweigen in den Händen und geschultertem Arbeitsgerät unter den Klängen von Marschmusik durch die Straßen von Berlin marschierten; eine andere, ähnlich ozeanische und genauso disziplinierte Menge, die auf dem Roten Platz von Moskau Waffen, Blumensträuße, Fahnen und Bildnisse schwenkte; Radrennfahrer mit den harten Gesichtern von Landarbeitern, die sich auf den steinigen Wegen der Vuelta Ciclista die Berge hinaufquälten. Seine Hände suchten im Halbdunkel begierig die ihren, die nackte Haut der Oberschenkel über der straffen Seide ihrer Strümpfe, die köstliche Stelle, an der das Gummi sich leicht ins Fleisch grub; er gab sich den verschwiegenen und schamlosen Zärtlichkeiten ihrer Hand hin, das Aufleuchten der Leinwand erhellte ihr lächelndes Gesicht.

Vor dem kürzlich eroberten Palast des Negus in Addis Abeba paradierten hochmütig blickende italienische Legionäre mit schwarzen Piratenbärtchen und federgeschmückten Tropenhelmen. Nach seiner Vereidigung zum Präsidenten der Spanischen Republik verließ Don Manuel Azaña das Gebäude der Abgeordnetenkammer im Frack, mit einer Schärpe um den massigen Leib und einem absurden Zylinder auf dem Kopf, sein Gesicht ein Ausdruck des Erstaunens, als wohne er dem eigenen Begräbnis bei (Judith hatte den Festzug auf der Straße miterlebt und erinnerte sich an den Kontrast zwischen Azañas farblosem Gesicht und den roten Federbüschen der berittenen Kürassiere, die die offene Limousine eskortierten). Ginger Rogers und Fred Astaire glitten schwerelos über eine glänzende Bühnenfläche, umschlungen in einer Tanzpose, die exakt jener auf dem grellbunten Transparent über dem Eingang des Europa-Kinos glich.

Die offensichtliche Falschheit des Kinos – Münder, die sich bewegten, ohne wirklich zu singen; ein Mann und eine Frau, die durch die Straßen einer Stadt gingen, sich unterhielten und im nächsten Augenblick sangen und tanzten und sich vor einem offensichtlich künstlichen Regenguss in Sicherheit bringen mussten – weckte in Judith wahrhafte Gefühle, denen sie sich ohne Vorbehalt hingab. Sie kannte alle Lieder auswendig, sogar die Erkennungsmelodien der spanischen Radiosender, und lernte sie ebenso gewissenhaft wie die alten Romanzen oder die Gedichte von Rubén Darío im Unterricht bei ihrem Lehrer Don Pedro Salinas. Sie sagte ihm die Liedtexte auf Englisch und wollte dafür von ihm wissen, was Imperio Argentina in Morena Clara sang; ein Lied, das sie aus einem Grund, den er nicht verstand, genauso mochte wie Top Hat. Auf dem Grammofon in ihrem Zimmer erklangen Lieder, die sie aus Amerika mitgebracht hatte, ebenso wie die von der Platte, auf der García Lorca die Argentinierin auf dem Piano begleitete. Dass Judith die wirren Filme mit Zigeunern und Schmugglern und den schrillen Gesang darin mochte, irritierte Ignacio Abel weniger, als dass sich sein zwölfjähriger Sohn Miguel ebenfalls dafür begeisterte. Bevor er sie kennenlernte, hatte sich ihre Gegenwart schon durch Musik angekündigt, die auf so natürliche Weise von ihr auszugehen schien wie ihre Stimme oder der Glanz ihres Haares oder der zwischen sportlich und erdig changierende Duft ihres Parfüms. Eines Abends Ende September betrat Ignacio Abel die Aula des Studentenheims auf der Suche nach Moreno Villa, und in dem leeren Saal spielte mit dem Rücken zu ihm eine Frau auf dem Klavier und sang leise vor sich hin, und das rötlich goldene Licht der untergehenden Sonne, das den Raum erfüllte, hielt sich in seiner Erinnerung wie in einem Bernsteintropfen gefangen, das Licht des sich neigenden Tages des 29. September.

Es kommt ihm vor, als sei es gestern passiert, und auch, als sei viel mehr Zeit vergangen. Jetzt weiß er, dass die persönliche Identität einem Turm gleicht, der viel zu zerbrechlich ist, um sich aus eigener Kraft zu halten, ohne Zeugen, die sie beglaubigen, und wiedererkennende Blicke. Die Erinnerungen an das, was ihm am wichtigsten ist, sind so fern, als gehörten sie einem anderen Menschen. Das Gesicht auf dem Foto in seinem Pass ist beinahe das eines Fremden: Das Bild, an welches er sich beim Blick in den Spiegel gewöhnt hat, würden Judith Biely oder seine Kinder vielleicht nur mit Mühe identifizieren. In Madrid hat er Gesichter von Menschen, die er seit Langem zu kennen glaubte, über Nacht sich verändern sehen: Gesichter von Henkern oder Erleuchteten oder Fluchttieren oder Rindern, die sich widerstandslos zur Schlachtbank führen ließen; Gesichter, die nur noch aus aufgerissenen, aus Begeisterung oder Panik schreienden Mündern bestanden; Gesichter von Toten, noch halb zu erkennen, halb blutiger Brei nach dem Einschlag einer Gewehrkugel; wächserne Gesichter hinter einem nur von einem Lichtstrahl beleuchteten Schreibtisch, die über Leben und Tod entschieden, während flinke Finger auf einer Schreibmaschine Namenslisten tippten. Wie sieht das Gesicht eines Menschen im Licht von Autoscheinwerfern aus, kurz bevor er tödlich getroffen wird oder sich verwundet im Todeskampf am Boden windet, bis ihm der Pistolenlauf zum Gnadenschuss ins Genick gedrückt wird? Der Tod in Madrid ist manchmal eine jähe Explosion oder ein peitschender Schuss, dann wieder ein zähes Prozedere, das in bürokratischer Prosa und mit mehreren Kohlepapierdurchschlägen verfasste Berichte erfordert, die mit Stempeln und Unterschriften beglaubigt werden müssen.

Und als er nun an jenen Tag vor etwas mehr als einem Jahr zurückdenkt, an dem er Judith Biely zum ersten Mal gesehen hat, kommt auch kaum ein Verlustempfinden auf, weil das Verlorene so vollständig aufgehört hat zu existieren wie der Mensch, der einen solchen Verlust empfinden könnte. Es ist eher...

Erscheint lt. Verlag 30.7.2018
Übersetzer Willi Zurbrüggen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel La noche de los tiempos
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuerroman • Affäre • Amerika • Architekt • Buchmesse Frankfurt 2022 • Buchmesse Gastland Spanien • Bürgerkrieg • eBooks • Ehrengast Frankfurter Buchmesse 2022 • Flucht • Krieg • Liebe • Liebesromane • Madrid • Munoz • Roman • Romane • Spanien • USA • Verrat • Wiedersehen
ISBN-10 3-641-24305-X / 364124305X
ISBN-13 978-3-641-24305-0 / 9783641243050
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