Der polnische Reiter (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
768 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24303-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der polnische Reiter -  Antonio Muñoz Molina
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Ein poetischer Roman über das Erinnern und Vergessen.
Schon als Junge sehnt sich Manuel danach, so bald wie möglich aus seinem provinziellen andalusischen Heimatort Mágina in die Metropolen der Welt, nach Madrid, Paris, New York oder San Francisco, zu verschwinden. Jahre später begegnet er auf einem Kongress der schönen Nadia, folgt ihr nach New York und sieht sich bereits am Ziel seiner Träume. Doch es stellt sich heraus, dass Nadia ebenfalls mit seiner Heimat Mágina verbunden ist. Gemeinsam vertiefen sie sich in die Geschichte ihrer Stadt, zu der sich Manuel letztlich mehr und mehr zurücksehnt ...

Antonio Muñoz Molina, 1956 im andalusischen Úbeda geboren, zählt zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Spaniens und hat mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht, darunter »Die Augen eines Mörders« (1997), »Die Nacht der Erinnerungen« (2011), »Schwindende Schatten« (2019) und »Gehen allein unter Menschen« (2021). Sein belletristisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, so gleich zwei Mal mit dem spanischen Staatspreis für Literatur. 1995 wurde er in die Königlich Spanische Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2019 ins Präsidium des Museo del Prado. Muñoz Molina lebt in Madrid und Lissabon.

Ohne dass sie es merkten, wurde es Nacht in dem Zimmer, das sie seit vielen Stunden nicht verlassen hatten, in dem sie sich umarmt und mit immer leiserer Stimme unterhalten hatten, als hätten die Dämmerung und später die Dunkelheit, die sie nicht wahrnahmen, den Klang ihrer Stimmen gedämpft, nicht aber die gegenseitige Gier nach Worten, so wie auch die anfangs stürmische Art und Weise, in der sie ihr Verlangen befriedigten und zugleich nährten, gedämpfter geworden war, nach dem Essen in der irischen Kneipe, in der ihr bestrumpfter Fuß heimlich und ohne Scham unter dem unzureichenden Schutz der Tischdecke nach ihm getastet hatte, als sie danach durch den Schnee und die Kälte heimgegangen und im Fahrstuhl, vor der Tür, in der Diele, im Badezimmer beinah übereinander hergefallen waren, die Kleider in zärtlicher Raserei ungeduldig vom Leib gerissen und ihre Münder sich beißend, während beider Atem immer keuchender ging in der Hitze des Zimmers am frühen Nachmittag, im gestreiften Licht der Jalousien, durch die man auf der anderen Straßenseite eine Reihe von Bäumen mit kahlen Ästen sah, deren Namen sie ihm nicht zu nennen wusste, dahinter die Zeile der roten Ziegelsteinhäuser mit steinernen Stürzen, goldenen Türklopfern und glänzend schwarz gestrichenen Türen, die ihm das beruhigende Gefühl gaben, in London oder sonst einer angelsächsischen, leisen Stadt zu sein, obwohl der Verkehrslärm von den Straßen heraufdrang, die Sirenen von Polizeifahrzeugen und von den Löschzügen der Feuerwehr, ein dichtes Gebrodel, das sich um den Kern der Stille legte, in dem sie beide atmeten, so wie die grenzenlose, furchtbare Stadt sich um die kleine Wohnung legte, um die wie ein Unterseeboot so sichere Behausung, in der sie sich, wenn sie innehielten und darüber nachdachten, unter all den Millionen von Männern und Frauen, von Gesichtern und Namen, von Rufen und Sprachen und Telefongesprächen eigentlich unmöglich hätten begegnen können.

Sie lebten wie selbstverständlich im Innern einer Art von Wunder, das sie weder erbeten noch erwartet hatten, einander fast unbekannt bis vor wenigen Tagen und sich jetzt gegenseitig erkennend, im Blick, in der Stimme, im Körper des andern, einander verbunden nicht nur durch die stille und glühende Gewohnheit der Liebe, sondern auch durch die Stimmen und Zeugnisse einer Welt, die aus der Vergangenheit tosend über sie hereinbrachen, so wie der Saft wieder in einen Ast hineinströmt, der den ganzen Winter lang tot und vertrocknet schien, verbunden durch die Gestalt des Reiters, der durch eine nächtliche Landschaft trabte, verbunden durch die ins Leere und ins Dunkel starrenden Pupillen einer eingemauerten Frau, die siebzig Jahre lang unverwest blieb, durch den Koffer mit den Fotografien von Ramiro Retratista und eine im unbegreiflichen Spanisch des sechzehnten Jahrhunderts geschriebene protestantische Bibel, über deren Blätter jetzt ihre Hände strichen, wie es vor mehr als hundert Jahren die Hände der sich in Zeit und Entfernung verlierenden Toten getan hatten, die auf der anderen Seite des Meeres in einer Stadt begraben lagen, deren Namen auszusprechen für sie so ungewohnt war in jener Wohnung, die ihnen im Nirgendwo zu liegen schien: Mágina, seine Vokale so klar wie das Mittagslicht, seine harten Konsonanten, in Winkel gepresst wie die Ecksteine der Paläste aus sandfarbenem Stein, gelb in der Morgensonne, kupferfarben am Abend, beinah grau an Regentagen, in jenem Winter ihrer Jugend, den sie miteinander teilten, ohne es zu wissen, bis zum Schluss, sie, mit ihrem rötlichen Haar und dem irischen Kinn, eine halbe Fremde, die gerade aus Amerika gekommen war, er düster und schweigsam und von dem Wunsch besessen zu verschwinden, irgendwohin, nur raus aus Mágina, nach Madrid, Paris, New York, nach San Francisco oder auf die Insel Wight, in irgendeine der Städte oder in irgendeines der Länder, deren Namen er als Kind auf der beleuchteten Senderskala des Radios gelesen hatte und in denen man all die Sprachen würde hören können, die ihn schon fasziniert hatten, bevor er anfing, den Klang ihrer Worte zu unterscheiden und zu verstehen, als er einsam in durchwachten Nächten die ausländischen Stationen auf der Kurzwelle suchte und den Senderknopf ebenso behutsam drehte wie sein Vater, wenn dieser nach der Hymne der Zweiten Republik in Radio Pirenaica forschte. Er stellte sich vor, dass sein Schicksal und die Frau seines Lebens in einer Stadt auf ihn warteten, die er vielleicht nie sehen würde: sie, geboren in einem Vorort mit Häusern aus rotem Ziegelstein oder mit weiß gestrichenen Holzhäusern, wo manchmal die Möwen hinkamen und der feuchte Seewind und der Geruch von Mole und Schlamm, unterrichtet in einem Englisch mit irischem Akzent und in dem klaren Spanisch, wie es vor dem Krieg in Madrid gesprochen wurde und das ihr von ihrem Vater ebenso zwangsläufig mitgegeben worden war wie der trotzige, aufmerksame Ausdruck ihrer Augen; er, zur Welt gekommen in einer stürmischen Winternacht beim Licht einer Kerze, aufgewachsen in den Gärten und Olivenhainen von Mágina, vom Schicksal dazu bestimmt, mit vierzehn oder fünfzehn Jahren die Schule zu verlassen und an der Seite seines Vaters und seiner Großväter auf dem Land zu arbeiten, sich in einem gewissen Alter eine Freundin zu wählen, die er natürlich schon seit Kindertagen kannte, und sie nach sieben oder acht kräftezehrenden Verlobungsjahren im weißen Kleid vor den Traualtar zu führen, er selbst ungelenk, verbittert, schweigsam, aufsässig, in Notizheften Tagebuch von rasendem Kummer führend, voller Hass auf die Stadt, in der er lebte, und die einzige Art von Leben, die er gekannt hatte und die zu erwarten ihm zustand, im Namen all der anderen Leben, die Lieder, Bücher und Filme ihm angekündigt hatten, und viel früher bereits, noch als Kind, die Stimmen aus dem Radio und die Namen der Städte, die er auf den Weltkarten las, hochgewachsen jetzt, da er Nadia vor sich sah und sich nicht an sie zu erinnern wusste, in Kürze siebzehn Jahre alt und gemartert von der Ungeduld, erwachsen zu werden, stets dunkel gekleidet, mit einer schwarzen Haarlocke in der Stirn, die seinen Blick verfinsterte, mit Cowboyhosen, die er zur Empörung seiner Eltern auch sonntags nicht auszog, und mit einer bis an den Hals zugeknöpften blauen Marinejacke, die an eine Mao-Uniform erinnerte, in Wirklichkeit aber eine Gendarmendienstjacke war, die über dreißig Jahre im Schrank seines Großvaters Manuel gelegen hatte, ganz hinten beim Koppelzeug und der Zinnhülse mit seiner Ernennungsurkunde, zusammen mit einer Blechdose voller Banknoten, die er stolz seinen Freunden zeigte, um ihnen zu sagen, das sei Geld der Republik: und er stets auf der Suche nach ausländischen Stimmen und Liedern im Radio, im Geiste einen Seesack über der Schulter, auf der Straße nach Madrid, die endlos weiter nach Norden führte, in Gegenden, wo er irgendwie leben und einen anderen Namen annehmen und nur englisch reden und sich die Haare bis auf die Schultern wachsen lassen würde wie all die Helden, die er verehrte, Edgar Allan Poe, Jim Morrison, Eric Burdon, so begierig darauf, abzuhauen und nie zurückzukommen, dass es ihm nichts ausmachen würde, weder seine Freunde je wiederzusehen noch das Mädchen, in das er damals verliebt war, mit einer Liebe, die mehr aus Ängstlichkeit und Literatur gemacht war als aus Freude und Verlangen, so rühmlich, so schmerzlich und lächerlich wie sein damaliges Leben, wie seine Fluchtpläne, seine Gedichte und seine Geständnisse, die er in seinen Freistunden ins Notizheft schrieb, in dem Gymnasium, in dem der Literaturunterricht von einem Lehrer aus Madrid gehalten wurde, der voller Gram über Martyrium und Verbannung war und schon bald den Spitznamen Praxis verpasst bekam, und zwar von dem abscheulichsten aller Schüler, einem späteren Leutnant der Guardia Civil, der damals schon Marihuana rauchte, davon träumte, sich eines Tages die Arme mit Legionärstätowierungen zu schmücken, und Patricio Pavón Pacheco hieß. Unbekannte, die sich auf den Straßen von Mágina begegneten und einander so fremd waren, als hätten sie in verschiedenen Jahrhunderten gelebt, bis in die verborgensten Tiefen ihres Bewusstseins mit den Stimmen ihrer Ahnen erfüllt und Erben eines Sinns, der seine Bedeutung verloren hatte, lange bevor sie geboren wurden, und, ohne es zu wissen, geprägt von denkwürdigen oder furchtbaren Ereignissen, von denen sie nichts wussten, unfreiwillige Erben der Einsamkeit, des Leidens und der Liebe derer, die sie zeugten.

Er richtete sich auf und tastete auf dem Nachttisch nach einer Zigarette, als ihm beim Blick auf den Wecker bewusst wurde, wie spät es schon war, und er unwillkürlich ausrechnete, wie spät es jetzt in Mágina war. Der Morgen graute dort bereits, und sein Vater würde auf dem Markt stehen, das feuchtglänzende Gemüse auf dem Marmortisch anordnen und sich vielleicht ab und zu fragen, wo er sich wohl aufhielt, in welche der Städte aus seinen Jugendträumen ihn sein vagabundierender Dolmetscherberuf verschlagen haben mochte. Er sah das Telefon an und dachte mit schlechtem Gewissen an die ganze Zeit, die vergangen war, seit er zuletzt mit seinen Eltern gesprochen hatte, zündete die Zigarette an und steckte sie Nadia zwischen die Lippen, wobei er ihr flüchtig über Gesicht und Haar streichelte. Er wollte noch kein Licht machen, obwohl es bereits Mitternacht war, das Gefühl von verstreichenden Stunden fehlte ihm, wie auch der Druck, etwas zu tun oder irgendwo hinzugelangen. Warum sind wir uns damals nicht begegnet, fragte er, sich im Finstern fast über sie beugend, nicht vor ein paar Monaten, sondern vor achtzehn Jahren, warum fehlte es uns an Mut, an Klugheit, Ironie und Witz, mir zumindest, welcher Nebel war in meinen Augen, der mich dich nicht sehen ließ, als du vor mir standst, ein halbes Leben jünger, aber nicht...

Erscheint lt. Verlag 30.7.2018
Übersetzer Willi Zurbrüggen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel El Jinete Polaco
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Andalusien • eBooks • Erinnern • Heimat • Kleinstadt • Mágina • New York • Roman • Romane • Sehnsucht • Spanien • Vergessen
ISBN-10 3-641-24303-3 / 3641243033
ISBN-13 978-3-641-24303-6 / 9783641243036
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