Die Augen eines Mörders (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
480 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-24304-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Augen eines Mörders -  Antonio Muñoz Molina
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Tag und Nacht lief er durch die Stadt, auf der Suche nach einem Blick. Nur für diese Aufgabe lebte er ...
Der Sexualmörder schlägt bei Vollmond zu. Sein jüngstes Opfer: ein zehnjähriges Mädchen. Vom Täter finden sich Kippen, Blut und Schamhaare. Der Inspektor sucht ihn mit der Besessenheit eines Mannes, der ein persönliches Unglück kompensieren muss. Denn er ist neu in der kleinen südspanischen Stadt, und seine Kollegen betrachten den einstigen Spitzel in Francos Diensten mit Argwohn ...

Antonio Muñoz Molina, 1956 im andalusischen Úbeda geboren, zählt zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Spaniens und hat mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht, darunter »Die Augen eines Mörders« (1997), »Die Nacht der Erinnerungen« (2011), »Schwindende Schatten« (2019) und »Gehen allein unter Menschen« (2021). Sein belletristisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, so gleich zwei Mal mit dem spanischen Staatspreis für Literatur. 1995 wurde er in die Königlich Spanische Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen, 2019 ins Präsidium des Museo del Prado. Muñoz Molina lebt in Madrid und Lissabon.

1

Tag und Nacht lief er durch die Stadt, auf der Suche nach einem Blick. Nur für diese Aufgabe lebte er, und auch wenn er versuchte, andere Dinge zu tun, oder vorgab, sie zu tun, spähte er unablässig umher, schaute den Leuten in die Augen, schaute in die Gesichter von Unbekannten, der Kellner in den Bars und der Verkäufer in den Läden, erforschte die Gesichter und die Blicke auf den Fotos der Verbrecherkartei. Der Inspektor suchte den Blick eines Menschen, der etwas zu Ungeheuerliches gesehen hatte, als dass es vom Vergessen gemildert oder ausgelöscht werden könnte; er suchte ein Paar Augen, in denen eine Spur des Verbrechens zurückgeblieben war, Pupillen, in die er nur flüchtig zu sehen bräuchte, um die Schuld in ihnen zu erkennen, so wie Ärzte die Anzeichen einer Krankheit allein dadurch entdecken, dass sie mit einem Lämpchen in die Pupillen hineinleuchten. »Suche seine Augen«, hatte Pater Orduña zu ihm gesagt und ihn dabei so durchdringend angesehen, dass dem Inspektor ein Schauer über den Rücken gelaufen war, wie damals, als er in dem Wohnheim erschienen war und diese kurzsichtigen, müden, prophetischen Äuglein ihn gleich wieder erkannt hatten, so blitzartig, wie er, der Inspektor, nun das gesuchte Individuum erkennen sollte oder wie Pater Orduña vor langer Zeit die Einsamkeit, den Groll, die Scham und den Hunger in ihm erkannt hatte, sogar den Hass, seinen Hass auf das Internat und alles, was sich darin befand, und auch auf die Welt draußen.

Wahrscheinlich wäre es der Blick eines Unbekannten, doch der Inspektor war sich sicher, dass er ihn unfehlbar und ohne Zögern identifizieren würde, sobald seine Augen ihm begegneten, und sei es nur ein einziges Mal, von fern, von der anderen Straßenseite her, durch das Fenster einer Bar. Bei seiner Suche kam ihm der glückliche Umstand zugute, dass auch er zum großen Teil noch ein Unbekannter war in der Stadt, da er erst vor wenigen Monaten, Anfang des Sommers, ganz überraschend dorthin versetzt worden war, als er schon gar nicht mehr daran glaubte, dass seinem Antrag stattgegeben werde, zumindest nicht vor der neuen Ausschreibung im nächsten Jahr. Wenn man so lange auf etwas wartet, ist es manchmal besser, es tritt gar nicht ein: Der Inspektor zeigte seiner Frau die Nachricht, auf die sie seit Jahren gewartet hatte, doch sie ließ keinerlei Freude erkennen, nicht einmal Erleichterung, nickte nur, immer noch ungekämmt, abwesend, als sei sie eben erst aufgestanden, obwohl es drei Uhr nachmittags war, und er steckte das amtliche Schreiben wieder in den Umschlag, legte es auf eine Kommode, stand einen Moment lang mit gesenktem Kopf da, als erinnere er sich nicht mehr, wohin er gehen wollte, und knetete seine Hände.

Was mit derartiger Verspätung eintritt, ist genauso, als trete es gar nicht ein, sogar schlimmer noch, denn die Erfüllung zur falschen Zeit von etwas, das man so sehnlich erwünscht, ist am Ende nur Sarkasmus. Dabei hatte er sich lange geweigert, seine Versetzung zu beantragen, hatte seine Frau zum Teil belogen, hatte ihr erzählt, er habe seinen Antrag eingereicht, aber die Frist sei schon verstrichen; Ausflüchte, um ihr nicht eingestehen zu müssen, dass Angst und Gefahr ihm weniger ausmachten als die mutmaßliche Schande, die Illoyalität gegenüber den Kameraden, den ermordeten Freunden, den nach einem Bombenanschlag Verstümmelten oder für immer Gelähmten. Diese Dinge machten ihm etwas aus, ihr nicht: Sie wartete, wartete von morgens bis abends, manchmal die ganze Nacht lang, wartete neben dem Telefon oder vor dem laufenden Fernseher oder am Fenster, durch die Jalousie auf die Straße starrend, bei dem geringsten Geräusch aufschreckend, dem Kreischen einer Klingel oder der Fehlzündung eines Autos, beim Aufheulen der Alarmanlage irgendeines Geschäfts in der Nachbarschaft. Sie hatte Stunde um Stunde, Tag um Tag gewartet, jahrelang, so viele Jahre, dass es jetzt zu viele geworden waren, dass sie nicht mehr fragte, ihn nicht mehr drängte, kein Gespräch beim Essen mehr begann, das irgendwann mit der Frage nach seiner Versetzung enden würde. Und als die Nachricht endlich kam (die in Wirklichkeit ein Befehl war und vielleicht sogar ein Wink, sich pensionieren zu lassen), hatte sie schon lange aufgehört zu fragen, nicht nur nach der Versetzung, sondern überhaupt, und wenn der Inspektor erst spät nach Hause kam, ohne sie vorher angerufen zu haben, wartete sie nicht mehr im Nachthemd auf ihn, um ihm Vorwürfe zu machen oder in Tränen auszubrechen. Er kam in die Wohnung und stellte mit unendlicher Erleichterung fest, dass alle Lichter erloschen waren, zog seine Schuhe aus, legte das Pistolenhalfter ab, tastete sich in das nur vom Licht der Straßenlaternen schwach erhellte Schlafzimmer, zog sich geräuschlos aus, hörte ihren Atem in der allein von den roten Ziffern des Radioweckers beleuchteten Dunkelheit, glitt mit einem Brummschädel von Whisky und Zigaretten unter die Bettdecke, schloss die Augen, suchte ihren Körper, den er schon lange nicht mehr begehrte, und stellte fest, dass sie nicht schlief, und dann tat er, als schlafe er sofort ein, feige sich drückend vor möglichen Fragen, die genauso regelmäßig kamen wie die Tränen und das Jammern darüber, warum er sie in diese feindselige Gegend habe bringen müssen, so fern ihrer Heimat, und warum er sie nie mehr anfasse.

Der Inspektor, noch fremd in der Stadt, von den Kollegen im Präsidium noch mit einiger Bewunderung und einem gewissen Argwohn betrachtet, weil ihm aus dem Norden eine etwas undurchsichtige Legende von Mut und Entschlossenheit, aber auch sporadischer Unausgeglichenheit gefolgt war, ging durch die Straßen und suchte ein Gesicht, das er, da war er sich sicher, augenblicklich erkennen würde, nach einer Sekunde des Erstarrens vielleicht, wie wenn man sich selbst in einem Schaufenster sieht und nicht weiß, wen man vor sich hat, weil man nicht das Gesicht sieht, das man erwartet, wenn man in einen Spiegel schaut, sondern jenes, das die anderen sehen und welches das fremdeste von allen ist. Suche seine Augen, hatte Pater Orduña zu ihm gesagt, und er begab sich an diesem Abend auf die Suche nach Gesichtern und Blicken in der fast menschenleeren Stadt, in der Dunkelheit eines verfrühten Winters mit geschlossenen Türen und Fensterläden gegen die Kälte und gegen die Angst, denn seit dem Tod des Mädchens schien eine alte Furcht vor den Gefahren der Nacht wieder aufgelebt zu sein, die Straßen hatten sich schnell geleert, und die Dunkelheit schien dichter zu werden und die Lichter schwächer. Die Schritte eines jeden klangen wie die Schritte des Mannes, dessen Blick der Inspektor suchte; jede einsame Gestalt, der er begegnete, konnte dieselbe sein, die in der Nacht des Verbrechens ungesehen zum kleinen Parque de la Cava hinaufgegangen war, jemand, der sich harmlos zu geben suchte, als er wieder ins Licht zurückkehrte, der sich zweifellos den Schmutz von den Hosenbeinen klopfte und sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, als er zwischen den verwahrlosten Hecken und den Bänken hervorkam, auf denen schon lange keine Liebespaare mehr saßen, und unter den Laternen davonging, die nie brannten, weil sie von den Horden junger Leute, die sich an Wochenenden im Park betranken, regelmäßig mit Steinen zerschmissen wurden. Er war wohl auf die Glasscherben der Lampenkugeln und Bierflaschen getreten, als er sich durch den Park entfernte und am Fuß des Erdwalls, im Mondlicht, den bleichen Fleck eines Gesichts mit aufgerissenen starren Augen hinter sich zurückließ. In diesem Moment geht jemand durch die Stadt und trägt die Erinnerung an jene Augen in sich, an den letzten Moment, in dem sie noch zu sehen vermochten, eine Sekunde bevor der Tod sie gläsern machte. Und wer diesen Todeskampf verursacht und verfolgt hat, kann nicht genauso dreinblicken wie jedes andere menschliche Wesen, in seinen Pupillen muss ein Abglanz sein, ein Rest oder ein Funken des Entsetzens, das in jenen Kinderaugen gestanden hat. Vierzig Jahre früher hatte Pater Orduña seinen Blick über die Reihen der mit niedergeschlagenen Augen auf Bestrafung wartenden Schüler gleiten lassen und mühelos den Blick des Schuldigen herausgefunden, und dann, nachdem er ihn entlarvt und vor den anderen bloßgestellt hatte, lächelnd gesagt: »Die Augen sind der Spiegel der Seele.«

Der Inspektor war sich jedoch sicher, dass es Menschen gab, die keine Seele hatten, und was er suchte, ohne genauer darüber nachzudenken, war ein Gesicht, in dem sich nichts widerspiegelte, ein ausdrucksloses Gesicht mit seelenlosen Augen, von denen er im Laufe seines Lebens einige, nicht sehr viele zum Glück, im Licht der Neonlampen auf der anderen Tischseite in den Vernehmungszimmern der Polizeireviere gesehen hatte, auf Fahndungsfotos auch, Gesichter von Verdächtigen und Überführten, die nicht Angst oder Abscheu in ihm wachriefen, sondern ein höchst unangenehmes Gefühl von Kälte. Tatsächlich, dachte er jetzt, hatte er nicht viele gekannt, kam es nicht so häufig vor, dass man, selbst als Polizist, einem Gesicht begegnet, in dem sich nicht der geringste Widerschein einer Seele fand, Augen, in denen sich nichts anderes ereignete als der Vorgang des Sehens.

»Aber das stimmt nicht«, hatte Pater Orduña zu ihm gesagt. »Es gibt keinen Menschen ohne Seele. Selbst den schlimmsten Mörder hat Gott nach seinem Ebenbild erschaffen.«

»Würden Sie ihn erkennen?«, fragte der Inspektor. »Wären Sie imstande, ihn in einer Reihe von Verdächtigen zu identifizieren, wie früher, wenn Sie uns in einer Reihe aufstellten, weil jemand Ihnen einen Streich gespielt hatte, und Sie jeden Einzeln anschauten und jedes Mal den Schuldigen fanden?«

»Christus brauchte Judas nur anzusehen, um zu wissen, dass er der Verräter war.«

»Jesus Christus hatte einen entscheidenden Vorteil; er war Gott, wie Sie...

Erscheint lt. Verlag 30.7.2018
Übersetzer Willi Zurbrüggen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Plenilunio (dt. Die Augen eines Mörders)
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Andalusien • Buchmesse Frankfurt 2022 • Buchmesse Gastland Spanien • eBooks • Ehrengast Frankfurter Buchmesse 2022 • Inspektor • Kleinstadt • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mörder • Munoz • Polizist • Roman • Romane • Sexualmörder • Spanien • Thriller
ISBN-10 3-641-24304-1 / 3641243041
ISBN-13 978-3-641-24304-3 / 9783641243043
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