Weit weg von Verona -  Jane Gardam

Weit weg von Verona (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
240 Seiten
Hanser Berlin (Verlag)
978-3-446-26235-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
4,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Jessica sagt bedingungslos und in den unmöglichsten Momenten die Wahrheit. Ihr Widerwille gegen Anpassung bringt sie in dem kleinen englischen Badeort ständig in verquere Situationen. Sie hat genau eine Freundin - der Rest ihrer kleinen kriegsüberschatteten Welt begegnet ihr mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Aber das ist ihr egal, denn eigentlich braucht sie all ihre explosive Kraft, um Schriftstellerin zu werden. Oder ist sie das schon? 'Weit weg von Verona' ist Jane Gardams erster Roman. Doch er enthält bereits all das, wofür sie bewundert wird - die atmosphärische Stärke, den Mut zum Geheimnis und ihren besonderen Witz. Mit Jessica Vye hat sie eine der hinreißendsten Figuren überhaupt geschaffen.

Jane Gardam wurde 1928 in North Yorkshire geboren und lebt heute in East Kent. Für ihr schriftstellerisches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Neben der Bestseller­Trilogie um Old Filth erschienen zuletzt Robinsons Tochter (2020) und Mädchen auf den Felsen (2022).

1


Ich möchte von Anfang an klarstellen, dass ich nicht ganz normal bin, denn im Alter von neun Jahren hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Das sage ich lieber gleich, denn mir ist aufgefallen, dass man beim Lesen, wenn etwas erst so langsam im Laufe eines Buches durchsickert, irgendwann enttäuscht ist oder sich ausgetrickst fühlt, wenn es dann klar wird.

Ich bin allerdings zum Glück nicht verrückt, und soweit ich weiß, gibt es da auch in meiner Familie keine erbliche Vorbelastung. Was mich von anderen Mädchen meines Alters – dreizehn Jahre – unterscheidet, ist Folgendes: Als ich neun war, kam ein Mann in unsere Schule – eine Art private Kinderaufbewahrung, wo man ab fünf Jahren hingehen konnte, und die meisten Mädchen verließen die Schule wieder, wenn sie elf waren, außer sie waren wirklich sehr dumm –, um uns zu erzählen, wie man Schriftsteller wird. Nicht viele von uns hatten wirklich schon darüber nachgedacht – über Schriftsteller im Allgemeinen, ganz zu schweigen davon, selbst eine zu werden. Ich am allerwenigsten, jedenfalls hatte ich es nicht wirklich in Erwägung gezogen. Ich hatte aber schon seit einigen Jahren geschrieben. Bei uns zu Hause lag immer jede Menge Papier herum, mein Vater war Housemaster an einer Schule; ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht Stifte in die Hand genommen und Dinge aufgeschrieben hätte. Komisch, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, Papier zu kaufen. Es kommt mir vor, als müsste es das kostenlos geben. Wie bei Pastorenkindern mit der Kollekte. Manchmal stehle ich Papier, wenn ich mit den Gedanken woanders bin.

Dieser Mann kam also. Wir waren alle im größten Klassenraum, die Kleinen saßen im Schneidersitz auf dem Boden, die Großen lümmelten sich auf Stühlen dahinter herum, und man sagte uns, wir sollten still sein. Die Tür ging auf, und hinter der Direktorin kam dieser entsetzlich müde aussehende Mann herein. »Liebe Mädchen«, sagte sie, »das ist Mr Arnold Hanger. Er kommt von sehr, sehr weit her, um euch zu erzählen, wie man Schriftsteller wird. Sie brauche ich gar nicht groß vorzustellen, Mr Hanger, denn wir alle lieben Ihre Bücher so sehr (strahl, strahl), dass wir das Gefühl haben, Sie schon gut zu kennen.«

Dann sagte sie noch einmal recht scharf »Mr Hanger«, denn ihm war das Kinn auf die Brust gesunken, als würde er gleich wegnicken. »Mr Hanger«, sagte sie, »für uns sind Sie fast wie ein alter Freund.«

Alle applaudierten wie verrückt und klatschten den anderen auf die Knie und stießen einander in die Seite und schnaubten und versuchten sich nichts anmerken zu lassen, denn natürlich hatte NIEMAND je von dem Mann gehört, außer vielleicht der Direktorin. Ich bin sicher, dass keine der anderen Lehrerinnen ihn kannte, denn die waren entweder zu alt, um überhaupt noch irgendwas zu lesen, oder sie hatten es gar nicht gelernt. Es war eine ziemlich eigenartige Schule.

Der Mann sah aus, als sei ihm das auch klar. Er öffnete langsam die Augen, als die Direktorin sich hinsetzte und auf ihrem Stuhl zurechtrutschte, ganz pudrig, mit ihrer züchtigen Bluse unter dem tief ausgeschnittenen, losen Oberteil, und hoffnungsvoll zu ihm aufsah. Aus irgendeinem Grund war das wahnsinnig lustig, und das Mädchen neben mir und ich brachen fast zusammen, beinahe hätte ich rausgehen müssen. Ich nehme an, mein ganzes Leben wäre anders verlaufen, wenn ich das getan hätte.

Jedenfalls.

Arnold Hanger stand mit einem tiefen Seufzer auf und betrachtete uns, dann breitete sich ein wundervolles Lächeln auf seinem ganzen Gesicht aus, und er fing an zu sprechen. Er war absolut umwerfend. Sogar die aus der obersten Klasse, die wirklich Garstigen, die den ganzen Tag nur rumsaßen und gähnten und nach der Schulzeit einfach genauso weitermachen würden – es war eine ziemlich vornehme Schule –, selbst die setzten sich auf und hörten zu.

Er hatte eine sehr schöne Stimme, und er hatte jede Menge Bücher dabei, in denen Zettel steckten, mit denen er sich bestimmte Stellen markiert hatte, und er nahm erst ein Buch zur Hand, dann das nächste, und las uns Stellen vor – lange, lange Stücke, und manchmal ganz kurze. Gedichte und alles Mögliche.

Na ja, ich war erst neun und fast noch im Märchen-Alter. Tatsächlich war es nicht so einfach gewesen, mich überhaupt ans Lesen zu kriegen, denn ich stromerte immer umher und kritzelte auf dem Schreibpapier meines Vaters herum, drückte das Gesicht ans Fenster und so weiter; ich VERPLEMPERTE ZEIT, sagten sie immer. Er fuhr fort – Buch um Buch um Buch, von dem ich noch nie gehört hatte. Gedichte und Geschichten und Dialoge und Teile aus Theaterstücken, alles mit verschiedenen Stimmen vorgetragen. Ich saß so still, dass ich gar nicht aufstehen konnte, als er fertig war, so steif war ich.

Die Direktorin bedankte sich bei ihm (strahl, strahl, STRAHL), und er sah plötzlich wieder traurig und müde aus und trottete mit gesenktem Kopf hinter ihr her zur Tür, während wir klatschten und klatschten. Er blieb mit dem Rücken zu uns einen Augenblick lang in der Tür stehen, dann drehte er sich um und starrte uns an; plötzlich hob er die Hand, und wir wurden still.

»Danke«, sagte er. »Freut mich, dass es euch gefallen hat. Falls ich hier heute irgendwen überzeugt habe, dass Bücher Spaß machen sollten, dass Englisch nichts mit Pflichterfüllung zu tun hat, dass es nichts mit der Schule zu tun hat – mit Arbeitsblättern und Hausaufgaben und Ankreuzen und Durchstreichen –, dann bin ich glücklich.« Er wandte sich um, aber dann drehte er sich noch einmal zu uns und rief, er brüllte: »Zur Hölle mit der Schule!«, schrie er. »Zur Hölle mit der Schule! Es geht um die Sprache. DIE SPRACHE IST DAS LEBEN.« Die Direktorin packte ihn und führte ihn zum Tee in ihr Arbeitszimmer. Sie sah nicht gerade begeistert aus, und wir wurden entlassen, und ich rannte nach Hause.

Ich holte alles, was ich je geschrieben hatte, aus meinem Schreibtisch und raste zurück in die Schule – meilenweit entfernt –, aber als ich ankam, sah ich das Taxi zum Bahnhof gerade losfahren und Mr Hangers Hut durch die Rückscheibe. Ich drehte mich um und flog wieder nach Hause, durch unseren Garten und hinten wieder raus in Richtung der Gleise, ich sah nach rechts und links und überquerte die Gleise und lief durch die Schrebergärten an den Gleisen entlang bis zu dem Hang, der zum Bahnsteig hinaufführt, und dann den Bahnsteig hinunter.

Ich war vor ihm da und musste warten, bis er über die Brücke kam.

Er kam sehr langsam. Er trug einen flachen, braunen Hut und einen langen, schon etwas älteren Tweedmantel. Mitten auf der Brücke blieb er stehen, beobachtete den Zug beim Einfahren, sah ihm in den Schornstein und ließ sich vom Qualm einhüllen, wie mein Vater und ich früher, als ich noch klein war, bevor mein Bruder geboren wurde. Und dann trottete er ganz langsam, als wäre es ihm egal, ob er den Zug erwischt oder nicht, die Holzstufen der Fußgängerbrücke hinunter. »Nun machen Sie schon«, rief der Schaffner und hielt ihm eine Tür zur dritten Klasse auf. »Machen Sie hin!«, und ich lief zu ihm, als er gerade einstieg.

»Würden Sie sich das mal angucken?«, fragte ich. Ich schob mich vor den Schaffner und warf Mr Hanger meine ganzen Zettel zu. »Jetzt aber«, sagte der Schaffner. Es wurde gewinkt und gepfiffen, und ich sah Arnold Hanger drinnen auf dem Boden herumkriechen und dann mit dem Lederriemen kämpfen, mit dem sich das Fenster öffnen ließ. Er bekam den Kopf erst heraus, als der Zug schon am Ende des Bahnsteigs war, aber ich folgte ihm noch ein Stück den Hang hinunter, und er nahm den Hut ab und winkte sehr galant damit und verpasste das Signal nur um Haaresbreite. »Das mache ich! Und wohin soll ich es zurückschicken?«, rief er, und ich rief zurück: »Ich habe meinen Namen und meine Adresse draufgeschrieben!« (Tatsächlich neigte ich damals dazu, meinen Namen und meine Adresse auf alles zu kritzeln, was ich schrieb. Und auch auf alle möglichen anderen Sachen, vor allem auf meine Arme und Oberschenkel. Ich habe festgestellt, dass das typisch für Kinder in dem Alter ist.)

Nach einem kleinen Geplänkel mit dem Schaffner und nachdem ich durch den Gepäckraum hinausgescheucht worden war, beruhigte ich mich ein bisschen, und dann war es mir peinlich. Ich erzählte niemandem, was ich getan hatte, und komischerweise sprach auch in der Schule niemand über den Vortrag, auch ich nicht. Ich behielt für ein paar Tage die Post im Auge, aber dann vergaß ich es, was auch typisch ist, wenn man acht oder neun ist. Das war auch ganz gut so, denn ich hörte erst Monate später wieder davon, mitten im Winter. Tatsächlich war es genau an dem Tag, als wir unser Haus verließen und auf die andere Seite Englands zogen – »in die abscheulichste Gegend des Landes«, wie meine Mutter sagte –, weil mein Vater nicht mehr Lehrer sein wollte, sondern Hilfsgeistlicher.

Wir saßen im Taxi zum Bahnhof, meine Mutter weinte, und Rowley, mein Bruder, weinte auch – er war noch sehr klein und tat selten etwas anderes –, und mein Vater sprach mit dem Taxifahrer darüber, ob es Krieg geben würde oder nicht, und versuchte, nicht zu unserem Haus zurückzuschauen, in dem noch unsere Vorhänge in den Fenstern hingen und unsere Gartenstühle auf dem Rasen standen. Selbst die Schaukel hing noch im Birnbaum, denn das Haus gehörte der Schule, und das meiste darin mussten wir für den nächsten Housemaster und seine Familie dalassen.

Ich sagte: »Wir hätten die Schaukel abnehmen sollen. Sie wird morsch, wenn sie den ganzen Winter draußen bleibt.« Und mein Vater...

Erscheint lt. Verlag 23.7.2018
Übersetzer Isabel Bogdan
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel A Long Way from Verona
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. / 21. Jahrhundert • 40er Jahre • Badeort • Coming of Age • England • Fliegerangriff • Freundschaft • Harper Lee • Ian McEwan • Krieg • Küste • Mädchenschule • Rebellion • Salonsozialismus • Schriftstellerin • Shakespeare • Wer die Nachtigall stört
ISBN-10 3-446-26235-0 / 3446262350
ISBN-13 978-3-446-26235-5 / 9783446262355
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99