Die Stadt der weißen Musiker (eBook)

Roman

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
432 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30986-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Stadt der weißen Musiker -  Bachtyar Ali
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Als man dem kleinen Dschaladat die Flöte zum ersten Mal in die Hand drückt, entlockt er ihr sofort Klänge, die alle verzaubern. Der alte Sufi Ishaki Lewzerin nimmt ihn und seinen Freund in die Berge mit, um sein geheimes Wissen weiterzugeben. Als der Krieg und die Bombardements beginnen, wandern die drei Flötisten von Dorf zu Dorf. In einer riesigen, namenlosen Stadt der Bordelle muss Dschaladat in einer Tanzkapelle seine ganze Kunst des Flötenspiels wieder verlernen, um nicht aufzufallen. Das rätselhafte Mädchen Dalia beschützt ihn, weiht ihn ein in ihre Geheimnisse und führt ihn auf einen Weg in die Tiefen seines Landes, der unsere Vorstellungskraft übersteigt. Der monumentale Roman einer Welt, in der der Tod allgegenwärtig ist und die Künste ungeahnte Rettung bringen.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

Bachtyar Ali wurde 1966 in Sulaimaniya (Nordirak) geboren. 1983 geriet er durch sein Engagement in den Studentenprotesten in Konflikt mit der Diktatur Saddam Husseins. Er brach sein Geologiestudium ab, um sich der Poesie zu widmen. Sein erster Gedichtband Gunah w Karnaval (Sünde und Karneval) erschien 1992. Sein Werk umfasst Romane, Gedichte und Essays. Er lebt seit Mitte der Neunzigerjahre in Deutschland. 2017 wurde er mit dem Nelly-Sachs-Preis, 2023 mit dem Hilde-Domin-Preis ausgezeichnet.

Verloren im Süden


Mitte 1970, sechs Monate nach der Geburt von Dschaladati Kotr, starb Mriam Faizi an einer unbekannten Krankheit. Vielleicht war es der Kummer, der sie nach der Trennung von ihren beiden Söhnen überfallen hatte. Nach einem langen und sinnlosen Streit mit seinen Verwandten hatte nämlich der Vater von Dschaladati Kotr geschworen, Mriam werde ihre Söhne nie wieder zu Gesicht bekommen. Ein erbarmungsloser Schwur, der zum Tod einer Frau führte, die einen solchen Tod nicht verdient hatte. In einem fernen Dorf an der Grenze wurde sie begraben, und bald hatte die Welt sie vergessen. Dschaladat bekam seine Mutter nie zu Gesicht. Und doch, vielleicht hatte diese Frau, die ein kurzes, bedrücktes Leben lebte, ihrem kleinen Kind eine geheime Macht hinterlassen: die Fähigkeit, den Tücken, Fallstricken und Verführungen des Todes zu entgehen, die Mauern des Todes zu sprengen und zu überleben. Eine Kraft, die in diesem Roman nach und nach offenbar werden wird. Eine Fähigkeit, deren Mysterium unsere Vorstellungskraft übersteigt.

Doch hatte Dschaladat, der ungefähr zehn Jahre jünger war als sein Bruder Dschaudat, keine unglückliche Kindheit. Unter der Obhut seines Vaters und seines älteren Bruders, der mit siebzehn heiratete und lernte, des Vaters große Mehlhandlung zu führen, wuchs Dschaladati Kotr ohne Sorgen auf. Ein seltsamer und furchtbarer Autounfall war die einzige Tragödie in seinem Leben. Jedoch, als er zehn war, starb sein Vater, und seine Schwägerin Suheyla offenbarte ihren bis dahin verborgenen, teuflischen Charakter.

Alles begann mit einer kleinen, weißen Flöte, die ein Toter dem Achtjährigen auf seltsame Weise hinterließ. Es war die Flöte von Meister Sarmad Tahir, einem schlanken Mann mit langem Bart, der im Hof des Nachbarhauses unter einem gigantischen Maulbeerbaum saß und tagaus, tagein Flöte spielte. Ständig saß er unter diesem Baum und spielte, hingebungsvoll. Schon mit sechs stieg Dschaladat über eine Leiter auf die Mauer zwischen den Höfen, saß dort rittlings und lauschte. Wann immer Meister Sarmad die Flöte weglegte, warf er Dschaladat ein kleines Lächeln zu, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen. Niemand kann sich daran erinnern, dass der Meister je mit dem kleinen Dschaladat gesprochen hätte. Ein Lächeln – mehr war nicht zwischen den beiden. Und keiner wusste zu sagen, ob dieser Mann, außer einer alten Tante, irgendwelche Angehörigen hatte.

Eines Morgens wurde das ganze Viertel von den Schreien dieser alten Tante aus dem Schlaf gerissen, die laut heulend den Tod des Meisters Sarmad verkündete. Die Nachbarn fanden ihn in seinem weißen Schlafanzug vom Maulbeerbaum hängend. Aus freiem Entschluss hatte er Selbstmord begangen.

Meister Sarmad hinterließ nichts als die weiße Flöte. Vor seinem Tod hatte er sie ordentlich in eine Tüte gepackt, auf der in Schönschrift stand: »Meine Lieben, wer meine Leiche runterholt, soll bitte diese Flöte dem kleinen Dschaladat übergeben, dem Jungen unseres Nachbarn Ismaili Kotr.«

Man drückte also dem kleinen Dschaladat die Flöte in die Hand, und schon beim ersten Mal konnte er ihr berückende Töne entlocken. Sobald er die Lippen an das Instrument drückte, kam eine Musik heraus, die jedermann verblüffte. Das Talent des Kindes war so erstaunlich, dass sein Vater ihn vorzeitig in einen der privaten Musikkurse steckte, die damals neu in unserer Stadt angeboten wurden. Der Ruf seiner Begabung verbreitete sich, und als er mit seiner Musikkapelle in jenen schrecklichen Unfall geriet und als Einziger überlebte, wurde er zum Helden und Liebling der Stadt.

Der Tod seiner Freunde hatte dem kleinen Dschaladat Ruhm beschert. Er als Einziger war aus dem Totenreich zurückgekehrt. Aber in furchterregendem Ausmaß war er einsam und ungesellig geworden. In seinem Leben gab es nur noch die Musik. Er lernte viele Instrumente, hörte Tag und Nacht Symphonien und Sonaten auf seinem Rekorder.

In Dschaladats Leben gab es allerlei Besonderheiten. Die merkwürdigste: seine Freundschaft mit dem Jungen Sarhang Qasm. Eines Tages, im Alter von elf, saß Dschaladat vor der Mehlhandlung seines Vaters und lernte ein kurdisches Gedicht auswendig. Er war so tief in die Poesie eingetaucht, dass er die Welt vergaß, das Lärmen des Basars erlosch in seinem Kopf wie eine Kerze. In dieser Stille hörte Dschaladat eine ferne Flöte. Der Junge klappte sein Buch zu, wie schlafwandelnd folgte er der Musik, Straße um Straße, durch Stadtviertel, die er noch nie gesehen hatte. In einer engen Gasse blieb er vor der Ruine eines Hauses stehen. Da spielte jemand, hoch auf einem Dach, nur der Kopf war zu sehen. Ein kleiner blonder Junge, ein wenig jünger als er selbst. Bis zum Aufgang des Mondes stand Dschaladat dort und lauschte mit pochendem Herzen der Musik des Jungen. Am folgenden Tag kam er wieder, nun aber mit seiner Flöte. Sobald der blonde Junge anfing, spielte sich Dschaladat in seine Melodie hinein. Nach einer Weile hielt der blonde Junge inne, lugte aus seinem Versteck und sagte lächelnd: »Freund, schön spielst du Flöte. Mein Name ist Sarhang Qasm. Komm doch rauf, und wir spielen zusammen.«

»Gerne. Mein Name ist Dschaladati Kotr.«

So begann eine Freundschaft, deren Band die Musik war.

Danach wechselte Dschaladat an die Schule, die Sarhang Qasm besuchte. Auf den Schulfesten gab es viel Beifall und Lob für die beiden, auch von Leuten, die wenig Ahnung von Musik hatten. Die beiden konnten sich rein durch ihre Musik verständigen. Auch wenn sie in den Straßen der Stadt unterwegs waren, ja sogar im Regen flöteten sie.

In dieser Zeit starb Dschaladats Vater. Nun zeigte seine Schwägerin Suheyla ihre Krallen und schmiss ihn des Öfteren über Nacht aus dem Haus. Es waren die gefährlichen Nächte, in denen die Sondereinheiten des Regimes patrouillierten und auf alles schossen, was sich bewegte. Dschaladat bummelte dann bis zum Morgen durch die Gassen und spielte Flöte. Manchmal machten ihm die Eltern von Sarhang die Tür auf, und er schlief bei ihm.

Sarhangs Vater war ein glatzköpfiger, kleiner Mann, der im Krankenhaus arbeitete. Seine Mutter war jünger als er und hübsch, sie hatte einen liebevollen Blick. In ihren Augen stand aber auch eine unerklärliche Angst, man wusste nicht, woher sie kam.

In der Schule ging es mit den Jungen bergab. Mit ihren Instrumenten jedoch erlebten sie Einzigartiges. Sie waren verrückt nach Mozart. Mit geschlossenen Augen liefen sie zusammen die Straße hinunter und spielten zum Takt der Schritte seine Melodien. Auch die erfahrensten Musiker bewunderten die beiden.

Dabei sahen sie aus wie Strolche. Abgemagert, in zerfetzten Kleidern liefen sie herum. Die Lehrer hielten Dschaladat für einen hoffnungslosen Fall. Sarhangs Eltern begannen, sich Sorgen um ihren Sohn zu machen. Sie versuchten, die Freundschaft, von der sie glaubten, sie führe ihren Sohn ins Verderben, irgendwie zu beenden. Der einzige Mensch, der den beiden half, war ein dicker alter Lehrer. Er händigte ihnen die Schlüssel für den Musikraum der Schule aus, sodass sie notfalls dort übernachten konnten. Wenn er sie abends mit den Instrumenten allein ließ, sagte er: »Meine Söhne, übt, habt keine Angst, spielt. Um alles andere kümmert euch nicht.«

So spielten sie ganze Nächte durch, hörten Musik, redeten und redeten – wie in Erwartung eines Boten aus einer anderen Welt, der sie in die letzten Geheimnisse der Musik einweihen würde. Doch dann wurde der freundliche, dicke Musiklehrer für seine guten Taten bestraft und in eine abgelegene Kleinstadt versetzt. Man stellte einen dürren Mann mit Wolfsgesicht ein, dessen erste Aufgabe darin bestand, Dschaladat und Sarhang rauszuschmeißen.

Nun hatte Dschaladat keine Bleibe mehr. Nicht immer ließ ihn sein Bruder Dschaudat bei sich zu Hause schlafen. Manche Nacht ging er in die Wälder am Stadtrand, spielte Flöte unter einem der Bäume. Manchmal räumten ihm die Wächter in Gebäuden, die gerade gebaut wurden, einen Schlafplatz ein.

Sarhang musste jeden Abend nach Hause zurück, aber an seiner Freundschaft mit Dschaladat hielt er fest. Die Lage seines Freundes beunruhigte ihn. Oft stahl er für ihn Essen von zu Hause, und dann und wann halfen auch andere Musiker. Ohne dass Dschaladat es mitbekommen hätte, eilte ihm der Ruf eines verrückten Genies voraus.

Bis zu dem Abend, an dem Ishaki Lewzerin auftauchte, war sein Leben ohne Hoffnung. Aber mit Ishaks Auftauchen veränderte sich alles.

Es war einer der seltenen Abende, an denen Dschaladat unbesorgt, die Hände in den Taschen, in den Marktpassagen spazieren ging. Vor einer Parfümerie, an der Dschaladat fast täglich vorbeiging, trat Ishaki Lewzerin auf ihn zu und stellte sich als Musiker vor.

Ishak hatte schon viel von Dschaladat, dem jungen verrückten Genie, gehört. Doch als er Dschaladat zu Gesicht bekam, wirkte er auf Ishak zart und ruhig. Ishaki Lewzerin erzählte, er komme aus den Grenzgebieten und suche zwei Musikschüler, um sie zu unterweisen. Schon in mehreren Städten hatte er gesucht, war jedoch nirgends fündig geworden.

Ishaki Lewzerins Begegnung mit Dschaladat ging in einen langen Spaziergang über, der die ganze Nacht und den Morgen des nächsten Tages in Anspruch nahm. Wie gebannt hing Dschaladat an Ishaks Lippen. Dessen Worte drangen tief, tiefer sogar als die Musik, in ihn ein. Er konnte gar nicht anders, als ihm zu folgen, immer weiter, landaus,...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2017
Übersetzer Peschawa Fatah, Hans-Ulrich Müller-Schwefe
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bordell • Irak • Klassische Musik • Krieg • Kunst • Kurden • Kurdistan • Musik • Prostitution • Saddam Hussein • Wüste
ISBN-10 3-293-30986-0 / 3293309860
ISBN-13 978-3-293-30986-9 / 9783293309869
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