Vierundzwanzig Türen (eBook)

Roman

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31765-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vierundzwanzig Türen -  Klaus Modick
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»Ein Buch, so rätselhaft wie ein Adventskalender« Der Spiegel. Im Haus des Erzählers geht es in der Vorweihnachtszeit turbulent zu. Seine beiden Töchter kommen langsam in das Alter, in dem Weihnachtswünsche teuer werden und Familienrituale an Kraft verlieren. Doch der Adventskalender, den die Mutter von einem alten Mann geschenkt bekommt, fesselt die Aufmerksamkeit der ganzen Familie. Er erzählt auf vierundzwanzig Bildern eine faszinierende Geschichte aus der Nachkriegszeit: Drei Männer stehlen ein Worpsweder Gemälde, um damit den Kauf von Heizmaterial und Lebensmitteln zu finanzieren. Ein Schneesturm zwingt sie zur Einkehr in einem einsamen Gehöft, wo eine junge Frau in den Wehen liegt. Meisterlich kontrastiert Klaus Modick die satte Welt der Gegenwart mit einer ebenso behutsam wie anrührend erzählten Weihnachtsgeschichte, in der es um Liebe, Hoffnung und ein Verbrechen geht.

Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach diversen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nicolas-Born-Preis, dem Bettina-von-Arnim-Preis, dem Rheingau Literatur Preis und zuletzt dem Hannelore-Greve-Preis. Zudem war er Stipendiat der Villa Massimo sowie der Villa Aurora. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen »Der kretische Gast« (2003), »Sunset« (2011), »Konzert ohne Dichter« (2015) und »Keyserlings Geheimnis« (2018).  Zuletzt erschien »Leonard Cohen« (2020) und der Roman »Fahrtwind« (2021).

Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach diversen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nicolas-Born-Preis, dem Bettina-von-Arnim-Preis, dem Rheingau Literatur Preis und zuletzt dem Hannelore-Greve-Preis. Zudem war er Stipendiat der Villa Massimo sowie der Villa Aurora. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen »Der kretische Gast« (2003), »Sunset« (2011), »Konzert ohne Dichter« (2015) und »Keyserlings Geheimnis« (2018).  Zuletzt erschien »Leonard Cohen« (2020) und der Roman »Fahrtwind« (2021).

Die erste Tür


Die merkwürdige Begebenheit jenes Weihnachtsfestes strahlt immer noch als Fixstern am dunkler werdenden Himmel meiner Erinnerung. Wenn ich heute, nach über dreißig Jahren, an den Winter 1946 zurückdenke, kommt es mir vor, als sei ich damals ein anderer gewesen, ein junger Mann, der mir fremder und fremder wird. Und er war sich damals wohl auch selbst fremd, bis zu jenem Ereignis jedenfalls, von dem ich erzählen will, damit es nicht verschwindet wie das Licht in der Nacht.

Ich sehe jetzt wieder die Dämmerung eines eisgrauen, kalten Morgens durchs Fenster ins Zimmer gähnen. In dieser Zeit voller Not und Zweifel schienen sich selbst die Tage nur widerstrebend aus den Nächten zu lösen. Manchmal beneidet der junge Mann jene Tiere, die den Winter verschlafen. In der Dunkelheit der frühen Stunden hat er schon lange wach gelegen, und bevor noch der Blechwecker in seine scheppernden Zuckungen fällt, steht er auf. Am Röhren und Glucksen der Leitung in der Wand kann er hören, daß das Badezimmer in der ersten Etage bereits besetzt ist.

Es ist eigentlich immer besetzt, leben in den acht Zimmern des Hauses doch vierzehn Personen, und das Bad im Erdgeschoß ist wegen eines Leitungsschadens unbrauchbar. Die beiden Flüchtlingsfamilien aus Pommern, zwei Elternpaare und insgesamt fünf Kinder, teilen sich das Erdgeschoß mit dem Wintergarten. In der ersten Etage wohnen im Schlafzimmer seiner Eltern zwei ältere Damen, unverheiratete Schwestern, deren Haus beim letzten Luftangriff des Krieges zerstört worden ist; im Zimmer seines Bruders ist ein anderer junger Mann einquartiert, der an der Universität Jura studiert, und sein eigenes Zimmer belegt ein ehemaliger Leutnant der Wehrmacht, der vor Leningrad ein Bein eingebüßt hat und jetzt das Lehrerseminar in der Stadt besucht. Ihm selbst hat der britische Offizier, der für die Verteilung des Wohnraums zuständig ist, das Mansardenzimmer zugewiesen, in dem früher das Hausmädchen wohnte. Seinen Protest, daß er immerhin der Hauseigentümer sei, hat der Engländer knapp mit der Bemerkung abgetan, er könne froh sein, nicht enteignet zu werden.

Obwohl er weiß, daß die fünf Torfsoden, mit denen er gestern abend das Zimmer auf knapp zehn Grad geheizt hat, längst zu weißer glutloser Asche zerfallen sind, öffnet er die Klappe des eisernen Kanonenofens und stochert in den schaumigen Resten herum. Das Wasser rumort immer noch in der Wand. Er hängt sich die beiden Wolldecken um die Schultern, hockt auf dem Bett und raucht eine der Zigaretten, die Werschmann ihm geschenkt hat. Als Vorschuß … Röchelnd verstummt die Wasserleitung.

Er hastet die Mansardenstiege hinunter und kommt gerade noch rechtzeitig, um einer der ausgebombten Schwestern die Badezimmertür vor der Nase zuziehen zu können. In der feuchtkalten Luft hängt der Gestank von Exkrementen. Er reißt das Fenster auf. Draußen ist es kaum kälter als drinnen, der Himmel mit einer hohen, hellgrauen Wolkenschicht überzogen. Vielleicht wird es Schnee geben. Und dann im Spiegel, der an den Rändern milchig angelaufen ist wie ein Bilderrahmen aus silbrigem Nebel, sein Gesicht. Es mißfällt ihm. Es erschreckt ihn. In jenen Tagen vermeidet er seinen eigenen Anblick, so gut es geht, aber eine Rasur ohne Spiegel ist unmöglich. Die Hagerkeit des Mangels ist häßlich, aber keine Schande. Was ihn erschreckt, ist die stumpfe Gleichgültigkeit. In drei Tagen ist Weihnachten. Heiligabend. Er will nicht an die Weihnachten seiner Kindheit denken, nicht an das Licht und die Wärme, die in diesem Haus geherrscht haben. Das war in einer Zeit, die ihm wie ausradiert erscheint. Er setzt die Klinge an den Hals und zieht eine erste Spur durch den Seifenschaum.

Wo hast du den gekauft, Mama, erkundigte sich Miriam, von ihrem eigenen Spiegelbild offenbar nachhaltig beeindruckt, diesen Kalender oder was immer das sein soll? Der ist ja irnkwie echt irre. Irnkwie geil …

Stacy lächelte. Sie lächelte fast schon geheimnisvoll. Den habe ich gar nicht gekauft, sagte sie. Den habe ich bekommen.

Wieso bekommen? So was bekommt man doch nicht einfach. Oder war das ein Werbegeschenk? Vielleicht steht ja irgendwo Coca-Cola drauf. Oder Parfümerie Douglas oder …

Bestimmt nicht, sagte ich. Das ist ein Einzelstück. Den hat jemand selbst gemalt und zusammengebastelt. Wir haben als Kinder in der Adventszeit auch immer gebastelt. Nicht so tolle Sachen wie diesen Kalender; der ist ja fast schon künstlerisch. Das ist wirklich gut, dieses Aquarell. Sehr gut sogar. Und die Spiegel darauf … seltsamer Effekt.

Ja, und der alte Herr, von dem ich den Kalender bekommen habe, war auch irgendwie so … so seltsam.

Alter Herr? Wovon redest du eigentlich? Manchmal konnte Stacy wirklich etwas … ja: seltsam sein.

Wahrscheinlich der Weihnachtsmann, gluckste Laura. Der läuft ja in mehreren Exemplaren durch die City. Wattebart und rote Zipfelmütze …

Stacy antwortete nicht gleich, sondern stellte den Kalender auf den Kaminsims zurück, rückte den Messingleuchter daneben, der in meinem Elternhaus auf dem Vertiko gestanden hatte, und zündete die weiße Kerze darin an. Ihre Flamme reflektierte zuckend auf der Oberfläche des Kalenders, brach sich in vierundzwanzig Spiegeln, so daß das Bild gar nicht mehr erkennbar war, sondern nur noch das vervielfältigte Flackern. Ich mach uns erst mal einen Tee, sagte sie, und dann erzähl ich euch die Geschichte.

Klingt ja echt spannend, sagte Miriam gedehnt. Der ironische Ton, den sie hatte anschlagen wollen, mißlang – ein ganz klein bißchen spannend fand sie es wohl wirklich. Trotz ihrer gut vierzehndreiviertel.

Stacy goß Tee in die Tassen. Knisternd zersprang der Kandis. Über der goldbraunen Fläche kräuselte sich weißer Dampf zu Mustern des Zufalls.

Gestern, begann sie, bin ich also in der Stadt gewesen. Mit Weihnachtseinkäufen muß man früh anfangen, dann spart man sich den Streß. An einen Adventskalender habe ich übrigens gar nicht gedacht; den hätte ich wahrscheinlich glatt vergessen. Als ich mich auf den Rückweg machte, begann es jedenfalls zu nieseln, und auf den gefrorenen Klinkern des Gehwegs wurde es sofort glatt. Spiegelglatt.

Blitzeis nennt man das, sagte Laura. Hab ich gestern im Fernsehen gesehen. Blitzeis. Massenweise Unfälle und …

So ist es, sagte Stacy. Die Leute auf der Theaterallee sind jedenfalls wie in Zeitlupe gegangen, um nicht zu stürzen, haben Beine und Arme gespreizt, um sich im Gleichgewicht zu halten. Und dann ist doch jemand gestürzt, direkt vor mir. Dieser alte Herr eben. Ist der Länge nach rücklings aufs Pflaster geschlagen. Schirm und Einkaufstüte, die er in den Händen gehalten hat, sind zur Seite gerutscht, und der Hut ist in den Rinnstein gerollt.

Und? Hat er sich was gebrochen, der Weihnachtsmann? fragte Laura.

Nein, zum Glück nicht. Ich habe mich zu ihm hinuntergebeugt und gefragt, ob er sich verletzt habe. Er hat sich kopfschüttelnd aufgerappelt, wobei ich ihn gestützt habe. Er hat sich prüfend über die rechte Schulter getastet, ist ein paarmal unsicher mit den Füßen aufgetreten und hat dann gemurmelt, alles sei in Ordnung. Ich habe ihn gefragt, ob er es noch weit habe? Nein, hat er gesagt, er wohne nur wenige Minuten entfernt in der Uferstraße. Ich habe angeboten, ihn zu begleiten, was er erst abgelehnt hat, aber als ich ihm versichert habe, daß ich sowieso durch die Uferstraße gehen müßte, hat er den Vorschlag angenommen. Ich habe seine Sachen von der Straße aufgesammelt, er hat sich den Hut wieder auf die ziemlich langen grauen Haare gesetzt, die ihm etwas irgendwie Künstlerisches geben …

Lange Haare machen künstlerisch? unterbrach Miriam. Papa, laß dir doch mal die Haare wachsen.

Ich hatte mal Haare bis auf die Schultern, sagte ich, aber …

Wollt ihr nun die Geschichte hören oder nicht? fragte Stacy.

Ja, klar, sagte Miriam.

Also gut. Wir sind langsam weitergegangen, wobei ich ihn am rechten Unterarm gestützt habe. Als wir uns dem Haus genähert haben, hat er einen einigermaßen charmanten Scherz gemacht. Hat nämlich gesagt, die Nachbarn würden mich jetzt vermutlich für seine neue Geliebte halten.

Charmant? murmelte ich. Je oller, je doller.

Quatsch, sagte Stacy. Der ist wirklich charmant. Und hat ein sehr schönes Haus. Ein mannshoher Gitterzaun aus Schmiedeeisen, hinter dem noch eine dichte Buchsbaumhecke steht, schirmt das Gebäude von der Straße ab. Und durch das Zauntor, das mit so Jugendstilornamenten verziert ist, kann man von außen einen Blick auf die tief im Garten stehende Villa werfen – zweistöckig, aus rotem Backstein, Jugendstil, aufgelockert von Erkern und einem Wintergarten, das Dach verwinkelt und an der Frontseite so aufgezogen, daß dort Platz für eine Mansarde sein muß. An der Messingklingel im Tor ist die Hausnummer angebracht, aber kein Name, was den alten Herrn offenbar daran erinnert hat, sich noch nicht vorgestellt zu haben.

Wie charmant, sagte ich.

Blödmann, sagte sie. Vringsen heißt er, Vringsen mit V. Und ich habe ihm dann auch meinen...

Erscheint lt. Verlag 4.10.2018
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Advent • Adventskalender • Familie • Nachkriegszeit • Vorweihnachtszeit • Weihnachten • Weihnachtsbuch • Weihnachtsgeschichte • Weihnachtszeit • Winter
ISBN-10 3-462-31765-2 / 3462317652
ISBN-13 978-3-462-31765-7 / 9783462317657
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