Ein Winter in Istanbul (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
272 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-20141-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Winter in Istanbul -  Angelika Overath
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Goldenes Horn, Bosporus, das alte Byzanz: Angelika Overath erzählt von einer Stadt voller Schönheit und Widersprüche, in der eine unerwartete Liebe möglich wird.

Einen Winter will Cla, Religionslehrer aus dem Engadin, in Istanbul verbringen. Er arbeitet an einer Studie über die Konstantinopel-Mission von Nikolaus von Kues. Doch kaum lernt Cla den jungen türkischen Kellner Baran kennen, taucht er mit ihm ein ihn die Stadt: Sie streifen durch die Gassen und über Märkte, sitzen am Meer und in Cafés, gehen ins Hamam. In ihren Gesprächen prallt die spätmittelalterliche Welt mit ihrer Trennung in Ost- und Westkirche unmittelbar auf das religiös gespaltene Istanbul der Gegenwart. Bei einem geheimen Treffen der Derwische erlebt Cla, wie nah sich christliche Mystik und islamischer Sufismus sein können. Ohne es zu wollen hat er sich in Baran verliebt. Erst als seine Verlobte aus der Schweiz zu Besuch kommt, begreift Cla, wie weit er aus seinem Leben gefallen ist.

Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin und hat die Romane 'Nahe Tage', 'Flughafenfische', 'Sie dreht sich um' und 'Ein Winter in Istanbul' geschrieben. 'Flughafenfische' wurde u.a. für den Deutschen und Schweizer Buchpreis nominiert. Für ihre literarischen Reportagen wurde sie mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Sent, Graubünden.

I. Eminönü

Drei Wasserstraßen und ein Schal

1

Für einen, der aus den Bergen kam, war diese Stadt die Hölle. Er stutzte, als er das dachte, denn er wollte korrekt sein. Eine Vorhölle, korrigierte er sich. Er zögerte und sah hinunter auf die mit weiten Schwingen kreuzenden Möwen. Gut, die schönste aller möglichen Vorhöllen vielleicht. Er faltete seine Serviette zusammen.

In beiläufiger Grazie hatte der Kellner einen türkischen Kaffee auf das weiße Tischtuch gestellt, sich leicht verneigt, und schon war er mit einer Drehung wieder von ihm entfernt und weiter auf anderen Umlaufbahnen durch die Ordnung des gläsernen Speisesaals. Cla sah ihm nach, nicht ohne ihn um die fraglose Sicherheit seiner Haltung zu beneiden. Auch hatte der Mann schöne Hände.

Oder konnte Anmut täuschen?

Cla blickte in die Tulpenmuster-Tasse mit der schwarzen Mitte. Sie hatte etwas Pralinenhaftes. Und dann lag, als sollte die Süße dieser Erscheinung noch gesteigert werden, ein Würfelchen eingedickten Sirups mit Pistazieneinschlüssen daneben, ein rosa-lindgrüner Happen, in Puderzucker gewendet.

Er nahm einen Schluck und steckte sich die Beigabe in den Mund. Es schmeckte bitter und nach der leichten Süße von Rosenwasser. Unter ihm lag die verkehrsreiche Passage zwischen Neuer Moschee und Busbahnhof. Graubunte, wie von irrer Hand aufgefädelte Autostränge, durchzogen vom Gelb der Taxis, liefen über den Asphalt, manchmal schienen einzelne Perlen wegzuspringen, Menschenmuster flossen ineinander, gegeneinander. Schiffe wichen sich aus mit dröhnenden Lauten, die Cla an Kühe erinnerten, an das Aufstöhnen von Stieren. Ihn schwindelte. Er kam aus einem Dorf auf fast 1800 Metern Höhe. Da war jeder ein Besonderer, und man grüßte einander, wenn man sich begegnete. Selbst aus dem Auto heraus.

Er dachte daran, daß er gelogen hatte. Nicht gelogen. Er war nur nicht genau gewesen. Das machte einen Unterschied. Wäre er genau gewesen, säße er nicht hier. Er nahm einen zweiten Schluck Kaffee und sah in die übriggebliebene schlammige Schwärze. (Er könnte den kleinen Matsch auf die Untertasse stürzen und dann, wie er es einmal an einem Nachbartisch beobachtet hatte, aus den verbleibenden Schlieren im Tassenrund seine Zukunft lesen. Wenn er es könnte.) Aber waren die Lügen, die keine Lügen waren, nicht die schlimmsten? Man kam mit ihnen so leicht davon.

Wie groß diese Möwen waren. Raubvogelhaft streckten sie ihre gebogenen Schnäbel nach vorn. Das graumelierte Gefieder ihrer ausgespannten Flügel blieb ruhig. Sie segelten, als verzögerten sie die Zeit. Er sah auf die Rücken ihres Gleitens.

Er saß hier im vierten, fünften oder sechsten Stockwerk eines Restaurants, das durch seine verglaste Fassade die Besucher schon mit Aussicht fütterte. Goldenes Horn, Bosporus und die Ahnung des Marmarameers. Eminönü, die Landspitze, an der drei Wasserstraßen zusammenkommen. Der Beginn von Byzanz. Das Zentrum des alten Konstantinopel.

Er hatte gelogen und nicht gelogen. Wenn er etwas verstehen wollte von Ereignissen, die hier vor knapp 600 Jahren stattgefunden hatten, dann mußte er herkommen! Die alten Steine anfassen. Die Stadt riechen. Hören. Ja, schmecken auch. Nicht alles war lesend zu begreifen. Er wollte noch einmal Augenzeuge werden und in aller Demut die Räume ernst nehmen. Die byzantinischen Kirchen, die Land- und Seemauern, Festungen, Handelshäuser, die aufgegebenen Sufiklöster. Auch die Räume, die sich keiner Menschenhand verdankten, die Hügel, die Wasser, die Himmel über den Wassern. Raum und Zeit lagen im Streit miteinander. Die Zeit galt in der Epoche der Beschleunigung als Siegerin. Aber war vorbei tatsächlich vorbei? Erzählten nicht Meere, Ufer, Wolken, erzählte nicht das Licht am Bosporus über das Vergehen hinweg noch davon, wie es hier einmal war? 600 Jahre sind eine lange Weile. Und ein Wimpernschlag.

Und doch. Er war nicht gekommen, um recherchierend, nacherlebend zu forschen. Zumindest vor sich mußte er das zugeben. Er war pflichtbewußt genug, um hier zu arbeiten, sicher. Schließlich war er Stipendiat der Stiftung einer Schweizer Privatbank, die sich auf den Dialog zwischen den Religionen konzentrierte. Sie ermöglichte ihm einen Winter lang den Aufenthalt in Istanbul, verbunden mit dem Wohnrecht in einem Kolleg in Tarabya. Tarabya war einer der letzten Vororte der Stadt, wenige Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt. Von seinem Zimmer aus sah er direkt auf den Bosporus.

Er war Gymnasiallehrer, Deutsch, Religion und Ethik, an einer internationalen Schule im Engadin; ein solches Stipendium konnte als Fortbildung durchgehen. Man hatte ihn für drei Monate beurlaubt.

Er gab dem Kellner, der mit seiner fast bodenlangen Schürze an einer Säule lehnte und der, wie er, durch die Frontscheiben hinausgesehen hatte und sich nun wieder dem Saal zuwandte, ein Zeichen, er wolle bezahlen.

Und gleichsam schutzlos, hier oben ausgesetzt, in diesem aquariumhaften Raum, spürte er, was für ein unsicherer Stipendiat er war. Und welch vager Geliebter, der alle täuschte.

Der Kellner hatte ihm durch eine nickende Geste geantwortet und war verschwunden, um mit einer Mappe aus Kunst­leder zurückzukommen. Er legte sie auf den Tisch und entfernte sich. Cla griff danach.

Er war hier, weil er am Ende war.

Er sah auf die Rechnung, legte Geld zwischen die zwei Deckel, klappte das Plastikteil wieder zu. Waren gut zehn Prozent Trinkgeld in Ordnung?

Er war hier, weil er am Ende war.

Nein, er wollte nicht übertreiben. Jemand wie er war nie am Ende, weil jemand wie er gelernt hatte, auch am Ende weiterzumachen. Dramen waren nicht sein Stil.

Er war müde und ein Windspiel aus Zweifeln.

Tief unter ihm rückten die Bewegungsfolgen des Nachmittagsverkehrs in ein Fernbild und wurden erträglich. Murmeln aus eines Gottes Hand, nachlässig auf ein Spielfeld geworfen.

Er lehnte sich zurück. Schon vor Jahren hatte er das Rauchen aufgegeben. Aber manchmal kam unerwartet das Verlangen nach einer Zigarette zurück. Als könne das Inhalieren ihn leichter werden lassen. Und mit einem Erschrecken dachte er jetzt an sie, an ihre Haut. Auf einmal war sie ihm nah. Näher als oft, wenn er ihren dünnen Körper im Arm hielt. Und so brachte ihn die Erinnerung an ihren Geruch zu der Lüge, die keine war. Nur ein Zögern, ein Zaudern, ein Ausweichen.

Und die deshalb doch eine war.

Hier oben über den raubvogelhaften Möwen dachte er leichter an sie. Er dachte sie licht. Hell. Als ein verwaschenes Blau. Gestreiftes Leinen. Ein häusliches Blau. Nicht dieses radikale Blau des Engadiner Himmels, ein bisweilen fast aggressiver Azur, vor dem man nur in die Knie gehen konnte. Kapitulierend in seinem kleinen Menschsein. Sie war mild, klar. Ein heimatliches Aquamarin auch. Die Farbe des Gletscherflusses seines Tals, manchmal. Oder das Blau der winzigen Schmetterlinge im Schwarm an seinen Sommerufern. Oder ein Flachsblau, wehend. Er sah sie in ihrer taubenblauen Strickjacke mit den Perlmuttknöpfen, er sah ihren schmalen Hals, der ihrem weißen Blusenkragen entstieg, ihren Nacken, den seine Hand besser kannte als sein Blick. Ihre dunklen Augen, die größer wurden, wenn sie lächelte, ihn anlächelte, ein Schmelzen, ein leichtes Verschwimmen im Schauen, den Kopf zurückgelegt, das braune Haar nach hinten gebunden. Er liebte sie. Falls er lieben konnte. Sagte er sich jetzt.

Alva und er waren ein schönes Paar, das fanden alle. Und er wußte es auch. Und sie tat, als wisse sie es nicht. Blieb scheu. Und dabei doch selbstsicher. Das Wort »tierhaft« fiel ihm ein. Und er präzisierte: ein Tier, das an eine Lichtung kommt.

Sie wurde jetzt 35, eine mädchenhafte Frau, Sport- und Romanischlehrerin an der Kantonsschule in Chur. Ein Kollege, der neu an die Schule kam, hatte sie letzthin für eine Maturandin gehalten. Das hatte sie ihm mit einem Hauch von Spott erzählt und dabei eine Haarsträhne hinter ihr blasses Ohr gestrichen. Nun gut, er rückte die Tasse von sich weg, ihm sah man seine 45 Jahre auch nicht an. Er stand auf.

Sie würde ihn besuchen.

Der Kellner war noch nicht wieder aufgetaucht. Und Cla bemerkte, daß er einer der letzten Gäste war. Drei Tische von ihm entfernt saß ein dicklicher Herr, der, ein Glas Raki vor sich, Russisch auf einen blondierten Teenager in zu engem T-Shirt und mit bürstenfalschen Wimpern einredete. Am Tisch neben ihm tuschelten zwei junge Frauen. Eine, die dunklen Augen in Kajal gebettet, trug ein schwarzes Kopftuch, die andere hatte ihre rötlichen Haare zu kurzen Zöpfen gebunden, die schräg abstanden. Jetzt lehnten die beiden, über den Tisch hinweg, ihre Wangen gegeneinander und konzentrierten ihr Lächeln auf das Rechteck eines Handys, das die Frau mit dem Kopftuch armlang von sich streckte. Sie machten Photos. Jedes Klicken schien ein neues Auflachen auszulösen.

Auf einmal hätte er gerne einen weiteren Geldschein in das Couvert gelegt. Für einen Schweizer waren die Preise in Istanbul niedrig, selbst in diesem wohl eher teuren Restaurant. Aber er schämte sich. Er wollte nicht wirken wie einer, der unsicher war. Und so nahm er seine Tasche, rückte seinen Stuhl an den Tisch und ging, den jungen Türkinnen höflich zunickend, aufrecht durch die weiß eingedeckten Reihen mit den Gläsern, die auf dem Kopf standen, langsam aus dem Saal hinaus.

2

Er nahm nicht den Aufzug, sondern stieg das Treppenhaus hinunter, um den kommenden Schock abzuschwächen. Stufenweise tauchte er ein in die Energien der Metropole. Über dem Grundlärm der beschleunigenden und abbremsenden Autos, ihrem aufkreischenden Hupen und dem dunkleren Stöhnen...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alle Farben des Schnees • Bosporus • Christliche Mystik • Derwisch • Dialog der Religionen • eBooks • Goldenes Horn • Islam • Nikolaus von Kues • Roman • Romane • Sufismus
ISBN-10 3-641-20141-1 / 3641201411
ISBN-13 978-3-641-20141-8 / 9783641201418
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