Das Jahr der Katze (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
352 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-16362-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Jahr der Katze -  Christoph Peters
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Ein ungewöhnlicher Thriller in der Tradition eines Cormac McCarthy oder Quentin Tarantino und das faszinierende Panorama einer bizarren japanischen Unterwelt, die noch immer die Traditionen der Samurai-Zeit beschwört, auch wenn ihre goldene Zeit längst der Vergangenheit angehört.

Früher verstand sie sich als eine ehrenwerte Gesellschaft. Heute ist japanische Yakuza zunehmend eine Organisation gewöhnlicher Krimineller, verwickelt in Drogenhandel und schmutzige Immobiliendeals. Staat und Polizei haben die jahrhundertelange Toleranz und Koexistenz aufgekündigt und der Yakuza den Kampf angesagt. Da kommt es äußerst ungelegen, dass Fumio Onishi bei einer Aktion im Auftrag der Yakuza in Berlin eigenmächtig übers Ziel hinausgeschossen ist. Auf der Flucht vor den deutschen Behörden hat Onishi sich zwar mit seiner deutschen Freundin Nikola nach Tokio absetzen können. Doch hier erwartet der Yakuza-Boss Takeda ein unmissverständliches Opfer von ihm...

Hat Christoph Peters in seinen Romanen 'Mitsukos Restaurant' und 'Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln' die helle, ebenso faszinierende wie manchmal skurrile Seite der Kultur Japans beleuchtet, taucht er nach 'Der Arm des Kraken' auch in seinem zweiten Roman um Fumio Onishi ein in die Abgründe des Reichs der aufgehenden Sonne - in einen zutiefst widersprüchlichen Kosmos voll rätselhafter Traditionen zwischen höchster Eleganz und Kultiviertheit einerseits und blinder Grausamkeit und fragwürdigen Atavismen andererseits, in eine Unterwelt, die ebenso geprägt ist von dem alten Ethos der Samurai wie von irritierenden Werten, fremdartigen Ritualen und verstörender Gewalt.

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand 'Tage in Tokio' (2021) und 'Der Sandkasten' (2022).

1.

»Wenn du willst, bist du um halb zwölf an der Tankstelle Spanische Allee.«

Nachdem der Satz zusammen mit Onishis Nummer auf dem Display ihres Telefons erschienen war, hatte Nikola den Fernseher ausgeschaltet und war in die Küche gegangen, lediglich aus dem Bedürfnis, sich zu bewegen, nicht, um dort etwas Bestimmtes zu tun. Unmittelbar zuvor war in einer grellen Computeranimation die Magmablase unter dem Yellowstone-Nationalpark explodiert. Aschewolken und eine monatelange Sonnenfinsternis hatten die gegenwärtige Welt in den Untergang gestürzt. Im Nachrichtenticker war gemeldet worden, dass die Berliner Polizei Waffen und Sprengstoff bei einer rechtsextremen Splittergruppe gefunden hatte und einen Zusammenhang mit der aktuellen Mordserie an vietnamesischen Geschäftsleuten im Osten der Stadt vermutete.

In Nikola hatten sich gegenläufige Empfindungen überlagert: Aufregung, die an Glück grenzte; Schmerz über verschiedene Abschiede; Staunen. Beim Gedanken an Yukis Tod waren ihr Tränen in die Augen gestiegen, denen sie jedoch keine Beachtung geschenkt hatte.

Im ersten Moment war sie sicher gewesen, Onishi würde sie irgendwohin mitnehmen, im nächsten dachte sie, dass er sie ebenso gut erstechen, erschießen, aus dem fahrenden Wagen stoßen konnte, weil sie zu viel wusste oder weil er ihr Verhalten ihm gegenüber nicht respektvoll genug fand.

Sie zog das Messer mit der langen, schmalen Klinge aus dem Block, das Yuki, bevor er ermordet wurde, manchmal benutzt hatte, um ihr Bewegungsabläufe für die Selbstverteidigung zu zeigen, bildete sich aber nicht ein, dass sie damit gegen Onishi eine Chance hätte. Trotzdem spürte sie keine Angst.

Seit Onishi in der Frühe weggegangen war, hatte sie allein in ihrer Wohnung gehockt und darauf gewartet, dass es dunkel wurde. Die Welt, in der sie die vergangenen vierundzwanzig Monate zugebracht hatte, existierte nicht mehr, eine andere, in die sie hätte zurückkehren können, gab es nicht. Sie hatte keine beste Freundin, und ehe sie wieder zu ihrer Mutter nach Boppard zog, ließ sie sich lieber von einem Japaner abknallen, der zumindest darauf achten würde, dass es nicht wehtat.

Sie holte die lederne Reisetasche aus dem Schrank, die Yuki ihr geschenkt hatte, als sie zum ersten Mal zusammen nach Essaouira geflogen waren, warf das Messer hinein, überlegte, was sie sonst mitnehmen sollte: MacBook, Unterwäsche, Rei in der Tube, falls es länger dauerte, bis sie irgendwo Wäscheservice oder eine Waschmaschine hatten; T-Shirts, Shorts, Socken, Jeans, zwei Trainingshosen, einen Hoody; das schwarze Trikotkleid, wenn sie ausgingen; Tampons. Im Grunde spielte es keine Rolle, ob sie etwas vergaß. Mittlerweile konnte man fast überall rund um die Uhr alles kaufen, und auf ihrem Konto lag eine Menge Geld, von dessen Existenz niemand wusste. Streng genommen gehörte es ihr nicht, doch das ließ sich schwer nachweisen. Ohne ihre Unterstützung hätte Yuki in diesen zwei Jahren mehr oder weniger nichts zustande gebracht: In technischer und organisatorischer Hinsicht war er eine Null gewesen. Sie sah das Geld als eine Art Gehalt, das er für ihre Mitarbeit gezahlt hatte, auch wenn Teile davon erst noch hätten investiert werden sollen, in Haifischflossen oder was auch immer. Dann hätte sie ihren Anteil in einem oder zwei Monaten erhalten, jetzt war es eben dieses Geld. Es stand ihr zu. Sobald sie wieder eine halbwegs feste Bleibe hätten, musste sie versuchen, es auf ein neues Konto zu transferieren, und das alte auflösen, möglichst ohne dass Onishi es merkte, denn irgendwann würden sogar die Deppen von der Berliner Polizei auf ihren Namen stoßen, und ob sie dann noch Zugriff darauf hätte, war fraglich.

Sie packte ein Paar Ersatzturnschuhe ein, zog den Reißverschluss zu, warf die Tasche über die Schulter und trat aus der Wohnung in der Gewissheit, nie wieder zurückzukehren. Im Treppenhaus dachte sie, dass sie weder wusste, was Onishi vorhatte, ehe er sie abholte, noch konnte sie sicher sein, dass er es überlebte. Für einen Moment spürte sie die Demütigung, falls sie spät in der Nacht vielleicht doch wieder allein vor ihrer Tür stünde. Dann fiel ihr Manji ein, der nicht sterben konnte wegen der Kessenchu-Würmer, die in ihm lebten und alle Wunden heilten, und sie entschied, sich keine weiteren Gedanken zu machen.

Am Automaten der Sparkasse hob sie tausend Euro von ihrem Konto ab, zog bei der Volksbank noch einmal ebenso viel mit der Kreditkarte. Danach stieg sie in die S-Bahn und fuhr zum Nikolassee, ging zur Tankstelle, setzte sich auf die Bordsteinkante und wartete, abwechselnd aufgeregt wie mit siebzehn vor ihrer Interrail-Tour und so mutlos, dass sie nicht einmal in der Lage gewesen wäre, das ganze Unternehmen abzublasen. Ein Spruch von Onishis dubiosem Meister Harada, der die Leute der Nekodoshi-gumi in Karate und Schwertkampf trainierte, drehte sich in ihrem Kopf: »Die Art, wie du wartest, entscheidet über den Ausgang des Kampfes.«

Wenn das stimmte, hatte sie schon verloren.

Um zwanzig vor zwölf bog ein großer dunkelblauer BMW auf den Platz vor den Zapfsäulen. Das kühle Laternenlicht ließ Onishis Haut bleicher erscheinen, als sie tatsächlich war. Er stieß die Beifahrertür auf, sagte »Steig ein«, und fuhr ohne zu tanken zurück auf die Autobahn.

Seitdem waren acht Tage vergangen. –

Nikola stand auf dem schmalen Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Der Regen prasselte herunter wie in einem japanischen Film. Allerdings erinnerte ihre Aussicht über die nächtlichen Dächer eher an eine amerikanische Vorstadt als an Tokio. Die Wohnung befand sich im fünften Stock eines achtstöckigen Hauses, das weder besonders neu noch besonders alt war. Seit dem Morgen hatte sie fast eine komplette Packung Marlboro light geraucht. Normalerweise kam sie damit eine Woche aus. Der Wind wehte so schwach, dass kaum ein Tropfen sie traf. Gern hätte sie sich nass regnen lassen, um überhaupt etwas zu spüren.

Seit dreieinhalb Tagen hockte sie in diesen beiden Zimmern, die Friedemann Weinzierl, einem deutschen Freund Onishis, und dessen japanischer Frau Masumi gehörten. Friedemann arbeitete freiberuflich als Jurist und Journalist, Masumi war Kunsthistorikerin und betreute seit Kurzem das Kulturprogramm für die ausländischen Unternehmensgäste bei Honda. Offenbar hatte Onishi sie überredet, auf seine Kosten spontan Urlaub in den Bergen zu machen.

Nikola konnte nicht überprüfen, ob die Geschichte stimmte, aber es sprach einiges dafür: Neben dem Fernseher lag ein Stapel deutscher DVDs, im Regal standen deutsche Bücher: »Stiller«, »Frau Jenny Treibel«, »Der Richter und sein Henker«, alles ältere Taschenbuchausgaben, außerdem juristische Fachliteratur und mehrere Bildbände.

Onishi hatte ihr gesagt, sie dürfe auf keinen Fall ohne ihn vor die Tür gehen, es sei sehr gefährlich, auch wenn im Augenblick außer Friedemann und Masumi niemand wisse, dass er sie hier untergebracht habe. Er müsse ein paar Dinge klären. Welche genau, hatte er nicht gesagt, doch sein Ton war düster gewesen – sie hatte gar nicht erst versucht, mit ihm zu diskutieren.

Immerhin hatte er ihr ein japanisches Telefon dagelassen, auf das er in unregelmäßigen Abständen Textnachrichten schickte: »Tut mir leid, ich habe den, den ich sprechen muss, nicht angetroffen«; »Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange«; »Harada Sensei hat gesagt, dass er es sich überlegt.«

Gerne hätte sie ab und zu einen Satz gelesen, in dem das Wort »Liebe« oder etwas in der Art vorkam, doch das war wohl zu viel verlangt von einem Japaner, der normalerweise Nutten als Freundinnen hatte.

Sie war froh, dass sie hier wenigstens ein Telefon benutzen durfte. In Berlin hatte Onishi ihr, drei Tage nachdem er zum ersten Mal in ihrer Wohnung aufgetaucht war, verboten, bei ihm anzurufen, und in Amsterdam hatte er darauf bestanden, dass sie ihr iPhone in eine Gracht warf, nachts von einer kleinen Brücke, als weit und breit kein Mensch zu sehen war, SIM-Karte und Gehäuse getrennt.

Im Rahmen seiner Möglichkeiten bemühte er sich, ihr das Gefühl zu geben, nicht vollkommen verlassen in einer fremden Riesenstadt zu sein. Neben den Nachrichten zum Stand der Dinge kam zwei Mal täglich eine SMS: »Ich habe dir Essen bestellt«. Wenig später klingelte ein Mann, der ihr nicht ins Gesicht sah und unter eckigen Verbeugungen eine Bentō-Box überreichte. Das Essen schmeckte fast immer gut, auch wenn sie oft nicht wusste, was sie eigentlich aß.

Sie schaute auf die Uhr – es war Viertel nach zehn –, drückte die Kippe in den Aschenbecher auf dem Klapptisch, konnte sich aber nicht dazu durchringen, in die Wohnung zurückzukehren. Im ununterbrochenen Surren der Klimaanlage wurde die Leere laut. Sie beugte sich über das Geländer, sah unten auf der Straße Autos und Fußgänger, ab und zu ein Fahrrad, von allem deutlich weniger, als sie es sich vorgestellt hatte.

Jahrelang hatte sie davon geträumt, nach Japan zu reisen, wegen der alten Tempel, vor allem aber wegen des pulsierenden Lebens in Tokio: gewaltige Lichtexplosionen, wohin man auch schaute, die ganze Stadt ein einziger wummernder Rhythmus, dem sie sich übergeben – in dem sie sich aufgelöst hätte. Sie wollte sich tätowieren lassen und endlich lernen, wie man ein Katana zieht. Jetzt war sie hier, und es passierte nichts. Offenbar gab es in Tokio Bezirke, die langweiliger waren als die Fußgängerzone von Koblenz.

Sie dachte an ihre Mutter, der sie noch immer keine Nachricht geschickt hatte. Vermutlich war inzwischen die Polizei bei ihr aufgetaucht und hatte behauptet, ihre Tochter Nikola sei in eine Reihe von...

Erscheint lt. Verlag 3.9.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Der Arm des Kraken • eBooks • Fumio Onishi • Japan • Korruption • Mafia • Roman • Romane • Samurai • Thriller • Weihnachtsgeschenke für Männer • Yakuza
ISBN-10 3-641-16362-5 / 3641163625
ISBN-13 978-3-641-16362-4 / 9783641163624
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