Ein anderer Morgen (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
240 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43353-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein anderer Morgen -  Carolin Hagebölling
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»Der beste Weg ist immer der eigene.« In letzter Zeit ist Eva Heinrich ein richtiges Biest: Sie raunzt die hilfsbereite Arbeitskollegin an und setzt den Hamster ihrer Kinder aus, sucht im Netz nach einem One-Night-Stand und kippt ihrem Mann Abführmittel ins Bier. Dabei führt sie seit 15 Jahren eine gute Ehe mit Peter, ist Mutter zweier toller Kinder, hat einen riesigen Freundeskreis und ist gerade Abteilungsleiterin geworden. Warum kann sie nicht einfach glücklich sein? Eine unerwartete Wendung nimmt ihr Leben, als sie in der Silvesternacht Anna, die Freundin ihres Chefs, kennen- und lieben lernt.

Carolin Hagebölling lebt seit 2010 als freiberufliche Texterin, Konzeptionerin und Redakteurin in München und Düsseldorf. Sie liebt die Berge, das Reisen, das Schreiben und den Blick über den eigenen Horizont.

Carolin Hagebölling lebt seit 2010 als freiberufliche Texterin, Konzeptionerin und Redakteurin in München und Düsseldorf. Sie liebt die Berge, das Reisen, das Schreiben und den Blick über den eigenen Horizont.

Erster Teil DU


Kapitel 1


»Alles in Ordnung, Schatz?« Wie wattiert dringen seine Worte zu dir durch. »Was gibt es denn da so Spannendes?« Du stehst vor dem geöffneten Kleiderschrank, hast den Knauf noch in der Hand und starrst hinein. Seit fünf Minuten? Seit zehn? Was wolltest du hier eigentlich? Du zwinkerst und räusperst dich. Dann schlägst du die Tür entschlossen zu, drehst dich um und sagst, ohne eine Miene zu verziehen: »Ich habe überlegt, wo ich deine Leichenteile am besten verstecke, nachdem ich dich in Stücke gehackt habe.« Er lacht, denn er liebt deinen Humor. Und erwidert: »Vielleicht solltest du mich durch den Häcksler jagen und im Garten verteilen. Dann freuen sich die Erdbeeren.«

Ihr habt euch während des Studiums in München kennengelernt. BWL. Er fünftes, du drittes Semester. Er ist danach zu einem großen Konzern gegangen, du erst mal ins Ausland. Ihr seid trotzdem ein Paar geblieben. Dann irgendwann zusammengezogen, Kinder gezeugt, ein Haus gekauft. Eine Haushälfte, um genau zu sein. Im Grünen, in guter Nachbarschaft und in der Hoffnung, schnell von der Hypothek runterzukommen. Peter, dein Mann, hat sich eine Auszeit genommen, als die Kinder kamen. Für jedes zwei Monate, immerhin. Dir wurde ein Platz in der Firma freigehalten. Jetzt seid ihr Anfang vierzig, Laura geht aufs Gymnasium, Jonas muss die dritte Klasse wiederholen. Dafür hat er einen imaginären Freund und sortiert das Alphabet nach Farben. Du findest das großartig, Peter suspekt. Das Leben könnte kaum normaler sein.

Laura kommt die Treppe hochgestürmt. »Papa, Papa!«, brüllt sie durchs Treppenhaus. Laura ist ein Papa-Kind und ein sehr agiles dazu. Mit aufgerissenen Augen und hochrotem Gesicht stürmt sie ins Schlafzimmer, wo Peter und du immer noch vor dem Schrank stehen. Du kannst ihr gerade noch einen flüchtigen Kuss auf den Mund drücken, bevor sie ihm in die Arme springt. »Wisst ihr waaas«, ruft sie überdreht und zieht das A dabei genüsslich in die Länge. »Neeeein«, antwortet ihr wie auf Knopfdruck. »Ich bin zur Klassensprecherin gewählt worden!«, sagt sie triumphierend und schaut euch erwartungsvoll an. »Toll, mein Schatz«, sagt Peter auch gleich und drückt ihr einen dicken Schmatzer auf die Stirn. »Wir sind stolz auf dich«, stimmst du lobend mit ein und streichelst ihr über den Kopf.

»Und wie hast du das angestellt?«, fragt Peter mit gespieltem Ernst. »Hast du Emil Prügel angedroht, wenn er sich aufstellen lässt?« Emil ist Wiederholungstäter und Klassenrowdy. Ein pubertärer Frühstarter und intellektueller Nachzügler, der kaum weiß, wohin mit seinen Riesenpranken und verbalen Entgleisungen. Der perfekte Gegenspieler für ein kleines, dünnes Mädchen, das seine fehlende physische Substanz mit einem lauten Organ und einem glasklaren Verstand kompensiert. Schon in der ersten Woche des neuen Schuljahres sind die beiden aneinandergeraten. Seitdem ist kaum ein Tag vergangen, an dem Laura nicht lauthals schimpfend nach Hause gekommen ist. Jetzt wirft sie den Kopf in den Nacken und gluckst vergnügt: »Quatsch! Wer will schon einen Idioten als Klassensprecher. Das haben die anderen jetzt auch endlich kapiert.« Dann springt sie Peter vom Arm und ruft: »Was gibt’s zum Essen?« Ohne die Antwort abzuwarten, poltert sie die Treppe hinunter. Dich beschleicht das Gefühl, dass es ein hartes Schuljahr für Emil wird.

Es gibt Spaghetti Carbonara, heute musste es schnell gehen. Zum Glück ist es leicht, Kinder kulinarisch zufriedenzustellen. Was man sich ins Gesicht kleben kann und Spritzer auf der Tischdecke verursacht, ist immer lecker. Peter und Laura sitzen schon am Tisch, jetzt fehlt noch Jonas. Du rufst nach ihm. Einmal, zweimal. »Wahrscheinlich spielt er wieder mit seinem Freund«, kommentiert Laura deine Bemühungen spöttisch. Du seufzt und läufst die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Du klopfst an und öffnest ganz vorsichtig die Tür. Manchmal kommt es vor, dass Jonas platt auf dem Bauch liegt und durch den Spalt zwischen Tür und Boden starrt. Er mag den Luftzug da unten, hat er dir mal verraten.

Jetzt sitzt er tief versunken auf dem Spielteppich vor ein paar Streichhölzern, die er in undefinierbaren Mustern neben- und übereinandergelegt hat. »Du wirst doch wohl kein Feuer machen«, sagst du sanft und streichelst ihm über den Kopf. Gedankenverloren schaut er auf und sagt: »Nein.« Das ist nach Jonas’ Maßstäben eine vollkommen ausreichende Erklärung. Du nickst und sagst: »Okay, dann mach später damit weiter. Jetzt gibt’s erst mal Essen.« Jonas steht auf und folgt dir wortlos auf dem Weg nach unten.

Er redet nicht viel, das war schon immer so. Selbst als Baby hat er weniger geschrien als alle anderen Säuglinge. Und viel weniger als Laura. Wenn dich die Leute auf seine Schweigsamkeit ansprechen, sagst du: »Er konzentriert sich auf das Wesentliche.« Was in Jonas’ Augen wesentlich ist, bleibt dem unbeteiligten Beobachter allerdings in der Regel verborgen. Manchmal verbringt er voller Hingabe einen ganzen Nachmittag damit, die Kästchen aus seinem Rechenheft auszuschneiden.

Eine Nachbarin hat dich mal gefragt, ob Jonas Autist ist. Wahrscheinlich hat sie ein Synonym für »verrückt« gesucht. Ein junger, eifriger Vertretungslehrer hingegen vertritt felsenfest die These, Jonas sei hochbegabt und an einer normalen Schule heillos unterfordert. Ihr habt ihn testen lassen und wart mit ihm beim Arzt und Kinderpsychologen. Der hat ihn zu seinem imaginären Freund befragt und allerlei Bilder malen lassen. Irgendwann hast du gesagt, jetzt reicht’s. Denn Jonas ist weder verrückt noch hochbegabt. Jonas ist einfach Jonas.

Dann sitzt ihr am Tisch, alle vier gemeinsam. Peter ist extra aus dem Büro gekommen, um mit euch Mittag zu essen. Das versucht er immer an den Tagen einzurichten, an denen Laura schon mittags aus der Schule kommt. Du arbeitest halbtags und findest das auch ganz gut so. Was ist schon eine Karriere im Vergleich zu glücklichen und ausgeglichenen Kindern? Als Laura und Jonas beide im Kindergarten waren, hast du mal eine Zeit lang versucht, wieder ganztags zu arbeiten. Am Ende der Geschichte warst du restlos ausgepowert und die Familie in einer mittelschweren Krise. Also war die Entscheidung nur gut und richtig. Die Frage, ob Peter beruflich kürzertritt, hat sich nie gestellt. Bei seinem Gehalt und seinen Aufstiegschancen käme das wohl einem finanziellen Super-GAU gleich. München ist teuer. Und der gewisse Komfort, den man sich gönnt, will schließlich bezahlt werden.

Du beobachtest deinen Mann, wie er dasitzt, mit den Kindern scherzt und zufrieden auf seinen Nudeln herumkaut. Und plötzlich hast du das Bedürfnis, ihm wehzutun. Einfach so. Weil er dasitzt, Scherze macht und Nudeln isst. So verdammt zufrieden. »Schatz, was wird jetzt eigentlich aus Smart Sense?«, fragst du ganz arglos. Obwohl du die Antwort eigentlich schon kennst. »Smart Sense« war ein Prestige-Projekt und eine Idee von Peter, an der sein Team und er monatelang getüftelt haben. Hochgradig innovativ, aber nicht ohne unternehmerisches Risiko. Ein Projekt, das ihn aller Wahrscheinlichkeit nach in die Sessel der Geschäftsleitung katapultiert hätte, wäre es ein Erfolg geworden.

Das wusste allerdings Stefan, sein ehemaliger Vertrauter und nun ärgster Konkurrent, zu verhindern. Ohne dass Peter davon wusste, hatte er das Projekt vor der Konzernleitung systematisch schlechtgeredet, was dazu führte, dass das Projekt als »brillant, aber zu riskant« abgelehnt wurde. Für Peter, den musterkollegialen Senkrechtstarter, nicht nur ein herber beruflicher Rückschlag, sondern auch eine große persönliche Enttäuschung.

Die bis gerade eben noch so entspannten Gesichtszüge deines Mannes verkrampfen sich. Er schluckt schwer und räuspert sich. Um dann mit betont gleichgültiger Stimme zu beteuern, die Sache sei vom Tisch, für ihn sowieso schon seit Langem. Außerdem hätte er Besseres zu tun, als sich mit den Ideen von gestern zu beschäftigen. Das nächste großartige Projekt sei bereits in der Pipeline. »Um dann mit einem Ultradüsenantrieb durch die Decke zu starten«, sagt er zu den Kindern gewandt und ahmt die Geräusche einer Rakete nach. Ein mäßiger Witz, aber Laura und Jonas lachen. So schnell, wie Peter die Fassung verloren hat, hat er sie auch schon wiedergewonnen. Jetzt wäre es eigentlich an dir, ein Blümchenpflaster über die Wunde zu kleben. Stattdessen kannst du es nicht lassen, den Finger noch ein bisschen tiefer hineinzubohren:

»Hatte das eigentlich für Stefan irgendwelche Konsequenzen?« Ja, hatte es, und das weißt du auch. Kurz danach bekam sein Projekt den Zuschlag. Womit er zwar noch lange nicht an Peter vorbeigezogen ist, sich aber immerhin einen gewissen Vorsprung verschafft hat. Peter legt das Besteck zur Seite und schaut dich fragend an. Schließlich sagt er müde: »Eva, du weißt doch, dass ich nicht gern darüber spreche. Lass uns über schöne Dinge reden.« Die Kinder verstummen und schauen auf ihre Teller. Einen Moment lang herrscht Schweigen am Tisch. Du schämst dich. Und spürst gleichzeitig eine kleine, hässliche Genugtuung in dir aufsteigen.

Wann hat das eigentlich angefangen, fragst du dich, nachdem Peter wieder ins Büro gefahren ist und die Kinder den Dingen nachgehen, denen Kinder halt so nachgehen. Hoffentlich Hausaufgaben. Es muss irgendwie mit dem Anruf deiner Mutter zusammenhängen, der vor ein paar Tagen kam. »Dein Patenonkel Georg liegt im Krankenhaus, es sieht nicht gut aus«, hat sie mit leiser Stimme gesagt. Georg, dein Patenonkel oder auch Ersatzvater. Der mit dir Eis essen ging, wenn dein richtiger Papa wieder irgendein Geschäftsessen hatte. Der applaudierend vom Stuhl aufgesprungen ist, als du in der Schulaula mit zittrigen Knien ein...

Erscheint lt. Verlag 29.3.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Coming-out • Emotionen • Erotik • Frauenliebe • Frauenroman • Liebesgeschichte • München • outen • Selbstentfremdung • Selbstfindung • Silvester • Venedig
ISBN-10 3-423-43353-1 / 3423433531
ISBN-13 978-3-423-43353-2 / 9783423433532
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