Remix (eBook)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31899-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Remix -  Benjamin von Stuckrad-Barre
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Alltag, Rausch, Fernsehen, Pop, Liebe & das Gegenteil, Produkte & Personen, Welt sind die Themen, denen sich Benjamin von Stuckrad-Barre in Reportagen, Porträts, Kurzgeschichten, Pamphleten, Glossen, Kleinanzeigen und Lexikoneinträgen annimmt - mal streng unsachlich, mal nüchtern, hier liebevoll, dort vorlaut. Manche Artikel sind zuerst in Magazinen und Zeitungen erschienen, doch »Remix« heißt natürlich: Texte nicht nur zweitverwertet, sondern überarbeitet (Single-edits, Maxi-Versionen), nachgebessert (Sound! Rhythmus! Refrains!), geschliffen, veredelt. »Remix« ist eine kompakte Best-of-Sammlung, die jedoch allenfalls eine Zwischenbilanz darstellt. Seine Fortsetzung findet das Werk in »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2« (2004) und 'Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal hinlegen - Remix 3' (2018).»Für Journalistenschüler und ihre Lehrer lässt sich jedenfalls kein schöneres Geschenk denken als ?Remix?, eine Sammlung der glanzvollsten Artikel Stuckrad-Barres.« taz

Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen - Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.

Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von »Soloalbum«, 1998, »Livealbum«, 1999, »Remix«, 1999, »Blackbox«, 2000, »Transkript«, 2001, »Deutsches Theater«, 2001, »Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft – Remix 2«, 2004, »Was.Wir.Wissen«, 2005, »Auch Deutsche unter den Opfern«, 2010, »Panikherz«, 2016, »Nüchtern am Weltnichtrauchertag«, 2016, »Udo Fröhliche«, 2016, »Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal hinlegen – Remix 3«, 2018 und »Alle sind so ernst geworden« (mit Martin Suter), 2020.

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Silvester


Bis vor drei Sekunden war ich extrem glücklich. Es war nicht bloß ein schönes Fest gestern abend, gestern nacht, ja sogar heute morgen noch, nein, es war viel mehr: endlich mal ein würdiger Silvesterabend mit netten Menschen, nicht zu fonduesaturiert, aber auch nicht allzu unübersichtlich. Die Hoffnung auf ein angenehmes Silvester hatte ich bislang immer als in etwa so aussichtsreich erlebt wie VIVA zu gucken und auf ein Lieblingslied zu warten. Das Warten selbst ist die Hölle, und wenn es dann kommt, das Lied, das Fest, ist man gerade auf dem Klo oder schon so blöd gelaunt, daß es eh nichts mehr nützt. Oder es wird von Werbung zerfetzt, das Lied – bzw. von frühmorgendlichen Beziehungsrochaden überschattet, das Silvesterfest.

Wir haben hier in dieser Badewannenfabrik gefeiert, und obwohl im Vorfeld jeder von uns diese gutklingende Aussicht mit Vorfreude und Illusionsballast zugeschaufelt hatte, war es keineswegs eine Enttäuschung. Zunächst sowieso erst mal die Freude darüber, daß ÜBERHAUPT etwas griffbereit war, und das so früh schon. Die letzten Jahre waren diesbezüglich gen Ende immer gleich verlaufen:

– Was machst’n du dieses Jahr an Silvester (an Silvester, wie das auch immer schon klingt, so wie »in Mode machen«, womit ja keineswegs, kleiner Scherz, und Achtung: Inkontinenz gemeint ist. Alle lachen, vielen Dank, danke)?

– Ach ja, Silvester, keine Ahnung. Wißt ihr was?

– Also dieses Jahr ist mir echt alles egal, muß nichts Großes sein, Hauptsache, wir müssen nicht wieder mittags am 31.12. wild durch die Gegend telefonieren, uns überall dazuladen und von den meisten den Satz »Wir haben auch noch nichts« anhören.

– Das kommt wirklich nicht in Frage diesmal. Horror. Dann von einer Feier zur nächsten, nirgends richtig sein, weil es ja noch irgendwo besser sein könnte, und um Punkt zwölf sitzt man ganz bestimmt gerade im Taxi, von einem schlechten Fest zu einem noch schlechteren nächsten.

– Jaja. Und dann die große Depression.

– Eigentlich bedeutet mir Silvester gar nichts.

– Mir doch auch nicht, aber wenn überall geböllert und gefeiert wird, dann muß man entweder mitmachen oder halt weit wegfahren, ganz weit weg.

So ging es jedes Jahr. Und dann – nach leicht variablem Mittelteil – der unvermeidliche Schlußakkord:

– Ein Haus mieten!

JAAAA, ein Haus, in Dänemark, mit Freunden, nicht so viele, mal was Entspanntes.

– Ja, Dänemark, oder eine Berghütte. Eine Berghütte wäre super.

– Und alle würden ihre Uhren verstecken, und man würde einfach so eine nette Zeit haben und endlich anerkennen, daß es ja vollkommen egal ist, ob man sich jetzt um 0.00 Uhr küßt oder um 1:37 Uhr, oder ob man schon um halb elf müde ins Bett fällt.

Da sind sich alle immer einig gewesen, daß es das wäre. Im Grunde. Optimal wäre eigentlich: eine Berghütte IN Dänemark. Gemacht hat es aber noch nie jemand, den ich kenne. Ich hätte sonst auch den Kontakt abgebrochen, denke ich, denn das stelle ich mir ehrlich gesagt doch ziemlich schaurig vor. Am meisten Angst hätte ich vor dem Wort »besinnlich«. Und nicht nur vor dem Wort, viel mehr noch vor dem Zustand. Das Tolle an einem lauten Großstadtgebänge an Silvester ist ja, daß der dramaturgische Verlauf vollkommen festgezurrt ist – bis halb zwölf MUSS man einfach durch sein mit dem ganzen Schrott:

– Bleigießen (mit einem Superdeutungskatalog: etwa »Biene=schlaues Handeln führt zum Erfolg«. Erstens: Den möchte ich mal sehen, der eine Biene bleigießt, und zweitens, wo hat man so was schon gehört, daß schlaues Handeln zum Erfolg führt, bislang war man ja fest davon ausgegangen, daß zum Erfolg dummes Handeln dringend erforderlich ist.)

– »Dinner for one« gucken; wenn der Haushalt des Gastgebers verkabelt ist, dann gerne auch mehrmals, alle sprechen mit, kreischen & rufen ACHTUNG, bevor der Mann stolpert, vor allem, wenn er zum Schluß dann NICHT stolpert, und erzählen von früher. Beliebt sind auch Versuche, alle am Dinner Beteiligten aufzuführen. Kreisch, kreisch: Miss Sophie, James, Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Pommeroy, Mr. Winterbottom.

Puh. Dann immer

– Fondue oder Raclette

Mindestens, sonst die Höchststrafe: Hawaii Toast

– Unerläßlich auch das zügellose Mampfen sogenannter Berliner Krapfen. Da essen normale Menschen an einem Silvesterabend gerne mal 6 Stück und keuchen dann immer noch gierig: »Ich hatte noch gar keinen mit Aprikose!« Mir wird immer schon beim ersten schlecht, meist noch ehe ich mir die Füllung auf die Hose gekleckert habe.

– Dieses Spiel, dessen Namen ich jetzt vergessen habe, der differiert auch regional sehr stark, ich glaube, in Nordrhein-Westfalen heißt es KIEKS oder so. Da gibt es ein Tablett mit lauter Schrottgeschenken drauf, die sich während eines Jahres angesammelt haben oder die man morgens noch schnell gekauft hat in der Wühlkiste des Warenhauses, in dem man Sekt und DOCH NOCH KNALLER gekauft hat.

Zu Knallern – auch hier fächert die Föderation sich auf in eine babylonische Begriffsvielfalt –, zu Knallern kann man ohne weiteres auch sagen:

– Böller

– Knallkörper

– Feuerwerkskörper (Fachterminus, wird sowohl von der herstellenden Industrie als auch vom BKA verwandt, wenn es mal zu laut gekracht hat.)

– Chinakracher und so

Und natürlich die Hitsingle aus deutschen Pädagogenhaushalten:

– Nein, bei uns immer nur Wunderkerzen.

Dieses Spiel also, ich habe es viele Jahre geduldig mitgespielt, weil mir erstens nichts Besseres einfiel, zweitens Leute blöd sind, die sich auf ein Fest einlassen und dann da rumsitzen und so tun, als sei dieser Feiermodus ihrer nicht würdig, dabei ist es ihre letzte Zuflucht, sonst wären sie ja woanders. Und drittens habe ich mitgespielt, weil es mir auch immer einleuchtend erschien, diese Zeit vor 0.00 Uhr, die zunächst zähflüssig bis gar nicht verstreicht und dann plötzlich zack bum geschafft ist auf den letzten Metern, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnete (genau wie bei einer Sanduhr in der Sauna), diese Zeit also zumindest in Zitaten familiär zu gestalten. Und da ist ein Spiel doch eine gute Sache. Obwohl ich speziell dieses nie begriffen habe. Man braucht dazu Spielkarten, irgendwer muß dann rausgehen, und am Schluß hat jeder irgendeinen Quatsch in der Hand, so Taschenkalender von der Deutschen Bank mit 1 Quadratzentimeter Notizraum pro Tag oder Schlüsselanhänger oder Geduldsspiele oder ein sogenanntes Schreibset mit Anspitzer, Radiergummi und allem, obwohl ich seit 40 Jahren niemanden mehr mit Bleistift habe schreiben sehen. Mich zuletzt in der Schule, 40 Jahre sind also leicht übertrieben, aber damals hießen Radiergummis auch noch »Ratzefummel«, was eines meiner All-time-Lieblingswörter ist in der Rückschau. Trotzdem betone ich: Früher war beileibe nicht alles besser.

Denn früher (also bis gestern) waren sie meistens eine große Enttäuschung, die Jahresendfeiern. Jawohl: »Jahresendfeiern«, so hieß das in der DDR, glaube ich, und wenn es kommunikativ eng wird, erzählen sich Leute das zwischen »Dinner for one« und Bleigießen gerne, also beim Raclette. Ein anderer käut dann ziemlich sicher noch einen anderen Klassiker wieder:

Weintrauben, Spanien, Silvester, pro Glockenschlag eine Traube, wer nicht mag, kriegt Rosinen, und dann runter damit, wenn man es schafft = Glück, sonst = blöder Start ins neue Jahr, aber auch nicht so schlimm, nicht so schlimm jedenfalls wie zu sterben, was auch schon vorkam, einer hat sich mal daran verschluckt, und bums lag er da, das war, behaupten manche Interpreten dieser Geschichte, sogar ein Fernsehansager, live auf Sendung, der plötzlich zwischen zwei Trauben rumhustete und würgte, und dann war das Bild weg, und eine Minute später saß da ein anderer und moderierte weiter, weil nämlich der erste gestorben war, erstickt an dem Traubenkompott in der Mundhöhle. Live.

– Echt?

– Ja, kraß, ne?

– Oberkraß.

– Stell dir das mal vor!

– Ist ja echt der Hammer, sterben im Fernsehen an Silvester.

– Eigentlich ganz glamourös!

– Wie bist du denn drauf?

Mit Hilfe dieses jeopardyähnlichen Exkurses hat man schon wieder wertvolle Minuten rumgekriegt bis zum Countdown, zu dem man übrigens spätestens um viertel vor Knall Fernseher und Radio einschaltet.

Aus diesem Grund gibt es nur einer Person Stimme, die an sämtlichen Jahresendfeiern (→ DDR, s.o. → vielleicht trägt im Anschluß an die Belächelung dieses Begriffs noch jemand bei, daß Särge dort einst »Erdmöbel« hießen → lovely Zonies), an die ich mich erinnere, gegenwärtig war. Und zwar die von (erschütternd, jedoch die Wahrheit):

Incredible

good

old

– anschnallen, Herrschaften –

R-O-B-E-R-T-O -- B-L-A-N-C-O.

An dieser Stelle möchte ich die wunderbaren Manic Street Preachers zitieren:

»This is my truth – tell me yours.«

Aber wahrscheinlich werden alle Menschen dieses Landes nickend Herrn Blanco anführen. Denn:

Es ist, wie es ist.

Ja. Gestern war alles anders.

Back on plastic.

Bzw. Emaille. Silvester in der Badewannenfabrik. Klingt gut, war besser.

Ende November schon hatte uns Fabian eingeladen, auf die End-Dezember-Ziellosigkeit, dieses seit Jahren beständige Ja-was-denn-nun einmal zu verzichten. U.A.w.g.n.e.g. – um Antwort wurde gar...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2018
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte BEST OF • BVSB • Ich glaub mir • Kurz-Geschichten • Nüchtern am Weltnichtrauchertag • Panikherz • Pop-Kultur • Rausch • Reportagen • Texte-Sammlung
ISBN-10 3-462-31899-3 / 3462318993
ISBN-13 978-3-462-31899-9 / 9783462318999
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