Die Vertreibung aus der Hölle (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
496 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75850-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Vertreibung aus der Hölle -  Robert Menasse
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Was ist aus uns bloß geworden? Bei einem Klassentreffen, 25 Jahre nach dem Abitur, herrscht fröhliche Selbstzufriedenheit - bis Viktor seine ehemaligen Schulkollegen mit der Nazi-Vergangenheit ihrer Lehrer konfrontiert. Es kommt zu einem Eklat, der aus dieser Nacht eine Abenteuerreise in die Geschichte macht.
Viktor Abravanel, geboren 1955 in Wien, stammt aus einer Familie von Nazi-Opfern. Er wurde Historiker, Spezialist für Frühe Neuzeit. Bei einem Spinoza-Kongreß soll er einen Vortrag halten über das Thema »Wer war Spinozas Lehrer?«. Diese Arbeit und die damit verbundenen Recherchen mögen ihn auf die Idee gebracht haben, beim Klassentreffen, am Vorabend seiner Abreise nach Amsterdam, die Frage zu stellen: »Wer waren unsere Lehrer?« Der Lehrer von Baruch Spinoza war der Rabbiner Samuel Manasseh ben Israel, geboren 1604 in Lissabon, der als Kind mit seinen Eltern vor der Inquisition nach Amsterdam flüchtete. Die Rekonstruktion der Biographie dieses Rabbi und Viktors Erinnerungen an seine Schüler- und Studentenzeit zeigen verblüffende Parallellen. Wäre das die Erklärung dafür, daß unsere Biographien nach den Tragödien unserer Väter und Vorväter nur noch Farcen sind? Oder finden wir in der Geschichte immer nur Geschichten, die uns bekannt vorkommen? Im Grunde haben wir zu allen Zeiten immer dieselbe Lehrerin: die Geschichte. Und immer sind wir schlechte Schüler.
Robert Menasse hat einen großen Zeitroman geschrieben, der zwischen den Zeiten oszilliert. Die Erzählung, »wie es wirklich war«, zeigt am Ende: unseren Umgang mit Geschichte.



<p>Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit &uuml;ber den &raquo;Typus des Au&szlig;enseiters im Literaturbetrieb&laquo;. Menasse lehrte anschlie&szlig;end sechs Jahre &ndash; zun&auml;chst als Lektor f&uuml;r &ouml;sterreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut f&uuml;r Literaturtheorie &ndash; an der Universit&auml;t S&atilde;o Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen &uuml;ber philosophische und &auml;sthetische Theorien ab, u.a. &uuml;ber: Hegel, Luk&aacute;cs, Benjamin und Adorno. Seit seiner R&uuml;ckkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist haupts&auml;chlich in Wien.</p>

Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit über den »Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb«. Menasse lehrte anschließend sechs Jahre - zunächst als Lektor für österreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut für Literaturtheorie - an der Universität São Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen über philosophische und ästhetische Theorien ab, u.a. über: Hegel, Lukács, Benjamin und Adorno. Seit seiner Rückkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist hauptsächlich in Wien.

»Warum beschäftigt dich das eigentlich? Gehörst du zum auserwählten Volk?«

»Haben Frau Religionsprofessor mich erwählt? Bekanntlich nicht!«

»Bitte, Viktor, bringe jetzt nicht auch noch den Kalauer mit ›aufs Kreuz legen‹ und so. Ich wollte nur wissen –«

»Ich bin so wund, so liebeskrank, wenn ich dir gegenübersitze, daß du mich aufs Rote Kreuz –«

»Viktor!«

»Legen, schlagen –«

»Viktor! Ich wollte nur wissen«, sie mußte lachen, »ob du Jude bist, ich meine – ach, vergiß die Frage!«

»Warum mußt du bei der Frage, ob ich Jude bin, so lachen? Was ist daran so komisch?« Er liebte es, sich dümmer zu stellen, als er war, vor allem, wenn er betrunken war. »Ich kann dir die Frage gern beantworten: Ja, ich bin – beziehungsweise nein, nicht in diesem Sinn, das heißt –«

»Viktor kann es sein, daß du nicht mehr weißt, was du sagst? Ich bin römisch-katholisch. Ich wollte wissen, bist du jüdisch? So einfach ist das. Aber egal, vergiß die Frage!«

»So einfach ist die Frage nicht. Weil – Warte! Ich glaube, jetzt verstehe ich, warum du das fragst. Weil ich in der siebten Klasse vom römisch-katholischen Religionsunterricht befreit wurde, oder ausgeschlossen wurde, nein, befreit. Das meinst du doch, oder? Das ist dir gerade eingefallen!«

»Ja. Professor Hochbichler hat zu dir Christusmörder gesagt, und daraufhin warst du nie wieder im Religionsunterricht!«

»Ja. Und du hast dir plötzlich gedacht: Christusmörder, also Jude. Ganz normal, nicht wahr. So lernt man das eben, von den Religionslehrern, in der Schule und in der Ehe, stimmts?«

»Bitte, Viktor, du mußt aufhören zu trinken! So habe ich das nicht gemeint!«

»So habe ich das nicht gemeint. So habe ich das nicht gemeint! Ich werde dir erzählen, wie das wirklich war. Eines Tages, in der Religionsstunde, beugt sich der Hochbichler zu mir herunter – ich weiß nicht mehr, warum, was der Zusammenhang war, oder der Auslöser, ich glaube, es war einfach eine Assoziation von ihm – jedenfalls ich sehe seinen bekleckerten schwarzen Pullover unter seinem grauen Sakko ganz nah vor mir, seinen weißen Kragen –«

»Sein Kollar!«

»Sein Kollar. Jedenfalls war es dort, wo es an den Hals stieß, schwarzbraun und speckig, ich sah seine Zähne, er lachte, die Zähne waren gelb und braun, und in den Zwischenräumen Essensreste –«

»Du übertreibst!«

»Ich übertreibe nicht. Was diese Erinnerung betrifft, bin ich ein sozialistischer Realist, wie er der Idee nach sein sollte. Wahrhaftig, und es ist nur die Wahrheit selbst, die wertet. Also: Er beugt sich zu mir herunter, er riecht beißend nach Schweiß, Schnupftabak und Mottenkugeln –«

»Viktor. Du übertreibst. Du schummelst. Wie kannst du das heute so genau und so bestimmt wissen, sogar die Gerüche – Hat er nicht auch nach Weihwasser gerochen, und nach Kreide und –«

»Hör zu! Ich habe diese Geschichte oft genug erzählt, um demütig anerkennen zu können, daß sie sich nicht zufällig in dieser Form verselbständigt hat. Also, dieser Pädagoge, Religionslehrer, Pfarrer zu St. Rochus, diese Gestalt beugt sich über mich, übrigens stockbetrunken – das merkte ich in diesem Moment, als ich seinen Atem roch und seine glasigen Augen ganz nah vor mir sah –«

»Ja, das kann sein. Betrunken war er wirklich sehr oft.«

»Beugt sich also runter zu mir und sagt: Abravanel, Christusmörder! Ich war so, so – ich weiß nicht was, geschockt, daß ich leider zu keiner schlagfertigeren Antwort imstande war, als: Hochbichler Hochstapler!«

»Das hast du gesagt?«

»Ja. Du warst doch dabei. Du bist zwei Reihen vor mir gesessen.«

»Wieso weißt du das noch?«

»Das darf doch nicht wahr sein! Bist du damals nur eingeraucht in die Schule gekommen, oder was? Vor mir saß der Wetl. Und wenn ich mich nur ein bißchen zur Seite gebeugt habe, konnte ich am Wetl vorbei deinen Nacken sehen. Und manchmal hast du dich umgedreht und zu mir zurückgeschaut, und ich bin rot geworden wie ein Paradeiser.«

»Ja. Das weiß ich noch. Man mußte dich nur anschauen –«

»Ja, gut. Jedenfalls: Ich sagte, Hochbichler Hochstapler. Es hätte bessere Antworten gegeben, aber andererseits: für einen Siebzehnjährigen war diese Antwort Weltklasse, und ich frage mich, wozu man manchmal Weltklasse ist, wenn sich nachher keiner, der dabei war, erinnern kann, ich meine –«

»Ist schon gut, Viktor, das war wirklich – mutig von dir. Und was war dann?«

»Nichts. Das heißt, die Vermeidung von allem Möglichen. Das Eigenartige war: Ich sah augenblicklich Hochbichlers Scham. Es war die Entgleisung eines Betrunkenen – der plötzlich von sich selbst entsetztwar. Aber was gesagtwar, war gesagt und zog seine Kreise. Mein Vater hat mich schließlich aus dem Religionsunterricht abgemeldet. Das war für ihn ein Riesending. Er wollte doch immer, daß ich alles genauso mache wie die anderen, kein Unterscheiden, kein Auffallen. Das Problem war ja, daß Hochbichler, um vor der Klasse sein Gesicht zu wahren, meine freche Antwort ins Klassenbuch eintrug. Und plötzlich war ich näher dran an einer Strafe, als Hochbichler an einem Verweis. Aber mit der Abmeldung vom Religionsunterricht wurde sozusagen ein Schlußstrich unter die Affäre gezogen, und ich bekam keinen Karzer. Jedenfalls, so war dann klar, daß ich nicht zu diesem Verein gehöre.«

»Nein, klar war gar nichts. Es haben sich damals, nach 68, 69 auch Katholiken vom Religionsunterricht abgemeldet. Und der Feldstein ist von Anfang an rausgegangen, wenn Religionsunterricht war. Also ist die Frage, ob du Jude bist –«

»Ich habe den Verdacht, daß du nur wissen willst, ob ich beschnitten bin. Das ist leichter zu beantworten, also frag mich das!«

»Okay. Bist du beschnitten?«

»Ach wie lange habe ich nach diesem Moment gelechzt, daß du das wissen willst. Was soll ich hier und jetzt drauf sagen? Man müßte sich die Sache einmal anschauen!«

Glucksendes Lachen.

»Ich ziehe die Frage zurück. Eine andere Frage, in der Sprache, die du verstehst: Kann es sein, daß du unter Balzheimer leidest?«

Wieder dieses Lachen. Das waren die beiden Piccolos, die seitlich an der Wand in Warteposition standen, ganz Ohr. Der eine stieß den anderen an. »Das ist gut«, kicherte er, »Balzheimer!«

»Haben Sie nicht auch an anderen Tischen zu tun?« (Hildegund)

»Nein. Wir sind ganz für Sie da!«

»Uns wäre es lieber, wenn Sie nur dann für uns da wären, wenn wir Sie brauchen!«

»Aber Hilli, wir brauchen sie doch. Gerade jetzt. Ganz dringend. Könnten Sie uns Wasser bringen, ich brauche unbedingt Mineralwasser. Dreißig Flaschen, bitte!

Hilli- gund! Okay, okay! Sag! Du hast doch sicher einen zweiten Namen. Was steht in deinem Taufschein? Sag mir deinen zweiten Namen, und ich vergesse Hildegund, und wir beginnen neu!«

»Maria.«

»Das hab ich befürchtet!«

Manés Welt wurde dunkel.

Spätestens seit dem Katzenbegräbnis hatte sich das Gebot, vor Sonnenuntergang zu Hause zu sein, erübrigt. Es gab keine Möglichkeit mehr mitzulaufen, und auch keine Chance davonzulaufen. Jetzt konnte er das Haus, wenn überhaupt, erst nach Sonnenuntergang verlassen. Im Schutz der Dunkelheit, einer doppelten Dunkelheit: Seine Wege waren vorgezeichnet von den möglichst schwarzen Schatten des nachtdunklen Städtchens. Er konnte nicht den ganzen Tag auf den Stiegen der Hoftür oder bei Tisch sitzen, er mußte hinaus, das verstanden seine Mutter und Estrela. Aber erst, wenn es dunkel ist, hörst du? Erst nach Sonnenuntergang.

Wenn die Sonne unterging am Freitag, begann das Stillsitzen, das Kerzenanzünden, das Schwitzen an einem glühenden Ofen, auf dem dann aber nicht gekocht wurde, das Essen längst vorbereiteter Speisen. Nur an einem einzigen, an diesem Tag hatte der Sonnenuntergang Bedeutung, war eine Grenze, die er nicht überschreiten durfte, hinaus, in die Freiheit der Dunkelheit oder die Dunkelheit der Freiheit.

Als er die Ordnung zu sehen begann, begann sie sich aufzulösen. Da war nicht mehr Schutz, nur noch Trotz. Den Sabbat halten wir ein. Solange wir können, halten wir ihn ein.

Wie? Was? Estrela legte ihre rechten Hand auf Manés Stirn, drückte, als wollte sie ihn wegschieben, drückte stärker, als wollte sie ihn wegstoßen, Mané hielt dagegen, er liebte den Druck der warmen Hand an seiner Stirn, er schloß die Augen, sah nicht das streng-verächtliche Gesicht seiner Schwester, spürte nur, wie die Wärme durch den Stirnknochen in seinen Kopf drang. Warum? »Was hast du da drinnen?«, fragte Estrela, »Jesusmariaundjosef«, »Versündige dich nicht!« (die Mutter), »Was hast du bloß da drinnen in deinem Kopf?«, und sie verstärkte den Druck. Daß er jetzt verstand, hatte keine Bedeutung mehr. Abgesehen davon, daß er noch immer nicht wirklich verstand, was er zu verstehen begann. Daß er immer mit Sonnenuntergang zu Hause sein hatte müssen, wurde eine dunkle Erinnerung: Es ist eine lichte Zeit gewesen, aber eben an der Kippe zum Untergang. Dämmerzustand.

Er hatte deshalb jeden Abend vor Sonnenuntergang zu Hause sein müssen, damit eben dies nicht auffiel: daß er immer am Freitag vor Sonnenuntergang zu Hause sein mußte.

Warum? Warum? Nun gab es die schlagenden Antworten. Wenn er damals zwei, drei Jahre älter gewesen wäre – was wäre dann aus ihm geworden?

Er saß am...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Geschenkbuch • Geschenkbücher • Historiker • Klassentreffen • Lehrer • Menasheh ben YiÅ›raʾel • Nationalsozialismus • Österreich • ST 3493 • ST3493 • suhrkamp taschenbuch 3493
ISBN-10 3-518-75850-0 / 3518758500
ISBN-13 978-3-518-75850-2 / 9783518758502
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