Die Mütter (eBook)

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2018 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00124-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Mütter -  Brit Bennett
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«Die Mütter», so nennen sie die alten Frauen in der kleinen kalifornischen Gemeinde Oceanside. Sie sind Zeugen des Skandals, mit dem dieser Roman beginnt. Ein Skandal ist es, wenigstens aus ihrer Sicht: dass Nadia Turner, deren Mutter sich das Leben genommen hat, mit Luke, dem Sohn des Pastors ... dass Nadia Turner ein Baby bekommt ... oder vielmehr beschließt, es nicht zu bekommen. Und das ist erst der Anfang der Geschichte. Anders als Luke kehrt Nadia der Kleinstadtenge bald den Rücken. Aber Aubrey, ihre beste Freundin, bleibt und stellt sich auf ihre Weise gegen den Chor der alten Frauen, deren Stimmen mit der Zeit merklich auseinandergehen. Es dauert nicht lange, und sie feiern ein neues Paar in Oceanside: Aubrey und Luke Sheppard. Und das beschäftigt die vom College heimgekehrte Nadia mehr, als sie vor der besten Freundin zugeben kann. Brit Bennett fragt nach dem, was uns hält und was uns bindet: Freundschaft, eine gemeinsame Vergangenheit, eine nicht gelebte Geschichte. In «Die Mütter» erzählt sie voller Respekt und mit der nötigen Respektlosigkeit von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht, erzählt mit einer gelassenen Genauigkeit, die staunen macht. Ein lebenskluger Roman über das Amerika von heute und das Amerika von morgen.

Brit Bennett wuchs im su?dlichen Kalifornien auf und studierte an der Stanford University und an der University of Michigan. Ihre Arbeiten erschienen in «The New Yorker», «The New York Times Magazine», «The Paris Review» und «Jezebel». Ihr Debu?t «Die Mu?tter» wurde unter anderem fu?r den PEN/Robert W. Bingham Prize und den Prix Femina étranger nominiert. Auch «Die verschwindende Hälfte», ihr zweiter Roman, wurde ein Bestseller in den USA. 

Brit Bennett wuchs im südlichen Kalifornien auf und studierte an der Stanford University und an der University of Michigan. Ihre Arbeiten erschienen in «The New Yorker», «The New York Times Magazine», «The Paris Review» und «Jezebel». Ihr Debüt «Die Mütter» wurde unter anderem für den PEN/Robert W. Bingham Prize und den Prix Femina étranger nominiert. Auch «Die verschwindende Hälfte», ihr zweiter Roman, wurde ein Bestseller in den USA.  Robin Detje lebt als Autor und Übersetzer in Berlin. Er ist Teil der Künstlergruppe bösediva. Für seine literarischen Übersetzungen wurde er mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Preis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung ausgezeichnet.       

Eins


Zuerst haben wir es nicht geglaubt, man weiß ja, wie in der Kirche getratscht wird.

So wie damals, als wir alle dachten, dass unser oberster Kirchendiener John Eins seine Frau betrügt, weil Betty, die Sekretärin des Pastors, gesehen hatte, wie er sich beim Brunch an eine andere Frau heranmachte. Eine schicke junge Frau noch dazu, eine mit Hüftschwung, wobei die wirklich gar nichts herumzuschwingen hatte vor einem vierzig Jahre verheirateten Mann. Ein Mal fremdgehen, das konnte man einem Mann verzeihen, aber diese junge Frau in einem Straßencafé über Buttercroissants gebeugt anzuflirten? Das war ganz was anderes. Noch bevor wir John Eins die Leviten lesen konnten, tauchte er am Sonntag in der Upper Room Chapel auf, samt Gattin und der jungen Frau mit Hüftschwung – einer Großnichte aus Fort Worth auf Besuch –, und damit war die Sache erledigt.

Zuerst dachten wir, das könnte diese Art Geheimnis sein, obwohl es sich nicht so anfühlte, zugegeben. Es schmeckte auch nicht danach. Alle guten Geheimnisse haben ihren Eigengeschmack, bevor sie verraten werden, und wenn wir dieses spezielle etwas länger abgeschmeckt hätten, wäre uns vielleicht aufgefallen, dass es sauer war, wie ein unreifes, zu früh gepflücktes Geheimnis, vom Baum gestohlen und vor der eigentlichen Erntezeit herumgereicht. Aber das taten wir nicht. Wir gaben das saure Geheimnis weiter, ein Geheimnis, das seinen Ursprung in dem Frühjahr hatte, als Nadia Turner vom Sohn des Pastors geschwängert worden war und in die Abtreibungsklinik in der Stadt ging, um die Sache zu regeln.

Sie war damals siebzehn. Sie wohnte bei ihrem Vater, einem Marinesoldaten, ohne ihre Mutter, die sich sechs Monate zuvor umgebracht hatte. Nach diesem Ereignis hatte sie sich einen Ruf als wildes Mädchen erarbeitet – sie war jung, sie hatte Angst, und sie versuchte, diese Angst hinter ihrem hübschen Aussehen zu verbergen. Und hübsch war sie wirklich, schön sogar, mit ihrem bernsteinfarbenen Teint, den seidigen langen Haaren und den braunen, grauen und goldenen Wirbeln in den Augen. Wie die meisten Mädchen wusste sie, dass hübsch dich sichtbar macht und auch unsichtbar, aber wie die meisten Mädchen hatte sie noch nicht heraus, wie man damit spielen konnte. Und so erfuhren wir alles über die Stunden in den Clubs von Tijuana, die Wasserflasche, die sie an der Oceanside High immer bei sich hatte, voll mit Wodka, über die Samstage auf dem Marinestützpunkt, wo sie mit den Soldaten Billard spielte – Abende, an denen sie schließlich die Fersen ans beschlagene Fenster im Auto irgendeines Mannes stemmte. Das waren vielleicht alles nur Märchen, und garantiert wahr ist nur das eine: Ihr ganzes Abschlussjahr an der Highschool über ging sie mit Luke Sheppard ins Bett, und im Frühjahr darauf wuchs in ihrem Leib sein Baby.

 

Luke Sheppard kellnerte in Fat Charlie’s Seafood Shack, einem Restaurant an der Seebrücke, bekannt für frische Zutaten, Livemusik und familienfreundliche Atmosphäre. So stand es jedenfalls in der Anzeige in der San Diego Union-Tribune, und man musste ziemlich blöd sein, um das zu glauben. Wer lange genug in Oceanside wohnte, wusste, dass unter den Wärmelampen Fish & Chips von gestern wieder heiß gemacht wurden, so viel zum Thema frische Zutaten, und wenn es überhaupt Livemusik gab, wurde sie von versifften Teenies in zerrissenen Jeans geliefert, denen die Sicherheitsnadeln von den Lippen baumelten. Nadia Turner wusste noch ein paar Dinge über Fat Charlie’s, die nicht in eine Zeitungsanzeige passten, etwa dass ein Teller mit Charlie’s Cheesy Nachos der ideale Snack zu einem Saufgelage war und dass der Chefkoch das beste Gras nördlich der Grenze verkaufte. Sie wusste, dass drinnen gelbe Rettungswesten über der Theke hingen und die drei schwarzen Kellner den Laden nach einer langen Schicht deshalb ihr Sklavenschiff nannten. Sie kannte diese Geheimnisse des Fat Charlie’s, weil Luke sie ihr verraten hatte.

«Was ist mit den Fischstäbchen?», fragte sie zum Beispiel.

«Weich wie Waschlappen.»

«Pasta mit Meeresfrüchten?»

«Finger weg!»

«Bei Pasta kann doch nichts schiefgehen.»

«Weißt du, wie sie die Scheiße produzieren? Sie stopfen Fischreste in die Ravioli.»

«Na gut, dann das Brot.»

«Wenn du dein Brot nicht aufisst, stellen wir es anderen Leuten auf den Tisch. Das Brot, das du dir gerade nehmen willst, kommt von einem Alten, der sich den ganzen Tag die Eier kratzt.»

In dem Winter, in dem ihre Mutter sich umbrachte, bewahrte Luke Nadia davor, die Crab Bites zu bestellen. (In Schmalz ausgebackenes Krebsimitat.) Nach der Schule verschwand sie jetzt immer, nahm den Bus und stieg einfach irgendwo aus. Manchmal fuhr sie Richtung Osten ins Camp Pendleton, guckte sich dort einen Film an, ging im Stars and Strikes kegeln oder spielte mit den Marinesoldaten Billard. Die ganz Jungen waren am einsamsten, also fand sie immer eine Meute einfacher Soldaten, die sich mit ihren kahlgeschorenen Köpfen und in den schweren Stiefeln nicht wohl fühlten, und wenn es Nacht wurde, küsste sie normalerweise einen von ihnen, bis ihr zum Heulen war. Oder sie fuhr Richtung Norden, an der Upper Room Chapel vorbei an die Küste, die äußerste Grenze. Im Süden gab es auch wieder Strände, schönere Strände, wo der Sand so weiß war wie die Menschen, die sich darauf aalten, Strände mit Promenade und Achterbahn, Strände hinter Gittern. Nach Westen fahren konnte sie nicht. Im Westen war das Meer.

Mit dem Bus floh sie vor ihrem alten Leben, als sie nach Schulschluss bis zur Fahrstunde mit ihren Freundinnen auf dem Parkplatz abgehangen hatte oder auf die Tribüne geklettert war und der Footballmannschaft beim Training zugesehen hatte oder mit versammelter Mannschaft ins In-N-Out gezogen war. Im Jojo’s Juicery hatte sie beim Jobben mit ihren Kollegen rumgealbert, hatte an Lagerfeuern getanzt und war auf die Wellenbrecher geklettert, wenn man sie dazu herausforderte, weil sie immer so tat, als hätte sie vor nichts Angst. Es erschreckte sie, dass sie damals kaum je allein gewesen war. Ihre Tage vergingen, als wäre sie vom einen zum anderen weitergereicht worden wie bei einem Staffellauf: Ihr Mathelehrer reichte sie weiter an die Spanischlehrerin, die sie an den Chemielehrer weiterreichte, bis sie bei ihren Freundinnen und später wieder zu Hause bei den Eltern landete. Dann war die Hand ihrer Mutter eines Tages weg gewesen, und sie war gestürzt, rasselnd zu Boden gegangen.

Gesellschaft hielt sie jetzt überhaupt nicht mehr aus – nicht die ihrer Lehrer, die geduldig lächelten, wenn sie mit den Hausaufgaben zu spät dran war; nicht die ihrer Freundinnen, die aufhörten zu blödeln, wenn sie sich beim Lunch zu ihnen setzte, als wäre ihre Fröhlichkeit beleidigend für sie. Wenn Mr. Thomas im Fortgeschrittenenkurs Gemeinschaftskunde Zweiergruppen ansagte, fanden ihre Freundinnen sich schnell zusammen, und sie musste mit dem anderen stillen einsamen Mädchen arbeiten: mit Aubrey Evans, die in der Mittagspause zu Treffen der Christlichen Schülergruppe verschwand, nicht um damit ihren Lebenslauf für die College-Bewerbung zu schmücken (als Mr. Thomas fragte, wer Bewerbungen abgeschickt habe, hatte sie sich nicht gemeldet), sondern weil sie es gottgefällig fand, in ihrer Freizeit in einem Klassenzimmer zu sitzen und Konserven für die Armen mit zu organisieren. Aubrey Evans, die einen schlichten goldenen Keuschheitsring trug, an dem sie beim Reden drehte, und immer allein zum Gottesdienst in der Upper Room kam, das frömmelnde Einzelkind strenggläubiger Atheisten vermutlich, schwer damit beschäftigt, ihnen den Weg ins Licht zu weisen. Nach ihrer ersten Zweierarbeit hatte Aubrey sich vorgebeugt und ganz leise zu Nadia gesprochen.

«Es tut mir so leid, das wollte ich nur sagen», sagte sie. «Wir haben alle für dich gebetet.»

Es hatte aufrichtig geklungen, aber was sollte Nadia damit anfangen? Sie war seit der Beerdigung ihrer Mutter nicht mehr in der Kirche gewesen. Sie fuhr stattdessen Bus. Eines Nachmittags stieg sie in der Stadt vor dem Hanky Panky aus. Sie war sich ganz sicher, dass jemand sie aufhalten würde – mit ihrem Rucksack sah sie wirklich aus wie ein Kind –, aber der Türsteher auf seinem Hocker am Eingang blickte kaum von seinem Handy auf, als sie hineinhuschte. Am Dienstagnachmittag um drei war der Stripclub ziemlich tot, stumpf standen silberne Tische im Glanz der Bühnenbeleuchtung. Schwarze Vorhänge vor den Fenstern blockten das Sonnenlicht ab, in den Sesseln vor der Bühne hingen dicke weiße Männer mit tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappen im künstlichen Dunkel. Im Scheinwerferlicht tanzte ein wabbeliges weißes Mädchen, seine Brüste schwangen hin und her wie Pendel.

Im Dunkel des Clubs konnte man mit seinem Kummer allein sein. Ihr Vater hatte sich in die Upper Room gestürzt. Er besuchte beide Gottesdienste am Sonntagvormittag, ging mittwochs zum Bibelkreis und donnerstagabends zur Chorprobe, obwohl er nicht mitsang und die Proben geschlossen waren, aber niemand brachte es über sich, ihn fortzuschicken. Ihr Vater stellte seine Traurigkeit auf eine Kirchenbank; sie ging sich mit ihrer verstecken. Der Barmann nahm ihren gefälschten Ausweis achselzuckend zur Kenntnis und mixte ihr einen Drink, und sie hockte sich in eine dunkle Ecke, nippte an ihrer Cola-Rum und sah den Frauen zu, die fertig aussahen und sich auf der Bühne wiegten. Die dünnen jungen Mädchen hob der Club sich für die Abende und Wochenenden auf, dies waren ältere Frauen, die an Kinder und Einkaufslisten dachten, mit Schwangerschaftsstreifen und Orangenhaut. Schon der Gedanke hätte ihre Mutter entsetzt – sie in...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2018
Übersetzer Robin Detje
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abtreibung • Coming of Age • contemporary black America • contemporary black America, • Frauen • Freundschaft • Gegenwart • Kalifornien • Liebe • Schwangerschaft • USA
ISBN-10 3-644-00124-3 / 3644001243
ISBN-13 978-3-644-00124-4 / 9783644001244
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