Kranichland (eBook)

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2018 | 1. Auflage
432 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-20038-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kranichland -  Anja Baumheier
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Unser geteiltes Leben Die Groen-Schwestern wachsen im Ost-Berlin der sechziger Jahre heran. Unterschiedlicher könnten die beiden Mädchen nicht sein: Charlotte, die ältere, brennt ebenso für den Sozialismus wie ihr Vater Johannes, der am Ministerium für Staatssicherheit Karriere macht. Die künstlerisch begabte Marlene hingegen eckt überall an und verliebt sich Hals über Kopf in Wieland, einen Pfarrerssohn, der die DDR kritisch hinterfragt. Mit jedem Tag wächst in dem jungen Paar die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit. Als die beiden beschließen, in den Westen zu fliehen, trifft Marlenes Vater eine Entscheidung - mit fatalen Folgen, die noch Jahrzehnte später spürbar sind ...

Anja Baumheier wurde 1979 in Dresden geboren. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet dort als Lehrerin für Französisch und Spanisch. Bei Rowohlt erschienen bereits ihre Romane 'Kranichland', 'Kastanienjahre' und 'Die Erfindung der Sprache'.

Anja Baumheier wurde 1979 in Dresden geboren. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Berlin und arbeitet dort als Lehrerin für Französisch und Spanisch. Bei Rowohlt erschienen bereits ihre Romane "Kranichland", "Kastanienjahre" und "Die Erfindung der Sprache".

Damals (1943)


Rostock

«Wann kommt Vater wieder?»

Käthe nahm Elisabeths Hand. «Vielleicht im Frühling», sagte sie, ließ Elisabeths Hand los und stand auf. Fünf mal fünf Schritte, mehr Platz war nicht. Der Keller roch modrig, die Kerzen würden nur noch einen Tag reichen, und auch die Essensvorräte, Konserven und Einweckgläser gingen zur Neige. Der Toiletteneimer war voll und roch erbärmlich. Wieder hatte Käthe versucht, der Frage nach Emil auszuweichen. Vielleicht im Frühling. Warum hatte sie das gesagt? Ihr war klar, dass Elisabeth ihr nicht glaubte. Immerhin war sie inzwischen sechzehn.

Der Tag, an dem sie Emil abgeholt hatten, lag bereits fünf Monate zurück. Er wusste, worauf er sich einließ, als er zu den geheimen Treffen am Hafen ging und mithalf, Flugblätter gegen den Krieg zu verteilen. Seit drei Monaten wohnten Elisabeth und Käthe im Keller, aus Angst vor den Bombenangriffen und auch aus Angst, die Männer in den Uniformen würden zurückkehren. Der Eingang zu ihrem Versteck lag hinter einem Regal, eingelassen in einen Mauervorsprung. Die beiden unteren Bretter waren nur aufgelegt. Wenn man sie zur Seite schob, konnte man durch die Öffnung hindurchklettern. Nur selten gingen Elisabeth und Käthe nach oben ins Haus, um Wasser zu holen und nach dem Rechten zu sehen.

«Er kommt nicht zurück, oder?» Elisabeth nahm die letzte Kerze und drehte sie in der Hand.

«Ach, Lisbeth, du bist zu alt, als dass ich dir etwas vormachen könnte. Ich weiß nicht, wann dein Vater wiederkommt. Ich weiß nicht, ob er überhaupt jemals wiederkommt.»

In diesem Moment heulte eine Sirene los. Die beiden Frauen zuckten zusammen und schauten ängstlich durch das vergitterte Kellerfenster nach draußen. Es regnete. Bis auf ein kleines Stück Gehweg war nichts zu erkennen. Es war dunkel, und in immer kürzeren Abständen zuckten Lichtblitze über das nasse Kopfsteinpflaster. Dann waren Schuhe zu sehen. Kinderschuhe und grobe Damenschuhe, die am Fenster vorbei in Richtung Luftschutzbunker eilten. Frauen riefen, Kinder weinten. Elisabeth drückte sich an ihre Mutter.

Käthe legte ihre Hand auf Elisabeths Kopf. «Hier unten sind wir sicher, und so schlimm wie vor einem Jahr wird es bestimmt nicht mehr werden.» Ihren Worten zum Trotz hatte Käthe Mühe, die Fassung zu bewahren. Noch gut konnte sie sich an die schreckliche Nacht im April vergangenen Jahres erinnern. Tausende Bomben waren über Rostock niedergegangen, der Seewind hatte bei der Ausbreitung der Flammen geholfen. Nach dem Angriff war sie mit Emil bestürzt durch die zerstörten Straßen gelaufen. Zahllose Gebäude waren dem Feuer zum Opfer gefallen, ganze Straßenzüge ausgelöscht worden, und Hunderte Menschen irrten obdachlos umher. Die Altstadt glich einem Trümmerfeld, das Dach der Petrikirche war ausgebrannt und das Stadttheater, in dem Käthe und Emil so oft gewesen waren, zerstört.

Als die ersten Schüsse der Flak zu hören waren, schrie Elisabeth auf. Sie drückte sich noch enger an ihre Mutter. Käthes Hand auf Elisabeths Kopf zitterte. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Wenigstens eine von uns muss stark sein, dachte sie.

Draußen war es nun ganz still. Doch plötzlich war das Kreischen der Bomben zu hören. Dann gab es einen lauten Knall. Die Scheibe des Kellerfensters zerbrach, und die Scherben fielen auf die Matratze unter dem Fenster. Elisabeth fuhr zusammen, und Käthe merkte, dass ihre Unterhose nass wurde.

 

Erst weit nach Mitternacht war der Angriff vorüber, verklangen die Schüsse. Alles schien friedlich. Irgendwo bellte ein Hund. Wieder eilten Schuhe am Kellerfenster vorbei, diesmal in die andere Richtung. Schwefelgeruch drang durch das Gitter. Elisabeth löste sich aus den Armen ihrer Mutter, räumte die Scherben beiseite und legte sich auf die Matratze.

«Ich bin gleich wieder da.» Käthe stand auf, nahm die unteren Regalbretter heraus und kletterte durch die Öffnung. Dann griff sie nach dem Toiletteneimer und stieg langsam die Kellertreppe hinauf.

Das Haus war unversehrt, oben hatten sämtliche Fensterscheiben die Bomben überstanden. Neben der Tür stand eine Truhe. Käthe nahm eine frische Unterhose heraus, ging ins Badezimmer, weichte die alte in Seifenlauge ein und trat vor die Haustür. Noch immer hing Rauch über der Straße. Am Horizont, in Richtung Rostocker Hafen, stiegen Flammen in den Nachthimmel. Käthe sah sich vorsichtig um. Niemand war zu sehen. Sie ging die Stufen herunter und leerte den Toiletteneimer über dem Gully. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie etwas auf den Treppenstufen vor der Haustür. Sie ging näher heran und sah einen Krug frisches Wasser, Kerzen und einen Laib Brot, in eine Zeitung eingewickelt. Hastig hob Käthe die Sachen auf und trug sie ins Haus. Wer hatte in diesen Zeiten so viel übrig, dass er teilen konnte? Käthe ging noch einmal ins Badezimmer, wrang ihre Unterhose aus und hängte sie über die Leine.

Als sie zurück in den Keller kam, schlief Elisabeth. Die grobe Wolldecke lag neben der Matratze. Wie sehr sie doch ihrem Vater ähnelte. Die blonden Haare, der schmale Körperbau. Käthe nahm die Decke und legte sie vorsichtig über ihre Tochter. Auf einmal hörte sie ein Geräusch, ein leises Rascheln über ihrem Kopf. Ein Flugblatt war von außen gegen das Gitter des Kellerfensters geflogen und zappelte im Wind.

Käthe stand auf, zog den Zettel durch die Stäbe und las. Extrablatt. Deutsche Soldaten bei Stalingrad geschlagen und in russischer Kriegsgefangenschaft.

Drei Tage vor Rostock

Johannes’ Beine versanken bis zu den Knien im Schnee. Er hatte Fieber und zitterte am ganzen Körper. Der Riemen seiner Ledertasche schnitt ihm in die Schulter, seine Hose war durchweicht und sein Mantel viel zu dünn für die kalten Temperaturen. Sein Fuß tat so sehr weh, dass er kaum auftreten konnte. Er musste sich setzen. Bei seiner überstürzten Abreise war er auf einer zugefrorenen Pfütze ausgerutscht und in einen Straßengraben gefallen. Eine Gartenzaunlatte diente ihm als Krücke, und er hatte Schwielen an den Händen. Zeit zurückzubleiben war nicht gewesen, die Gefahr zu groß. Seit Hitlers Truppen bei Stalingrad besiegt worden waren, rückte die Rote Armee unaufhaltsam voran. Die deutsche Bevölkerung Schlesiens musste fliehen.

Ein Mann mit einem Leiterwagen, der seit kurzem in seinem Treck mitlief, half ihm auf. «Wie alt bist du denn, mein Junge?»

«Gerade sechzehn geworden.»

Der Mann nickte. «Noch so jung und ganz alleine unterwegs. Komm, ein bisschen kann ich dich ziehen.»

Johannes hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich zu bedanken. Er erhob sich und kletterte auf den Wagen. Zwischen Koffern, Kisten und einem Schlitten lag, in einen Damenpelz eingewickelt, ein schlafender Säugling. Johannes legte sich neben das warme Bündel. Ihm fielen die Augen zu, und er träumte von seiner Mutter.

 

Ein jähes Krachen schreckte Johannes aus dem Schlaf. «Was? Was ist los? Wo …?» Da sah er es.

Der Mann, der den Wagen gezogen hatte, stand neben der vorderen Achse. Sie war entzweigebrochen. «Den Wagen können wir vergessen.» Er schaute Johannes lange in die Augen. Sein Gesicht war ausgemergelt, seine Augäpfel gelb, und er hustete.

«Und nun?»

Wieder hustete der Mann. Aus der Tasche seines zerschlissenen Mantels zog er ein Tuch, das er sich vor den Mund drückte. Als der Hustenanfall vorüber war, sah er kopfschüttelnd hinein und hielt es dann Johannes hin. Es war blutig. «Ich werde es nicht schaffen. Deshalb habe ich eine Bitte: Kümmerst du dich um Hanna?»

«Wer ist Hanna?»

Der Mann steckte das Tuch zurück in seinen Mantel und zeigte mit der Hand auf den Leiterwagen. «Hanna. Meine Enkelin. Ich habe es meiner Tochter versprochen. Ich habe versprochen, Hanna in Sicherheit zu bringen.»

Johannes sah auf das Bündel neben sich. Das Kind hatte die Augen geschlossen. «Was ist mit Ihrer Tochter passiert?»

Der Mann antwortete nicht.

Hinter ihnen kamen weitere Flüchtlinge näher. Auch sie hatten einen Leiterwagen dabei, der von einem Pferd gezogen wurde, das so dünn war, dass es nur langsam vorankam.

«Also, du kümmerst dich um Hanna. Abgemacht?»

«Abgemacht.» Johannes zog sein Hosenbein ein wenig nach oben. Sein Knöchel hatte sich inzwischen dunkelblau verfärbt.

«Bin gleich zurück. Ich gehe mich nur kurz erleichtern.» Der Mann überquerte den Feldweg und verschwand im Schatten einer Schonung.

Johannes schob den Damenpelz zur Seite und legte seine Hand auf den Körper des Säuglings. Er war eiskalt. Schnell zog er seine Hand zurück und hielt sein Ohr vor die Nase der kleinen Hanna. Nichts. Sie atmete nicht mehr.

Ein Schuss fiel. Er kam aus Richtung der Schonung. Alles drehte sich, Johannes spürte seine Füße nicht mehr, seine Hände waren steif, und in seinem Kopf breitete sich ein bohrender Schmerz aus. Er legte sich neben den toten Säugling. Es war vorbei, Johannes’ Kraft war aufgebraucht, er spürte, wie ihm erneut die Augen zufielen.

Der nachrückende Tross war inzwischen auf Höhe des Leiterwagens, auf dem Johannes lag.

«Heda», rief eine weibliche Stimme.

Johannes öffnete die Augen. «Ja», flüsterte er.

«Du lebst ja doch, ein Glück.» Eine Frau stand neben dem Leiterwagen. «Komm runter da und bring das Kind mit.»

«Tot», sagte Johannes nur.

«Dann gib mir wenigstens den Pelz.»

Johannes bewegte sich nicht. Die Frau stieg auf den Leiterwagen, nahm das tote Kind aus dem Damenpelz und legte es zurück. «Komm weiter, Junge. Noch drei Tage Fußmarsch, dann sind...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2018
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Berlin • DDR • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Flucht • Geschichte • Krieg • Mauer • Ostdeutschland • Osten • Republikflucht • Rostock • Wende • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-644-20038-6 / 3644200386
ISBN-13 978-3-644-20038-8 / 9783644200388
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