Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust (eBook)

Roman
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2017 | 1. Auflage
273 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75853-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust -  Robert Menasse
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Die Geschichte der Liebe ist eine Geschichte von Befreiungskämpfen Programmatisch ist in Robert Menasses Roman schon der erste Satz, und die Ouvertüre^hat so manchen Kritiker in Ehrfurcht und Schrecken versetzt. Teuflisch brennt die Erkenntnis, daß einem das Zölibat zweierlei erspart: die Langeweile und den Schmerz. Dem 53jährigen Nathan wird nichts erspart. 'Warum kann ich nicht genießen? Mein Vater hat es sich immer gut gehen lassen.' Auf der Suche nach der verlorenen Lust der Nach-68er-Generation kreuzen viele Frauen seinen Weg. Freundinnen, eine Ehe, noch eine Ehe, viele Geliebte - nichts erfüllt ihn. Nathan befindet sich auf dem Weg der Unlust, und die erfüllt sich. In einem der 'unterhaltendsten Unterhaltungsromane der letzten Jahre' (Die Zeit) zeichnet Robert Menasse das Porträt einer Generation, der Nach-68er-Gesellschaft. Es ist kein Liebesroman im klassischen Sinne, in dem Mann und Frau zueinanderfinden, sondern ein Roman über die Liebe in den Zeiten sexueller Befreiung.

<p>Robert Menasse wurde 1954 in Wien geboren und ist auch dort aufgewachsen. Er studierte Germanistik, Philosophie sowie Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina und promovierte im Jahr 1980 mit einer Arbeit &uuml;ber den &raquo;Typus des Au&szlig;enseiters im Literaturbetrieb&laquo;. Menasse lehrte anschlie&szlig;end sechs Jahre &ndash; zun&auml;chst als Lektor f&uuml;r &ouml;sterreichische Literatur, dann als Gastdozent am Institut f&uuml;r Literaturtheorie &ndash; an der Universit&auml;t S&atilde;o Paulo. Dort hielt er vor allem Lehrveranstaltungen &uuml;ber philosophische und &auml;sthetische Theorien ab, u.a. &uuml;ber: Hegel, Luk&aacute;cs, Benjamin und Adorno. Seit seiner R&uuml;ckkehr aus Brasilien 1988 lebt Robert Menasse als Literat und kulturkritischer Essayist haupts&auml;chlich in Wien.</p>

14.


Helga war ein altmodisches Mädchen. Das gefiel mir. Es sollte erst später ein Problem werden. Zunächst war es ein Vorteil. Ich musste nicht lässig und erfahren tun, und ich musste nicht unausgesetzt irgendwie witzig sein, nur damit kein peinliches Schweigen aufkam. Sicherheit gab uns, dass wir beide so unsicher waren, und Schweigen ging jederzeit als romantische Gestimmtheit durch. Junge Liebespaare und alte Ehepaare schweigen. Es hatte alles seine Richtigkeit. Wir torkelten vor Liebessehnsucht wie Bambi, lebten in animiertem Pathos wie Susi und Strolch.

Ich hatte sie nach einer Vorlesung angesprochen. Sie hatte rote Haare und wie viele Rothaarige eine sehr weiße Haut. Das gefiel mir nicht unbedingt, sie würde nie in die Sonne gehen können. Sie hatte traurige Augen, einen geradezu starren Blick. Das mochte ich auch nicht, ich wollte doch lernen, leichtlebig zu sein. Aber mein Gedanke war: Sie wird mich nicht demütigen.

Exkurs: Ich hatte damals, nach einem demütigenden Erlebnis, bereits über ein Jahr lang kein Mädchen mehr angesprochen. Es war in meinem letzten Schuljahr, als meine Mutter sich Sorgen zu machen begann, weil ich jeden Abend zu Hause im Schaukelstuhl saß, und nicht, wie andere in meinem Alter, ausgehen wollte. Hast du ein Mädchen?, fragte sie mich. Nein, sagte ich. Wie auch?, sagte sie. Hör zu! Heute abend gehört der Schaukelstuhl mir, ich schau mir im Fernsehen das neue Kabarettprogramm von Farkas an, und du gehst in eine Diskothek. Ein Junge in deinem Alter, der dauernd zu Hause herumsitzt, das ist doch nicht normal.

Max (ein Schulfreund von mir) darf nie in eine Disko gehen, sagte ich, er hat einen Riesenstreit mit seinen Eltern, weil sie ihn nicht weglassen.

Er will wenigstens. Und du darfst! Bis Mitternacht. Dann bist du verlässlich wieder zu Hause.

Sie steckte mir einen Geldschein zu.

Aber, sagte ich, wohin soll ich gehen? Ich kenne doch keine Disco!

Alle jungen Leute rennen jetzt in dieses Voom Voom, sagte sie, nahm ein Telefonbuch, suchte die Adresse heraus, erklärte mir, wie ich hinkomme.

Ja, sagte ich, Max hat vom Voom Voom erzählt.

Ich dachte, er darf nicht.

Er geht heimlich. Er sagt zu Hause, dass er bei einem Freund Mathe lernt und gleich dort übernachtet.

Mich musst du nicht anlügen. Du gehst jetzt ins Voom Voom. Und wehe, du belügst mich!

Auf dem Weg in die Disco dachte ich, dass Mutter wahrscheinlich recht hatte. Ich sollte wirklich endlich lernen – was? Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Ich dachte das tatsächlich so bürokratisch. Man könnte auch sagen: professionell. Als müsste ich, wie Vater, einen Artikel schreiben über das am meisten angesagte Tanzlokal der Stadt. Und dabei ein bisschen erotischen oder sexuellen Genuss mitnehmen.

Ich fand mich im Voom Voom nicht zurecht. Eine dunkle, fremde Welt mit Lichtblitzen. Die Zähne der Lachenden schienen blau. Aber die wenigsten lachten. Es herrschte eine Atmosphäre wie in einem Bergwerk. Hier musste eine sehr anstrengende Arbeit geleistet werden. Ich dachte immerzu nur: Was mache ich hier? Dann fiel es mir wieder ein. Das andere Geschlecht. Da sah ich ein Mädchen, das meine Aufmerksamkeit erregte. Ich fand schön, was als schön galt: schulterlanges Haar mit Mittelscheitel, Minirock. Immer wieder blitzte die große Schnalle ihres Gürtels im Disco-Licht. Sie wirkte gelangweilt. Geradezu verächtlich gegenüber dem Treiben rundum. Sie signalisierte, dass sie tiefer empfand und mehr wusste als all die anderen, die da herumsprangen und sich verrenkten. Ich begriff erst später, dass es damals dazugehörte, verächtlich zu wirken, gelangweilt, erhaben. Ständig musste man sich an Orte begeben, um dort zu demonstrieren, dass man es nicht nötig hatte, hierherzukommen. Es war eine Scheißzeit. Was waren das für Ängste, die sich hinter dieser demonstrativen kalten Gelangweiltheit versteckten? Ich sah die Ängste der anderen nicht, ich spürte nur meine eigenen.

Jetzt aber sah ich nur sie, das Mädchen mit der blitzenden Gürtelschnalle. Ich ging zu ihr hin, um sie anzusprechen. Als ich vor ihr stand, sie mich überrascht anschaute, fiel mir ein, dass ich mir nicht überlegt hatte, was ich sagen sollte. Die Musik war sehr laut. Also konnte ich zunächst gestikulierend so tun, als wäre es bei diesem Lärm unmöglich, etwas zu sagen. Aber es half nichts. Ich musste etwas sagen. Die laute Musik. Tanzlokal. Klar. Ich sagte: Willst du mit mir tanzen? Ich schrie es.

Sie sah mich an, von oben nach unten und wieder nach oben, nur ihre Augäpfel bewegten sich, dann sagte sie: Nein.

Seither weiß ich, dass die Seele keinen Sitz hat. Sie ist eine Flipperkugel. Sie schlägt an im Knie, klickt gegen die Hoden, stößt ans Zwerchfell, trifft das Herz, schlingert durch den Hals, prallt an das Hirn, fällt in ein Loch.

Ich hatte, vom Eintritt abgesehen, noch gar nichts ausgegeben. Ich hatte genug Geld für ein Taxi.

Jedenfalls, Helga war Jungfrau. Sie sagte, sie brauche noch etwas Zeit. Sie blickte dabei so traurig, als hinge die Entscheidung, mit mir ins Bett zu gehen, leider nicht von ihr, sondern von einer übergeordneten Macht ab. Das stimmte wahrscheinlich auch. Man hört oder liest ja oft, dass die Entscheidung, mit jemandem ins Bett zu gehen, nicht unbedingt vom eigenen Willen gesteuert ist. Mir war das jedenfalls recht. Ich hatte ja selbst keine Erfahrung. Ich hatte vor, in der Zeit, die Helga noch brauchte, eine Art Schnellkurs zu buchen, um nicht gleich beim ersten Mal bei meiner ersten Freundin völlig ahnungslos zu sein und womöglich zu versagen. Ich hielt mich bereit. Das führte zu gar nichts. Ich überlegte, in den Vorlesungen und Proseminaren die Mädchen anzusprechen, die mir gefielen. Aber ich wollte bloß eine erste Erfahrung, und keine zweite Helga. Ich plante, in ein Bordell zu gehen. Aber ich war zu feig. Ich hatte einen Freund, der sich von seiner Freundin trennte, um die ich ihn beneidet hatte. Listig tröstete ich sie. Sie weinte an meiner Schulter. Wir kamen uns rasch näher, aber nie in die Nähe des Bettes. Sie wollte erst ihre gescheiterte Beziehung verarbeiten. Ich bekomme heute noch Hautausschläge, wenn ich das nur höre: »Beziehung« und »verarbeiten«.

Und dann passierte es. Ich sollte für die Studentenzeitung eine Reportage über »Die neue Jugendkultur« schreiben. Ich war zu feig, um zu recherchieren. Ich schrieb aus der Erinnerung über das Voom Voom. Diese Reportage wurde ein fulminanter Erfolg – bei der Sekretärin meines Professors im Institut für Publizistik. Sie sprach mich darauf an. Der Satz »Nur wenn ich ein Tier wäre, würde ich den Vorwurf meiner Artgenossen, ich sei zu menschlich, verstehen« habe sie tief berührt. Sie erzählte mir, dass sie vor zwei Wochen im Voom Voom gewesen und dort als »Oma« verspottet worden sei. Ich fand das ungerecht. Sie hatte nichts von einer Oma. Sie hatte etwas Mütterliches. Sie war um die Dreißig. In meiner Erinnerung wird sie es immer bleiben. Sie könnte heute meine Tochter sein. »Ist in den letzten Jahren nicht unausgesetzt von Befreiung die Rede gewesen, bis hin zur freien Liebe? Was immer befreit wurde, die Liebe ist es nicht!« Berührt habe sie das, sagte sie. Sie hieß Frau Hader. Barbara. Und sie war offenbar gern berührt. Es genügte ein entsprechender Kalauer, kombiniert mit einem Blick der Unschuld, die ich ja wirklich noch hatte, und ich lag in dieser Nacht bei ihr im Bett. Ich war ahnungslos. Natürlich wusste ich grundsätzlich, worum es ging. Aber sonst wusste ich nichts. Ich dachte, dass der Begriff »Liebesnacht« bedeutete, dass man die ganze Nacht liebte. Ich war fassungslos, wie schnell das Grundsätzliche vorbei war. Das konnte ich nicht akzeptieren, dieses Versagen: Die Nacht war noch so lang. Ich war jung, zugleich sehr spät dran. Ich hatte also die Kraft der Jugend und den Druck eines Stausees. Heute noch wundere ich mich darüber, wie es mir damals möglich war, nur mit psychischer Anstrengung immer wieder aufs Neue einen physischen Muskel anzuspannen. Barbaras Keuchen erleichterte mir die Erregung. Aber bald wurde alles eins: Gelingen, Angst, Schmerz und Hass. Das Leiden unter Tag. Ich war auf eine Mine gestoßen, aber es war noch so lange hin bis zum Ende der Schicht. Unvorbereitet in einer Mathestunde. Bis jetzt bin ich gut davongekommen, aber noch so lange bis zum erlösenden Läuten. Marathon. Ich schüttete laufend Glückshormone aus, aber die Muskeln brannten schon, nie würde ich es ins Ziel schaffen. Hundert Liegestütze waren die Höchststrafe in der Schule gewesen, noch jeder ist unter dieser Anforderung zusammengebrochen. Hatte diese Strafe ein Training für die Liebe sein sollen? Für das Leben lernen wir? Ich weinte. Ich biss die Zähne zusammen. Ich wollte es schaffen. Ich bin immer brav gewesen. Hör auf, sagte Barbara, ich kann nicht mehr.

Aber noch immer nicht die Dämmerung, das Morgengrauen.

Das habe ich noch nie erlebt, sagte Barbara.

Ich schon. Nur noch nicht im Bett. Mich ekelte vor ihrem Schweiß. Sie drückte mein Gesicht gegen ihren nassen Busen, sagte »Lieber!«.

Was?, fragte ich.

Sie schlief schon. Was, dachte ich, wäre ihr lieber?

Es war finster zwischen ihren Brüsten. Ich hörte Vogelgezwitscher. Und sagte: Es ist die Nachtigall und nicht –

Sie schlief doch nicht. Du bist eine Kindsbestie, sagte sie.

Eine Woche später war Helga so weit. Ganz plötzlich. Allerdings ist es immer plötzlich, wenn eine Frau ja sagt. Wir sind im Kino gewesen. Fellinis Casanova. Ich hatte bei der Entscheidung, welchen Film wir uns ansehen, keine taktischen...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • Ehemann • Liebesbeziehung • Redakteur • ST 4040 • ST4040 • suhrkamp taschenbuch 4040 • Wien
ISBN-10 3-518-75853-5 / 3518758535
ISBN-13 978-3-518-75853-3 / 9783518758533
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