Keyserlings Geheimnis (eBook)

Roman

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31829-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Keyserlings Geheimnis -  Klaus Modick
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Klaus Modicks Bestsellerroman über Eduard Graf von Keyserling. Sommer 1901 am Starnberger See. Lovis Corinth porträtiert Eduard Graf von Keyserling, Schriftsteller und Dandy aus baltischem Adel, den seine geheimnisumwitterte Vergangenheit einholt, als unvermutet eine durchreisende Sängerin erscheint. Handelt es sich womöglich um jene Frau, die ihn vor mehr als zwanzig Jahren in den Skandal verwickelte, der ihn zur Flucht nach Wien zwang und in Adelskreisen zur persona non grata werden ließ? Geistreich, einfühlsam, voller Witz und Verve spürt Klaus Modick den emotionalen und gesellschaftlichen Widersprüchen der Jahrhundertwende nach und erzählt davon, wie ein Außenseiter zu jenem brillanten Schriftsteller wurde, der den Zerfall der eigenen Klasse mit Melancholie und scharfsinniger Ironie beschrieb. »Ein ganz hinreißendes Buch. Bei mir geht das sogar so weit, dass ich inzwischen gar nicht mehr genau unterscheiden kann, was die wahre Biographie Keyserlings ist und was ich durch Modicks wirklich kongeniale Sprache für Keyserling halte.« Florian Illies, Bayern 2

Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach diversen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nicolas-Born-Preis, dem Bettina-von-Arnim-Preis, dem Rheingau Literatur Preis und zuletzt dem Hannelore-Greve-Preis. Zudem war er Stipendiat der Villa Massimo sowie der Villa Aurora. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen »Der kretische Gast« (2003), »Sunset« (2011), »Konzert ohne Dichter« (2015) und »Keyserlings Geheimnis« (2018).  Zuletzt erschien »Leonard Cohen« (2020) und der Roman »Fahrtwind« (2021).

Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach diversen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nicolas-Born-Preis, dem Bettina-von-Arnim-Preis, dem Rheingau Literatur Preis und zuletzt dem Hannelore-Greve-Preis. Zudem war er Stipendiat der Villa Massimo sowie der Villa Aurora. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen »Der kretische Gast« (2003), »Sunset« (2011), »Konzert ohne Dichter« (2015) und »Keyserlings Geheimnis« (2018).  Zuletzt erschien »Leonard Cohen« (2020) und der Roman »Fahrtwind« (2021).

2


Der Sonnendunst eines Juninachmittags schimmert über der Stadt. Ein Himmel von blauer Seide, durch den weiße Schäfchenwolken flanieren und sich in den Atelierfenstern der Dachgeschosse spiegeln. Lässiges, hastloses Schlendern auf den Trottoirs, vorbei an Kunst- und Buchhandlungen, Damen- und Herrenausstattern, Antiquitätenläden, Cafés und Wirtshäusern. Eile, Erwerbsgier gar, spielen hier keine Rolle. Maler in von Farbklecksen dekorativ gesprenkelten Samtkitteln, die ihre Mieten schon mal mit Aquarellen begleichen. Erbschaften verzehrende, dem Schlendrian huldigende Lebenskünstler. Modelle der Kunstakademie und andere Mädchen mit unbedenklichen Sitten, die das Leben und die Liebe unbefangen nehmen und geben. Spinnerte Stifter schräger Religionen. Feuilletonisten mit lyrischen Ambitionen und Verbalanarchisten mit christlichem Sendungsbewusstsein. Genialische Musiker. Eifernde Lebensreformer, hagere Vegetarier und braun gebrannte Sonnenanbeter. Kosmogonische Erotiker und entlaufene, von Bildhauern, Dichtern oder verführerisch philosophierenden Sexualethikern umschwärmte höhere Töchter. Wild Gelockte, adrett Gescheitelte. Männer mit langen, zu Zöpfen gebundenen Haaren, Frauen mit männlichen Kurzhaarfrisuren. Samtkappen und breitkrempige Strohhüte, Schotten- und Baskenmützen, Jägerhüte mit Gamsbartschmuck, Hüte mit Blüten und Spitzen, mit Federn von Paradiesvögeln und afrikanischen Straußen. Einig ist man sich nur darin, dass jeder seine Aufmachung selbst bestimmt, geleitet von Eitelkeit, von Bequemlichkeit und manchmal sogar von Stilgefühl. Jede ist sich selbst die Schönste, jeder ist sich selbst der Größte. Ihren Auftritt, ihren Habitus und ihre Kleidung abweichend von der Norm so zu ziselieren, dass etwas Eigenes zu erkennen ist, lassen sich einige so viel Nachdenken kosten, dass darüber schon mancher Roman scheiterte, manch ein Bild ungemalt und die eine oder andere Symphonie unvollendet geblieben ist.

Keyserlings bedächtige, leicht schlurfende Schritte, synkopiert vom Takt des Spazierstocks auf dem Pflaster, harmonieren mit dem gelassenen Rhythmus, der das Schwabinger Lebensgefühl bestimmt. Er nickt vergnügt vor sich hin, fühlt sich wieder einmal in seiner Entscheidung bestätigt, hier seinen Wohnsitz genommen zu haben. Während der Italienreise vor zwei Jahren kamen ihm auch Florenz, Venedig oder Rom verlockend vor. Aber in Venedig müffelten die Kanäle allzu sehr nach Verfall, und Verfall kennt er schon zur Genüge. In Rom war es ihm zu heiß, und nachts zerstachen ihn Millionen Mücken. Und in Florenz hat ihm ein Dieb die Börse aus der Tasche gezogen. Bella Italia, schön und gut, aber München ist ihm gemäßer. Er schreibt ja Deutsch. Seine Romane und Geschichten brauchen deutsche Leser, seine Stücke deutsches Theater und Publikum.

Und Schwabing, diese Hauptstadt des Schlawinertums, passt ihm wie ein maßgeschneiderter Anzug. Schnell hat er Anschluss gefunden. Ein waschechter baltischer Graf und russischer Staatsbürger, der eines Tages wie aus dem Nichts auftaucht! Dazu ein veritabler Poet, dessen Drama Ein Frühlingsopfer im vergangenen Jahr auch in München für einiges Aufsehen gesorgt hat. Dass er lieber ein Leben im Geistesadel der Bohemiens und Schlawiner führt, statt seine Güter und Schlösser in Kurland zu verwalten, setzt allem die Krone auf und macht ihn zu einer stillen Attraktion. Märchenhaft reich ist er zwar nicht, aber lieber bescheiden und vornehm als einer der eitlen Parvenüs, die sich in den Cafés der Boheme anbiedern, indem sie sich noch karnevalesker kostümieren als die Maler und Dichter. Er hat es nicht nötig, sich als Künstler zu verkleiden – er inszeniert sich nicht. Ihm reicht es, ein höflicher, stilbewusster, geistreicher Mensch zu sein. Man sucht seine Nähe. Wem er das Du anbietet, fühlt sich geadelt.

Zwei seiner Schwestern führen ihm den Haushalt und engagieren sich ansonsten für die Missionierung der Heiden in den Kolonien. Doch über seine Vergangenheit weiß man wenig. In der Bodega hat er einmal eine allzu neugierige Schauspielerin mit den Worten abblitzen lassen, ein anständiger Mensch behalte neun Zehntel von dem, was er erlebt habe, was ihm durch den Kopf gehe oder ins Herz greife, für sich. Weil man ja schließlich niemanden langweilen oder verletzen wolle. Diese elegante Diskretion ist auch eine Diskretion in eigener Sache. Könnte sie nicht auf Abgründe hindeuten, auf Fehltritte, auf Peinlichkeiten, auf Verschwiegenes und Skandalöses? Es kursieren allerlei Gerüchte.

Seine Contenance ist mit Witz gewürzt. Im Café Stefanie hat ihn erst neulich der junge Sezessionsmaler Albert Weisgerber angesprochen: »Ach, Herr Graf, ich würde Sie zu gern porträtieren. Sie haben solch eine blödsinnig noble Haut, ganz wie zerknittertes Papier.«

»Nu, nu, Jungchen«, hat er da schmunzelnd geantwortet, »dann malen Sie doch lieber gleich die Münchner Neuesten Nachrichten von vorgestern.«

 

Er öffnet die Schwingtür zum Salon Georg Loibl – Herrenfriseur und Barbier, und die Türschelle begrüßt ihn, ta-ta-ta-taaa, mit den ersten vier Tönen von Beethovens Fünfter. Es riecht nach Eau de Cologne, nach frisch gewaschenen Leinenmänteln und Handtüchern, durchzogen von zartem Zigarettenrauch Sultan flor – Cigarettes des Princesses égyptiennes.

Herr Georg Loibl, Träger einer künstlerisch wallenden, dezent auftoupierten Haarkreation, die manche für eine Perücke halten, wieselt höchstpersönlich auf ihn zu, vollführt einen etwas zu tiefen Bückling. »Grüß Gott, der Herr Graf. Das Übliche?«

»Natürlich. Und lassen Sie doch endlich mal den Graf beiseite.«

»Sehr wohl, Herr Graf.«

Loibl komplimentiert ihn zum Frisiersessel vor einem Kristallspiegel, bindet ihm eine Krepppapierkrause um den Hals, wirft mit genialischer Geste den blütenweißen Umhang um seinen Oberkörper. Nun, denkt Keyserling, sieht er endgültig aus wie eine aufgewärmte Leiche. Loibl schlägt mit dem Pinsel in einer Porzellanschale Seifenschaum und sieht ihn dabei im Spiegel fragend an, als wartete er auf sein Stichwort.

Keyserling weiß, was Loibl hören will, und nickt. »Nur zu, Maestro, walten Sie Ihres Amtes.«

Loibl liebt es nämlich, als Maestro tituliert zu werden. Und solange der Herr Graf den Loibl Maestro nennt, solange wird der Loibl den Herrn nicht vom Grafen trennen.

Er legt den Kopf in den Nacken, als Loibl ihm nun die Wangen einseift, das Rasiermesser über den Riemen streicht und mit sicherer, fast zärtlicher Hand über die Haut zieht. Im Spiegel schielt er zum Kassentresen mit den Parfüms, Kämmen, Tinkturen, Bürsten, Pomaden, Wässerchen. Hier sitzt sonst immer dies entzückend junge, blond gelockte Mädchen, aber heute ist ihr Stuhl leer. Manchmal hat er sie heimlich und entsagungsvoll im Spiegel gemustert und dabei albern-kitschige Dinge gedacht wie etwa: »Dich wird wohl bald ein schneidiger Leutnant verführen, du Wunderschöne. Oder ein Fürst.« Einmal hat sie seinen Blick aufgefangen, hat ihn ertappt und den Blick so erwidert, als wollte sie sagen: »Sieh mich nicht so an, du armer hässlicher Alter. Vor mir liegt das Leben, das Leben und die Liebe. Weil ich schön bin. Weil ich jung bin. Weißt du das nicht?«

Er weiß es. Sein Freund Max Halbe, mit dem er sich nachher treffen wird, hat vor einigen Jahren ein Stück geschrieben, das ihm viel Ruhm und noch mehr Geld einbrachte. Ein Geniestreich mit dem unverschämt schlauen Titel Jugend. Warum Jugend so ein großes Thema ist? Weil jeder sie kennt. Und weil sie vergeht. Weil es nicht von Dauer ist, könnte auch Glück so ein Thema sein – nur dass, leider, nicht jeder das Glück kennt.

Loibl tupft ihm die Schaumreste aus dem Gesicht, klopft ihm sanft Rasierwasser auf Wangen und Hals.

»Sagen Sie mal, Maestro, wo ist denn die süße Mamsell abgeblieben, die da hinterm Tresen residierte? War ja ’ne wahre Zierde des Hauses.«

»Die Resi? Die hat geheiratet.«

»Ach was?«

»Ja, den Schorsch, den Sohn vom Huber, vom Metzgermeister –––«

Wie schade, denkt er, sagt aber nur: »Ach!«

Und so dreht Maestro Loibl heute höchstpersönlich die Kassenkurbel, bedankt sich tief dienernd fürs großzügig aufgerundete Entgelt. »Servus, Herr Graf!«

Ta-ta-ta-taaa –––

 

Wenige Schritte weiter hält er vor dem Schaufenster der Buchhandlung Goltz, zieht das Pince-nez aus der Anzugtasche, klemmt es sich auf die Nase und betrachtet die Auslage. Wenn das so weitergeht, wird er bald eine Lupe brauchen. Der Augenarzt spricht zwar, dezent, wie er ist, nicht von schleichender Erblindung, vermeidet jedoch auch jede optimistische Prognose. Bedauerlicherweise sei das Nachlassen der Sehschärfe ein typisches Symptom der Krankheit, des Grundübels sozusagen, vielleicht auch eine Nebenwirkung des Quecksilbers.

Wem also gönnt der kluge Herr Goltz derzeit einen Platz in der Ehrenloge seines Schaufensters?

Götzen-Dämmerung, Jenseits von Gut und Böse. Kein Buchladen, der etwas auf sich hält, kann heutzutage auf Nietzsche verzichten. Vor einem Jahr ist der Philosoph gestorben, geistig umnachtet, wie man das so nennt. War ja ein Leidensgenosse. Hoffentlich endet er nicht selbst in solch radikaler Finsternis, erblindet und umnachtet.

Sigmund Freud, Die Traumdeutung, sieh an. Davon hat sein Freund Peter Altenberg erzählt, als er neulich in München vorbeischaute. Er verstehe ja nichts von Psychologie, weil er nur ein kleiner Schreiberling sei, aber dieser Freud sei unbedingt beachtenswert.

Effi Briest....

Erscheint lt. Verlag 8.3.2018
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bohème • Eduard von Keyserling • Frank Wedekind • Impressionismus • Konzert ohne Dichter • Künstler-Roman • Lovis-Corinth-Porträt • Max Halbe • Skandal • Wellen
ISBN-10 3-462-31829-2 / 3462318292
ISBN-13 978-3-462-31829-6 / 9783462318296
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