Liebesarten (eBook)

und andere Geschichten vom Leben

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
304 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-21928-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Liebesarten -  Ulla Hahn
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'Wunderbare kleine Geschichten voller Sehnsucht, Zärtlichkeit und Leidenschaft.' Madame
In jedem Leben gibt es Wendepunkte, nach denen nichts mehr so ist wie zuvor - war das Glück überwältigend, wird es plötzlich brüchig, selbstlose Hingabe wechselt in eitle Eigenliebe, Leidenschaft wird Verzweiflung. Ulla Hahn erzählt von diesen Wendepunkten, und jeder Wendepunkt stellt eine Variation auf die Liebe dar. Das sind bestrickende Geschichten über die Sehnsüchte, die nur manchmal erfüllt werden, über die Siege und Niederlagen des Zusammenlebens, über Zuwendung und Zärtlichkeit. Mitreißend und doch empfindsam, nahe, aber nie indiskret erzählt Ulla Hahn aus unserem Leben.

Neben bisher unveröffentlichten Erzählungen versammelt dieser Band auch Texte, die schon unter dem Titel »Liebesarten« publiziert wurden.

Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Schon ihr erster Lyrikband, »Herz über Kopf« (1981), war ein großer Leser- und Kritikererfolg. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch«, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei, »Spiel der Zeit« (2014), begeisterte Kritiker wie Leser. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm. Zuletzt erschien 2021 ihr Gedichtband »stille trommeln« mit Gedichten aus 20 Jahren.

In den Dünen

Schon seit über einer Stunde läuft der Mann durch die Dünen vor meinem Fenster, hinauf und hinunter, ist für eine Weile verschwunden und taucht wieder auf wie aus Wellenbergen. Dünen, hatte Eva gesagt, sind die Kinder von Erde und Meer.

Ich bin seit vielen Jahren nicht mehr auf der Insel gewesen. Damals war ich durch die Dünen gelaufen wie heute der Mann in der hellen Windjacke und den braunen Hosen, damals, als man noch einfach draufloslaufen konnte, den Sand lostreten und hinabgleiten durfte und nicht wie heute gezwungen ist, vorgezimmerten Wegen zu folgen.

Der Mann da draußen läuft, wie ich damals gelaufen war, hastigen Schritts, schnell, aber nicht leicht, nicht unbeschwert, als schleppte er eine unsichtbare Last mit sich, wohin er auch immer liefe. Ein Eindruck, der sich verstärkt durch das unregelmäßige Auf und Ab in den sandigen Fluten, die Ziellosigkeit einer kopflosen Flucht.

Auch ich war damals so hin- und hergewechselt zwischen Dasein und Wegsein, war über die Insel gelaufen, den Strand entlang hinauf zum Ellenbogen und wieder zurück ins Dorf, in den Schutz der Reetdächer, hatte die Fäuste um das harte Gras im klammen Sand gekrampft, bis es durch die Haut schnitt, und ihrer beider Namen gebrüllt. Geflohen war ich, hierher geflohen aus der Stadt, von zu Hause und von Nicht-zu-Hause – »Mein Mann ist nicht zu Hause. Nein, ich weiß nicht, wann er wiederkommt« –, und hier floh ich weiter, vor mir, vor meiner Frau und vor Nicht-meine-Frau; vor der Entscheidung.

War ich nicht glücklich gewesen mit Eva? Eva mit ihren winzigen Füßchen, Eva so schmal, dass sie in eine Jungenhose passte, Eva, die auch im Bett verspielte Kinderzärtlichkeiten allen anderen vorzog. »So kann es ja noch mit siebzig sein«, hatte ich oft gescherzt; und sie darauf, sich ankuschelnd wie eine Dreijährige: »Warum so lange warten?«

Damals waren wir beide erst Anfang vierzig. Kinder hatten wir keine; es lag an mir. Ja, ich war glücklich mit Eva, liebte sie und liebte meinen Beruf, hatte an meiner Universität gerade nach einer C3- eine C4-Professur bekommen, und die Mittel für mein Forschungsprojekt »Die deutsche Literatur in der Nachkriegszeit« standen kurz vor der Genehmigung. Eva, Germanistin wie ich und Lehrbeauftragte am Institut, würde mich bei dieser Arbeit unterstützen. Ich vermisste nichts.

Als Kind hatte ich mir beim Sturz von einer Kastanie einen Wirbel unterhalb des Nackens angebrochen. Er war gut verheilt, doch wenn ich zu lange am Schreibtisch saß, brauchte ich Massagen.

Diesmal empfing mich nicht wie gewöhnlich mein robuster Muskelmann, sondern eine junge Frau, die allerdings nicht weniger zupackend wirkte. Und es auch war. Ob es an ihren energischen Handgriffen lag, wer weiß, jedenfalls kam ich, als sie mir mit einem Klaps aufs Steißbein das Ende der Behandlung zu verstehen gab, nicht mehr hoch. Hexenschuss. Sie fuhr mich zum Arzt, ich kriegte eine Spritze, wir gingen Kaffee trinken.

Danach behandelte sie mich vorsichtiger, behutsam, fast zärtlich, verhätschelte mich nach den Regeln ihrer Kunst, und nach ein paar Behandlungen glaubte ich zu träumen, als ich spürte, dass sich ihre Fingerspitzen übers medizinisch Notwendige hinaustasteten. Wie im Kitschroman, hatte ich noch gedacht und mich ihr dann lustvoll genießend überlassen.

Zu Hause lag die Ausrede nahe. Die Vorbereitung des Forschungsprojekts war in der Endphase und leider, ja leider, Evas Planstelle doch nicht genehmigt worden. Stunden, Nachmittage, Abende, dann auch Wochenenden verbrachte ich mit der schönen, geschickten Masseurin. Gertie mit den großen Füßen, den großen, kräftigen Händen, dem großen Mund, der am schönsten war, wenn er küsste und schwieg. Schon wenn er lachte, war das mitunter zu viel, zu laut und über Dinge, die mich irritierten. Ich schob es ihrer Jugend zu. Gertie war zwanzig Jahre jünger als Eva und ich, dachte bei Schiller an Schillerlocken, geräucherten Fisch, und bei Goethe an den ICE nach Frankfurt. Von meinen Leistungen im Bett gab sie sich hingerissen, und dass ich verheiratet war, schien sie hinzunehmen, als litte ich an einer unheilbaren Krankheit oder hätte einen Arm zu wenig, ein Bein zu viel. Entzündet von Gertie, versuchte ich anfangs, das heimische Feuer an meiner aushäusigen Glut neu zu entfachen. Doch Eva nahm meinen unverhofften Ansturm mit amüsierter Abwehr entgegen und war froh, dass ich mich bald wieder mit Kraulen und Küsschen zufriedengab.

Eva nannte mich bei meinem preußisch korrekten Namen: Friedrich. Machte zwei weiche, friedliche Silben daraus. »Friedrich heißt man mit siebzich«, hatte Gertie gespottet und mich Freddy getauft. Zwei Namen, zwei Leben. So unterschiedlich wie die Frauen, die mir die Namen gaben, die zu ihnen passten und zu mir. Freddy, der Spaßvogel und Draufgänger; dass ich so gar nichts von einem Professor an mir hätte, war Gerties höchstes Lob. Eva hingegen liebte ihren Friedrich, ein wenig steif, sogar pedantisch, Bücherwurm und zerstreuter Professor. Und ich liebte es, mit beiden Namen beide Leben zu leben.

Auch auf die Insel war ich in jenen Monaten mit jeder gefahren. Mit Gertie nach Westerland, wo wir bis weit in die Nacht in Discos verschwanden, faul in der Sonne brieten, einkauften und im feinsten Gasthof speisten. Es schmeichelte Gertie, dass der Besitzer persönlich an unseren Tisch kam, und es gefiel ihr noch mehr, dass er sie für meine Frau hielt. Ich hatte ihm am Telefon einen Wink gegeben.

Eva sagte nichts, als ich von diesem Kongress gebräunt und aufgekratzt zurückkam. Sie war bei ihrer Schwester gewesen, deren Krebs wieder gestreut hatte, und nahm meinen vom schlechten Gewissen spontan diktierten Vorschlag, demnächst ein Wochenende auf der Insel zu verbringen, mit argloser Freude an.

Westerland verachteten wir beide, zogen uns in ein Reetdachhaus zurück, liefen morgens in die aufgehende Sonne an den Strand, seinen wellengezeichneten Sand, saßen im Strandkorb und japsten.

»Kneif die Augen zusammen und denk, du fliegst im Ballon«, hatte Eva am letzten Morgen gesagt, »dann sieht der Sand hier aus wie ein riesiges Wüstengebirge.«

Ich hatte ihre kleine Hand in die meine genommen. Im Gegensatz zu Gertie, die Schmuck – von Plastik bis Diamanten – liebte, trug Eva nur ihren Ehering, und diesen Ring hatte ich angesehen, als hätte ich ihn ihr gerade angesteckt. Bis dass der Tod euch scheidet.

Gertie war nach diesem Wochenende mit Eva nicht mehr die Alte. Wie immer lag sie verführerisch entbekleidet auf der Couch, Champagner, gedämpftes Licht, das rote hatte ich ihr abgewöhnt, alles wie immer. Nur trug sie, was ich aber erst auf einen dritten, vierten Blick bemerkte, keinen Schmuck, bis auf den einen Ring, den ich ihr auf der Insel geschenkt hatte. Sie trug ihn am rechten Ringfinger. Die Steine, ein Achat und zwei kleine Brillanten, nach innen gedreht.

Diese Hand rückte sie wie unabsichtlich immer wieder in mein Blickfeld; sah ich auf ihren Oberschenkel, lag dort die Hand, schaute ich auf ihr von schwarzen Spitzen umsäumtes Dekolleté, machte sie sich dort zu schaffen. Die Hand, wie gesagt, eine große, kräftige, zupackende Hand, sah mit dem schlichten Goldreif ernsthaft und verletzlich aus. Eine Ernsthaftigkeit, die so weit ging, dass ich dachte, legal, eine legale Hand, und dass ein Ehering an der Hand einer Frau wirkt wie eine rote Ampel. Ich tat, als merkte ich nichts, und sie sagte nichts. Das überließ sie dem Ring.

Seit diesem Abend entwickelte sie nun doch dieses Gefühl, dessen Abwesenheit unser, vor allem aber mein Leben so einfach hatte sein lassen: Eifersucht. Und zwar in einem Tempo, als wollte sie etwas wettmachen. Wen ich mehr liebe, sie oder Eva, fragte sie, mich mit Küssen und Handgriffen überschwemmend, und wenn ich mich mit der ewigen Ausflucht aller treulosen Ehemänner herauswinden wollte, das könne man doch nicht vergleichen, entzog sie sich mir so lange, bis ich, außer mir vor Begierde, »Dich!«, schrie, »dich dich dich«, und dabei die Wahrheit sagte und log in einem Atemzug. So, wie wenn ich Eva meine Einzige nannte, was ich nun so oft tat wie nie zuvor.

Das ging so fast anderthalb Jahre. Mein Forschungsprojekt war längst genehmigt, mein Büro in der Uni der einzige Ort, wo ich mich sicher, meine Arbeit die einzige Zeit, in der ich mich frei fühlte. Dann begann Gertie, entgegen unserer Abmachung, dort anzurufen, auch übers Sekretariat, beteuerte mir mitten in die Vorbereitung eines Seminars über die Moralvorstellungen bei Heinrich Böll, ohne mich nicht mehr leben zu können, ihr Leben verrausche, ja, verrausche, sagte sie, sie hatte begonnen zu lesen, mir zuliebe, ebenbürtig wolle sie mir werden, die Steine nach innen gedreht.

Als ihre Anrufe auch nach Hause kamen und meine Frau zum wiederholten Mal den schwachen Witz von der verliebten Studentin gemacht hatte, die auflege, wenn der Hausdrachen abnehme, stieg ich eines Morgens statt in die U-Bahn zur Uni in den Zug. Kaufte mir in Westerland Zahnbürste, Rasierzeug und Pyjama und quartierte mich in einem Hotel bei den Reetdachhäusern ein. Es war Herbst, und die Touristen, damals längst nicht so viele wie heute, waren schon wieder in ihren Städten. Nasskalter Niesel, Hamburger Schmuddelwetter bis an die Nordsee.

Aber ich war, kaum hatte ich die Aktentasche aufs Bett geworfen, einfach losgerannt, im Anzug und in feinen Schuhen, in meinen dünnen, hellen Popelinmantel gewickelt. Hatte mir, kaum aus der Tür, die Krawatte vom Kragen gerissen und dem Wind entgegengeworfen, der sie begierig ergriff und in die Dünen trug, wo ich sie anderntags wiederfand, verfangen in den Dornen der wilden Rosen. Mene mene tekel, hatte ich...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2017
Reihe/Serie Erzählungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestsellerautorin • Deutsche Gegenwartsliteratur • eBooks • Frauengeschichten • Hannelore-Greve-Literaturpreis • Lebensgeschichten • Liebesgeschichten • Liebesromane • Paargeschichten • Short Stories • Singledasein • Suche nach dem Glück
ISBN-10 3-641-21928-0 / 3641219280
ISBN-13 978-3-641-21928-4 / 9783641219284
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