Schlick (eBook)

Roman

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2017 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1631-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schlick -  Ada Dorian
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Ada Dorian erzählt poetisch von zwei Frauen, deren Einsamkeit sie verbindet. Ein Toter und zwei Lebende auf einem Bild. Vater, Mutter, Kind. Dieses Foto hätte es so gar nicht geben dürfen - und doch hing es wie selbstverständlich jahrzehntelang in dem Haus, in das Svea mit ihrem Neugeborenen einzieht. Während sie mit ihrem eigenen Leben hadert, ist Svea fasziniert von Helene, der Frau auf dem Bild. Ein poetischer Roman über zwei Frauen, die sich verblüffend ähnlich sind, obwohl sie hundert Jahre trennen, über die Konstruktion von Erinnerungen und darüber, wie viel Ungesagtes eine Familie verträgt.

Ada Dorian, geboren 1981, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie. Sie forschte in Osnabrück über Erich Maria Remarque, wo sie nach langem Aufenthalt in Hamburg lebt. Sie gewann den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg 2009, ist Trägerin des Literaturstipendiums des Landes Niedersachsen 2016 und war nominiert für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2016.

Ada Dorian, geboren 1981, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie. Sie forschte in Osnabrück über Erich Maria Remarque, wo sie nach langem Aufenthalt in Hamburg lebt. Sie gewann den Literaturförderpreis der Stadt Hamburg 2009, ist Trägerin des Literaturstipendiums des Landes Niedersachsen 2016 und war nominiert für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2016.

DURCH DIE GEÖFFNETEN Fenster war die entfernte Autobahn wie Meeresrauschen zu hören. Doch Svea ließ sich nicht täuschen. Sie fingerte im Ausguss des Waschbeckens. Mithilfe einer Gabel zog sie scheinbar endlos lange Haare aus dem Siphon. Sie waren dunkel und ihrem eigenen Haar so unähnlich, dass sie schauderte. Die schleimige Masse, die an den Zinken hing und stank, ließ sich tief im Innern nicht lösen. Sie bekam das Übel nicht zu fassen. Als wäre ein ganzer Mensch mit Haut und ebendiesen Haaren in dem Rohr verendet.

Die Nacht war endlos gewesen, langweilig und entkräftend zugleich. Sie hatte wachgelegen und an die andere Seite der Welt gedacht. In Gedanken war sie dorthin gereist, in den Tag, ins Licht. Sie fand Christian in der vermuteten Helligkeit, im Tag auf der abgekehrten Seite der Erde. Wie vor einem Spiegel stand sie vor ihm. Sein Gesicht war nah, sie konnte seinen Atem auf ihren Lippen spüren, konnte ihn riechen. Sie spürte das Versprechen von Wärme. Sein Gesicht, sein Geruch, seine Wimpern. Svea sehnte sich nach seinen Augen mehr als nach seinem Mund, sie sehnte sich danach, von ihm gesehen zu werden. Und sie hoffte, dass er etwas anderes in ihr sah als sie in sich selbst. Svea wollte zu ihm, zu dem, der ferner nicht hätte sein können in diesem Augenblick. Sie wollte seine Lider küssen, nicht seine Lippen, wollte, dass diese Augen ihr gewogen waren. Doch noch bevor sie seine Haut berühren konnte, hatte er sich aufgelöst, war in der Dunkelheit um sie herum nicht mehr existent.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, in der Nacht aufgestanden zu sein, sich bewegt zu haben, auch wenn das nicht sein konnte. Als hätten nur ihre Lider geschlagen, als wären nur ihre Blicke gewandert, von links nach rechts entlang der Deckenvertäfelung. Wie dicht Erschöpfung und das Gefühl von Reglosigkeit beieinander liegen konnten. Alles wirkte wie verlangsamt. Die Nacht hatte sich lediglich in Zeitlupe vorwärtsbewegt, war dem Zeiger ihres Weckers hinterhergeschlichen. Der warme Morgen kündigte bereits die Hitze an, die selbst für den Monat Juli ungewöhnlich war. Sie ließ von dem Waschbecken ab, schloss die Badezimmertür, als könne der Geruch ihr folgen, und stieg die Treppe hinunter. Durch die geöffnete Schlafzimmertür hörte sie das Baby schreien.

In den vergangenen Wochen hatte sie gelernt, die Ohren taub zu stellen. Sie hielt sich die Ohren nicht zu, drückte nicht den Zeigefinger in die Ohrmuschel, sondern verschloss sich von innen. Sie schaltete das Geschrei ab. Es funktionierte wie der Ausweg aus einem Albtraum. Sie musste nur fest genug jeden Muskel ihres Körpers anspannen, und schon war es still. Dass es nicht wirklich still war, sie nur sich selbst zu täuschen vermochte, merkte sie spätestens bei der nächsten Unachtsamkeit. Ein entspannter Gesichtsmuskel, eine erschlaffende Hand, und schon war sie wieder in der Wirklichkeit.

Sie hatte alles versucht. Drei Tage und Nächte hatte sie das Kind herumgetragen. War treppauf und treppab gelaufen, hatte geschuckelt und gesungen, den kleinen Körper fest gewickelt und wieder befreit. Sie hatte den winzigen im Schrei verzerrten Mund zum Trinken animiert, ihm ihre Milch angeboten. Schlaftrunken hatte sie nachts mit schwindender Kraft das Kind durch den aufgeheizten Garten getragen. War unter den alten Apfel- und Pflaumenbäumen im Kreis gelaufen, vorbei an den Rosen, die selbst nachts einen benebelnden Duft verströmten. War die Stufen zur Terrasse rauf und wieder runter gestiegen, hatte Kornkreise in das hohe Gras getreten.

In einer der durchwachten Nächte hatte ein Hund in der Dunkelheit am Zaun gestanden. Sie hatte ihren federnden Gang durch den Garten unterbrochen, innegehalten und das Tier angesehen. Die Müdigkeit lenkte ihre Gedanken, und so meinte sie, dass dieser Hund auch sie ansah, sie wirklich betrachtete, sie und Linus. Und sie fragte sich, was er sah. Svea machte einige schnelle Schritte in Richtung Zaun, woraufhin die Augen des Tieres im Dunkeln abtauchten. Lediglich ein Rascheln verriet, in welche Richtung es verschwand. In dieser Nacht war Svea durch das hohe Gras am Rande der überwucherten Beete gelaufen, bis ihre Beine von Mücken zerstochen waren.

Erschöpft kramte Svea in den Kisten und Kartons, die sie in der Speisekammer verstaut hatte. Sie fand einen Grillspieß, der noch aus Christians Wohngemeinschaft stammen musste. Da sie nichts auftreiben konnte, das ihr tauglicher erschien, stieg sie die Treppe wieder hinauf. Im Ausguss stand noch immer der Rest des Waschwassers. Seit das Kind da war, fiel ständig Wäsche an. Bei den Temperaturen wäre alles schnell getrocknet, doch die Waschmaschine war noch nicht angeschlossen, Christian hatte es vor seiner Abreise vergeblich versucht. Svea fragte sich, wie das werden sollte, sie beide, nein, sie drei, in diesem riesigen Haus, und nichts funktionierte. Nachdem das Waschbecken in der Küche und anschließend auch das im Keller, ihr Schmutzwasser zu fressen verweigert hatten, war nun auch der Abfluss im großen Bad verstopft. Morgen würde sie sich über der Badewanne die Zähne putzen müssen, anschließend das Kind darin baden und später die vollgespuckten Tücher darin auswaschen. Sie betete, dass wenigstens die Wanne ihren Zweck erfüllen würde, bis Christian wieder da war. Drei Wochen noch. Svea beugte sich über den Ausguss, ballte beide Fäuste um den Spieß und stocherte senkrecht im Schlick. Aus dem Siphon war ein Gurgeln zu hören, und der Wasserspiegel sank um wenige Zentimeter. Sie versuchte es noch einmal, doch der Knoten aus Haar und Seife schien sich in der Tiefe verhakt zu haben.

Svea dachte an Annika und daran, was sie von alldem halten würde. Annika, die immer alles im Griff hatte. Das darfst du nicht. Einer von Annikas Lieblingssätzen. Schon als Jugendliche hatte sie das oft gesagt. Wie kannst du nur? Auch so ein Satz. Als wäre sie Sveas Mutter und nicht die kleine Schwester. Opas Zigaretten hinter dem Gartenhaus rauchen. Das darfst du nicht. Bauchfrei in die Diskothek. Das darfst du nicht. Ausziehen, Party machen, das Studium schleifen lassen, viele Männer haben, schwanger sein, ohne feste Partnerschaft. Das darfst du nicht. Ihre Schwester sagte es nicht, um ihr etwas zu verbieten – auch Annika wusste, dass sie das nicht konnte –, sondern um ihre Zugehörigkeit zu den Eltern zu betonen. Svea war meilenweit von ihnen dreien entfernt gewesen, immer schon. Annikas klare Stimme, eine Nichtraucherstimme, die jünger klang, als sie es war, hallte in ihrem Kopf nach.

Nur ein einziges Mal war Svea in Annikas Haus gewesen. Ein adrettes Haus, Neubau, mit einem von den Pflasterarbeiten übriggebliebenen Sandberg im Garten.

»Wird Montag abgeholt«, hatte Annika sich entschuldigt, »da kommt dann der Teich hin.«

Da waren die Zwillinge gerade geboren. Zu ihrer Taufe hatte es für Svea keine Ausrede gegeben, obwohl sie nicht Patentante wurde. Annika hatte sie nicht gefragt, und Svea war froh darüber gewesen. Als Einzige hatte sie an diesem Tag schon vor elf Uhr morgens Wein getrunken.

Svea konnte sich nicht helfen. Der riesige Flachbildfernseher ließ darauf schließen, wie Annika und Jan ihre Abende verbrachten. Svea verabscheute die Langeweile, für die ihre Schwester sich entschieden hatte. Annika benahm sich schon jetzt älter, als Svea jemals werden wollte.

Wenn sie sich ansah, wie Annika lebte, wollte sie Dinge sagen wie: Das darfst du nicht, du wirfst dein Leben weg. Und: Wie kannst du nur, es langweilt mich schon beim Zusehen zu Tode.

»Jetzt machst du es wie Mama und Papa« war alles, was sie sagte. Annika hatte sich angegriffen gefühlt und Svea gebeten zu gehen. Seitdem hatten sie sich nicht gesehen. Annika würde sie von sich aus nicht wieder in ihr Haus einladen. So viel war klar.

Ihre Mutter hatte Svea vor dem Ende der Feier nach Hause gefahren. Mit einem einzigen Satz hatte sie den Lebensstil der gesamten Familie in Frage gestellt. Ursel, die von der Kritik ebenso getroffen war, schien in diesem Augenblick weit weg zu sein, obwohl sie neben Svea im Wagen saß.

Svea stocherte im Ausguss und fluchte leise. Sie legte den Spieß auf die Ablage oberhalb des Waschbeckens und sah in den Spiegel. Dieser zeigte jemanden, den sie seit Tagen nicht gesehen hatte. Bis auf die prallen Brüste fand sie sich mager, geradezu ausgezehrt. Ihre Wangen waren eingefallen, und die Schatten unter ihren Augen schimmerten bläulich. Es sah aus, als würde sie durchsichtig werden, sich auflösen. Und das lag nicht nur daran, dass sie übermüdet war. Schlafentzug konnte sie wegstecken, das wusste sie.

An der Uni hatte sie ihre Tage, und mehr noch ihre Nächte, vor allem mit müde dreinblickenden Langzeitstudenten verbracht. Sie hatte unregelmäßig Vorlesungen besucht und in einer winzigen Wohnung mit nur einem einzigen Zimmer gewohnt. Christian, den sie am Anfang lediglich aus der Ferne beobachtete, hatte stets ausgeschlafen gewirkt. Nicht, dass es nicht genügend andere fleißige Studenten an der Uni gegeben hätte, jene, die deutlich vor c.t., also bereits zur vollen Stunde in den Sälen saßen, mit den abgetippten und ausgedruckten Mitschriften der letzten Vorlesung. Jene, die um acht Uhr bereits gekämmt waren, gefrühstückt hatten und die Tüte mit Kaubonbons abwiesen, die Svea während der endlosen Monologe der Lehrenden durch die Bankreihe reichte. Christian jedoch gehörte weder zu den Strebern noch zu den Langzeitstudenten, die ihr Geld damit verdienten, dass sie nachts in Clubs an der Garderobe arbeiteten, oder besser noch, an der Bar.

Christian, das hatte sie beobachtet, bestellte in der Mensa nie das Kateressen wie die Jungs, mit denen Svea den Tisch...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alleinsein • Angst • Baby • Befreiung • Betrug • Betrunkene Bäume • Buch 2017 • Die Geschichte eines neuen Namens • Einsamkeit • Elena Ferrante • Emanzipation • Erinnerung • Erster Weltkrieg • Familie • Familienfoto • Frauen • Gefallen • Gegenwart • Gegenwartsliteratur • Geheimnis • Homosexualität • Hunger • Kinder • Konstruktion von Erinnerungen • Krieg • Lesbische Liebe • Liebe • Neu 2017 • Neuerscheinung 2017 • Neuerscheinungen 2017 • Norddeutschland • Russland • Schützengraben • Tod • Vater Mutter Kind • Verrat • Westfront • Zwangsarbeit • Zwangsarbeiter
ISBN-10 3-8437-1631-5 / 3843716315
ISBN-13 978-3-8437-1631-4 / 9783843716314
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