Stadt aus Rauch (eBook)

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2017 | 1. Aufl. 2017
668 Seiten
Bastei Entertainment (Verlag)
978-3-7325-4785-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stadt aus Rauch - Svealena Kutschke
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Wild und wunderbar. Ein Roman von großer Schönheit und Poesie. Taiye Selasi

Lucie wird in einer eisigen Winternacht in der Trave geboren, mit einer Gabe, die für die kommenden Generationen Segen und Fluch sein wird. STADT AUS RAUCH ist ein faszinierendes Epos einer Familie, auf die die Wirren des 20. Jahrhunderts ihre langen Schatten werfen. Von großmäuligen Denunzianten und kleinmütigen Helden, von Bürokraten des Verbrechens und Hochstaplern der Kunst, von der Verführung des Faschismus und vom Schweigen derer, die glauben, schuldlos zu sein: Die Tragödie eines ganzen Jahrhunderts spiegelt sich in der eigentümlichen Welt von Lübeck, wo Historie von Seemannsgarn kaum zu unterscheiden ist. Ein mitreißendes literarisches Wagnis.



<p>Svealena Kutschke ist in Lübeck geboren und studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim. Sie ist Preisträgerin des Open Mike der Berliner Literaturwerkstatt 2008. Ein Jahr später erschien ihr Debüt <strong>Etwas Kleines gut versiegeln</strong>. Sie erhielt das Berliner Senatsstipendium, das Arbeitsstipendium der Stiftung Schleswig-Holstein und Aufenthaltsstipendien in China, Polen und Kroatien; ihre Beiträge erscheinen in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien. 2013 erschien ihr zweiter Roman <strong>Gefährliche Arten </strong>im Eichborn Verlag.<br></p>

Svealena Kutschke ist in Lübeck geboren und studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim. Sie ist Preisträgerin des Open Mike der Berliner Literaturwerkstatt 2008. Ein Jahr später erschien ihr Debüt Etwas Kleines gut versiegeln. Sie erhielt das Berliner Senatsstipendium, das Arbeitsstipendium der Stiftung Schleswig-Holstein und Aufenthaltsstipendien in China, Polen und Kroatien; ihre Beiträge erscheinen in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien. 2013 erschien ihr zweiter Roman Gefährliche Arten im Eichborn Verlag.

KAPITEL 1


Magdalena stand am Ufer der Trave und schaute auf die schwarzen Wellen, die an ihren Füßen leckten. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, älter als das 20. Jahrhundert, nicht alt genug, dem Teufel gegenüberzutreten.

Der Teufel stand auf der anderen Seite der Trave, Schnee fiel durch seinen Körper, Magdalena sah ihn an, und das Ungeborene in ihrem Leib öffnete die Augen.

Letzte Nacht war die Trave über die Ufer gestiegen, die Treppen der Häuser an der Obertrave emporgekrochen, hatte die Sandsäcke durchweicht, war in die Dielen geflossen und hatte die beiden einzigen Keller gefüllt, die es an der Obertrave gab. Als das Wasser langsam zurückwich, ließ es ertrunkene Ratten, aufgeweichte Rechnungsbücher und verrostetes Werkzeug zurück. Und Magdalena. Sie saß auf dem Boden zwischen drei Bierfässern, zwei schwammigen Brotlaiben und einem glitschigen Schinken, die Beine lang ausgestreckt, die Hände blau vor Kälte, aber zu Fäusten geballt. Als das Hochwasser kam, hatte sie sich im Keller der Gastwirtschaft in der Hartengrube hinter den Bierfässern versteckt, fest entschlossen zu sterben. Die Männer hatten den Weinbestand gerettet, Fässer mit gesalzenem Hering und die meisten Räucherwaren. Aber als sie das erste Bierfass die schmale Stiege hinaufwuchteten, war das Wasser bereits in die Gasträume gesickert. Sie schlossen die Kellertür, stapelten Sandsäcke davor und hofften.

Das tat auch Magdalena. Oben beteten die Männer um einen glimpflichen Verlauf, unten ersehnte Magdalena eine mächtige, erlösende Flut. Aber das Wasser sickerte in dünnen, trüben Strahlen in den Keller. Als der Pegel ihre Oberschenkel bedeckte, war Schluss. Einer weniger Entschlossenen hätte die Gemächlichkeit des ansteigenden Wasserspiegels wahrscheinlich den Lebenswillen zurückgegeben. Aber Magdalena fürchtete das Leben, besonders das ungeborene, mehr als den Tod. Sie war vielleicht nicht entschlossen genug, in einer Pfütze zu ertrinken, aber dafür, sich nicht von einem einzigen missglückten Versuch von ihrem Vorhaben abbringen zu lassen, reichte es.

In der nächsten Nacht ging sie zum Wasser hinunter. Wenn die Trave nicht zu ihr kam, musste sie eben zur Trave.

Sie stand am Ufer neben der Dankwartsbrücke, ein paar bleiche Sterne spiegelten sich auf der Wasseroberfläche. Hätte Magdalena Angst vor der Hölle gehabt, hätte ihr dieser Anblick vielleicht geholfen. Den Teufel austricksen, sich von der Trave einen direkten Zugang zum Himmel verschaffen, etwas in dieser Art, sie hatte aber keine Angst vor der Hölle. Sie glaubte nicht an die Hölle, was Grund genug war, genau dort zu landen, so hatte sie den Pastor verstanden. In ihrem Fall gab es mehr als diesen einen Grund.

Der Teufel stand auf der anderen Seite der Trave, klopfte eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie zwischen die Lippen, nahm eine Schachtel Zündhölzer aus der Tasche seines Fracks und strich eines an. Der Schein der Flamme schälte sein Gesicht aus der Nacht, sein schwarzes zurückgekämmtes Haar, den dichten Bart, die gleißend blauen Augen, die rotgeschminkten Lippen. Die Hand mit den langen, rotlackierten Fingernägeln. Er zündete die Zigarette an, der Schein der Glut erhellte das ganze Viertel. Es begann mit einem unsteten Licht, wie ein Wetterleuchten, das über der Trave zitterte, wenn er an der Zigarette zog. Bald aber war es so hell, als würde mitten in der Nacht die Sonne scheinen. Ein Paar, das im Schein einer Gaslaterne stritt, verstummte; zwei Männer, die sich gerade noch geprügelt hatten, ließen ihre Fäuste sinken und fanden es plötzlich schwer, sich überhaupt auf den Beinen zu halten. Alle schauten zum Himmel, der dunkel und eisig über dem Licht lag. In der Dankwartsgrube, der Marlesgrube, der Hartengrube traten die Leute vor ihre Häuser, schüttelten ihre Uhren, schlurften in Nachthemd und Mantel die Straßen hinunter.

Die Straßen waren erleuchtet, als wären sie in Brand gesetzt. Auch die düstersten Gassen und Hinterhöfe, sogar die sargschmalen Tunnel, die zu den Hinterhäusern führten und immer dunkel und klamm waren, wurden unbarmherzig ausgeleuchtet. Am Hafen torkelten Matrosen aus den Kneipen, plötzlich überzeugt, dass die nächste Ausfahrt die letzte sein würde, Huren rafften ihre Tücher über der Brust und schauten zu den Türmen der Jacobikirche empor, Kapitäne nahmen sich vor, ihre Kogge ein zweites Mal zu taufen, sie hatten so ein Gefühl.

Das Licht fraß sich die Gruben hinauf in die Mühlenstraße, wo Mädchen handgeklöppelte Träume träumten, und in die Burgstraße, wo ein Junge fiebrige Liebesbriefe schrieb und ein Pastor zum ersten Mal in seinem Leben nicht sicher war, ob eine Sache Gott oder seinem Widersacher zuzuordnen war. Ein paar Häuser weiter fragte sich eine junge Frau, die eben im Begriff war, ihren Mann zu betrügen, exakt dasselbe.

Die erfolgreiche Schriftstellerin im Burgtor schaute ins Gleißen hinaus, faltete die Hände über der Brust und hatte eine Eingebung, der erfolglose Schriftsteller Willnauer hatte im Rosengang soeben seinen zweiten Roman beendet und nahm das nächtliche Wunder als ein gutes Omen, womit er falschlag: Auch dieser Roman sollte unveröffentlicht bleiben. In der Kleinen Gröpelgrube gewann Fräulein Lisbeth im Alter von achtundsechzig Jahren jäh ihr Augenlicht zurück und erwischte Fräulein Hedwig über dem Kirschkuchen, von dem diese behauptet hatte, er wäre schon gestern ausgegangen; im Hinterhaus trat der Maler Michél Hinrichs betrunken in den Hof und streckte seine Fäuste in das Licht, das eine Substanz zu haben schien, greifbar war wie feiner, seidiger Stoff. Er legte den Kopf in den Nacken und überließ sich dieser seltsamen, erlösenden Traurigkeit, einem Gefühl, das er bisher nur in Magdalenas Armen gehabt hatte. Die Stadt brannte im Licht, und Magdalena schaute in die tiefe Schwärze der Trave.

Es wäre der passende Moment gewesen, eine Lebensmüde vom Ufer wegzufischen. Aber niemand sah Magdalena. Das Licht der Sterne kann man noch Jahrhunderte nach ihrem Erlöschen sehen. Magdalena war schon verschwunden, bevor die Trave sie geschluckt hatte.

»Düvel ook!«, rief Johann Petersenn, der vor Erstaunen ins Platt verfiel. »Watt een Höllfüer.«

Sein jüngster Sohn Christoph, im Nachthemd neben ihm am Fenster, schaute auf die Schule, die im kalten Höllenfeuer stand. Die Mauern des Johanneums bleichten aus, selbst der dunkle Schlund des Eingangstores war grell ausgeleuchtet. Die Bäume vor der Schule staken im Licht. Der Verlauf der Schatten bei verschiedenen Lichtverhältnissen, an dem Christoph in seinen Zeichnungen, die er von dem Schulgebäude anfertigte, ständig scheiterte, war ausradiert. Es war ein Gleißen, das jeden Schatten ablöschte.

Christoph Maria Petersenn lächelte, Johann schwitzte, Magdalena legte den Kopf in den Nacken und schaute zu der toten Sonne empor, dem im Licht erstickten Mond, den erblindeten Sternen, dann sah sie dem Teufel in die Augen, dann platzte ihre Fruchtblase. Ein Wind war aufgekommen, ihr Kleid klebte an ihrem runden Bauch, das schwere Tuch, das ihr um die Schultern lag, blähte sich wie ein Segel. Das Haar des Teufels aber lag still auf seinem Schädel, kein Windstoß trübte die geordneten Falten der Frackschöße.

Siegelringe blitzen an seinen Händen. Magdalena konnte sie so klar erkennen, als würde sie durch ein Opernglas schauen. Das Wappen Heinrichs des Löwen am Ringfinger der rechten Hand, der Doppelköpfige Adler am Mittelfinger, das Handels- und Seefahrerwappen am Ringfinger der linken Hand. Am kleinen Finger das Lübecker Schiffssiegel. Das Haar des Teufels glänzte, der Rauch seiner Zigarette wehte über die Trave.

Ganz offensichtlich hatte Magdalena sich geirrt, es gab einen Teufel, aber auch der Pastor hatte sich geirrt, die Hölle war nicht jenseitig, die Hölle war hier und jetzt, die Hölle war Lübeck.

Magdalena atmete tief ein, der Teufel lächelte ihr zu, und sie sprang. Der Teufel drückte seine Zigarette aus. Die Stadt versank in der Nacht, und Magdalena in der Trave.

Als ihre Leiche an einem Fender an der Kaimauer des Hansahafens gefunden wurde, war sie weder aufgedunsen noch hatten die Fische sie angeknabbert. Nein, ihre Haut und das sonst so strohige Haar waren von einem Glanz, der den Hafenarbeitern das Wasser in die Augen trieb. Auch ihre Zähne, die zu Lebzeiten alles andere als makellos gewesen waren, schimmerten perlmuttfarben. Der Pastor bekreuzigte sich: Sogar der obere Schneidezahn, den man ihr zu Beginn der Schwangerschaft ausgeschlagen hatte, war nachgewachsen. Auf ihrem Bauch, unter ihren Brüsten zusammengerollt, lag ein Säugling. Die Nabelschnur, die ein giftiges Grau angenommen hatte, in der Faust wie ein Tau.

Die einen sagten, der Teufel habe Magdalena geholt, die anderen glaubten an ein Wunder, die meisten sagten, es sei ein tragisches Unglück. Fest stand nur, die junge Frau war tot, sie trieb mit dem Bauch nach oben am Hafen, das Haar verflochten mit Algen, einen Knöchel im Tauwerk eines Kutters verfangen. Neben ihr schwamm ein halber Laib Brot, der für den Moment die Aufmerksamkeit der Fische von ihr ablenkte.

Der Säugling lag auf ihrem Bauch, als habe, man bekreuzigte sich erneut, der Roggenbuk selbst ihn mit seinen knochigen Fingern entbunden und auf ihren Leib gelegt, oder, und diese Vorstellung schien fast noch unheimlicher, als wäre der Säugling aus eigener Kraft auf das leblose Floß geklettert. Ein Enterich schnappte nach der grauen Nabelschnur, schaffte es aber nicht, sie durchzubeißen.

Christoph Petersenn, der mit seinem Zeichenblock am Hafen herumlungerte, betrachtete Magdalena fasziniert. Das lag erst mal nicht daran, dass sie tot war. Es lag daran, dass er noch nie eine nackte Frau gesehen...

Erscheint lt. Verlag 25.8.2017
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Buch Lübeck • Buch Norddeutschland • Deutsche Geschichte • epische Literatur Neuerscheinung • epischer Roman • Epos • Etwas Kleines gut versiegeln • Familie • Familiengeschichte • Gefährliche Arten • Generationenroman • Geschichte des 19. Jahrhunderts • Geschichte des 20. Jahrhunderts • Geschichten • Juli Zeh • Litcom • Lübeck • Preisträgerin Open Mike • Sasa Stanisic • Sonstige Belletristik • Starke Frauenfiguren • Unter Leuten • Vor dem Fest
ISBN-10 3-7325-4785-X / 373254785X
ISBN-13 978-3-7325-4785-2 / 9783732547852
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