Abschlussball (eBook)

Roman
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2017 | 2. Auflage
232 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43162-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abschlussball -  Jess Jochimsen
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»Menschen erzählen sich Geschichten, um zu leben. Und für den Tod brauchen sie die Musik.« Fu?r Marten ist der Friedhof der richtige Ort: Friedhöfe sind ruhig, gut ausgeschildert und bieten ausreichend Schatten. Schon als Kind hat er die Befu?rchtung, nicht in diese Welt zu passen - und als sich die Möglichkeit auf ein Dasein frei von Unwägbarkeiten bietet, greift er zu: Er wird Beerdigungstrompeter auf dem Nordfriedhof in Mu?nchen und spielt den Toten das letzte Lied. Als Marten die Bankkarte seines soeben zu Grabe getragenen Klassenkameraden Wilhelm findet, beginnt eine groteske Irrfahrt. Ohne eigenes Zutun wird er in einen Strudel merkwu?rdiger Ereignisse gezogen und lernt all das kennen, wovon er sich Zeit seines Lebens so mu?hsam ferngehalten hat: andere Menschen, Geld, Abenteuer, die Liebe.

Jess Jochimsen, 1970 in München geboren, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie und lebt als Autor und Kabarettist in Freiburg. Seit 1992 tritt er auf allen bekannten deutschsprachigen Bühnen auf. Er ist regelmäßiger Gast in verschiedenen Fernsehsendungen (u.a. im >Scheibenwischer< und im >Quatsch Comedy Club<, >Mitternachtsspitzen<) und Talkshows (u.a. >3 nach 9<, >Kölner Treff<, >NDR Talkshow<). Seit 2006 ist er Gastgeber der >SWR-Poetennächte<. In seiner Freizeit fotografiert er traurige Dinge, um diese dann als Dias vorzuführen oder Bücher damit zu bebildern. Bei dtv erschien 2000 sein Debüt >Das Dosenmilch-Trauma<. Es folgten >Flaschendrehen< (Erzählungen), >DanebenLeben< (Bildband), >Was sollen die Leute denken< (Monolog), >Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?< (Erzählungen), >Liebespaare bitte hier küssen< (Bildband) sowie der Roman >Bellboy<, der Christian Lerch zu seinem Kinofilm >Was weg is´, is' weg< inspirierte. Zuletzt erschien sein Roman >Abschlussball< bei dtv. Seine CDs erscheinen bei WortArt. Preise: Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (Förderpreis), Deutscher Kabarettpreis, Prix Pantheon, Passauer Scharfrichterbeil, zuletzt: Kleinkunstpreis Baden-Würtemberg 2011.  

Jess Jochimsen, 1970 in München geboren, studierte Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie und lebt als Autor und Kabarettist in Freiburg. Seit 1992 tritt er auf allen bekannten deutschsprachigen Bühnen auf. Er ist regelmäßiger Gast in verschiedenen Fernsehsendungen (u.a. im ›Scheibenwischer‹ und im ›Quatsch Comedy Club‹, ›Mitternachtsspitzen‹) und Talkshows (u.a. ›3 nach 9‹, ›Kölner Treff‹, ›NDR Talkshow‹). Seit 2006 ist er Gastgeber der ›SWR-Poetennächte‹. In seiner Freizeit fotografiert er traurige Dinge, um diese dann als Dias vorzuführen oder Bücher damit zu bebildern. Bei dtv erschien 2000 sein Debüt ›Das Dosenmilch-Trauma‹. Es folgten ›Flaschendrehen‹ (Erzählungen), ›DanebenLeben‹ (Bildband), ›Was sollen die Leute denken‹ (Monolog), ›Krieg ich schulfrei, wenn du stirbst?‹ (Erzählungen), ›Liebespaare bitte hier küssen‹ (Bildband) sowie der Roman ›Bellboy‹, der Christian Lerch zu seinem Kinofilm ›Was weg is´, is' weg‹ inspirierte. Zuletzt erschien sein Roman ›Abschlussball‹ bei dtv. Seine CDs erscheinen bei WortArt. Preise: Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (Förderpreis), Deutscher Kabarettpreis, Prix Pantheon, Passauer Scharfrichterbeil, zuletzt: Kleinkunstpreis Baden-Würtemberg 2011.  

6


Es steht ein Soldat am Wolgastrand/hält Wache für sein Vaterland.

Hatte es, als Sebastian zu seiner Interpretation des gewünschten Stücks von Franz Lehár ansetzte, unter den Trauergästen noch etliche gegeben, die wohlig schauernd vor allem diese beiden Zeilen assoziierten, so war, nachdem Sebastians letzter Ton verklungen war, noch dem Letzten jedwede völkische oder gar militaristische Lesart des Liedes ein für alle Mal ausgetrieben worden. Nicht einer der Anwesenden würde sich je wieder eine Aufnahme dieses Titels anhören können, ohne an den seltsamen Geiger mit Zylinder denken zu müssen, der ihn einst am Grab eines Weggefährten so nachhaltig erschüttert und zum Weinen gebracht hatte. Sie würden es nie erfahren, aber Sebastian hatte sie – allein durch sein Spiel – mit den vergessenen Anfangsversen des Wolga-Liedes vertraut gemacht, mit jenem Text, den sie nicht kannten, weil er in den Versionen von Heino, Ivan Rebroff oder Freddy Quinn ganz bewusst ausgespart wurde: Allein! Wieder Allein!/Einsam wie immer./Vorüber rauscht die Jugendzeit./In langer, banger Einsamkeit.

 

Als sich der Friedhof geleert hatte, standen wir vor dem Portal der Aussegnungshalle in der Sonne und genossen es, während der Mittagspause nicht gedämpft, sondern in normaler Lautstärke sprechen zu können. Neben mir waren drei weitere von Bergers Musikern gekommen, um Sebastians Vortrag zu hören, und Berger nutzte die Gelegenheit, ein wenig Kritik an ihnen zu üben. Ulrich und Gregersen, zwei Geiger, die es beide aus Norddeutschland nach München verschlagen hatte, wies er auf deren stets ungeputzte Schuhe hin und Dittmar, einen beinahe kahlen Trompeter aus Fürth, der ähnlich viel Zeit auf dem Friedhof zubrachte wie ich, ermahnte er, seine Spucke gefälligst nicht in Anwesenheit einer Trauergesellschaft aus seinem Instrument laufen zu lassen.

Zu Sebastian sagte Berger nichts, an den anderen in Anwesenheit des alten Geigers herumzumäkeln, war seine Art, ihn zu loben. Weil Berger auch mich und meine Vorträge unerwähnt ließ, ergriff Dittmar das Wort: »Ich habe dir heute Morgen zugehört, darf ich mir eine Anmerkung erlauben?«

Weil keiner etwas sagte, fuhr er fort: »Dein ständiges C-Dur lass ich mal außen vor, aber fällt dir eigentlich auf, dass du in deinem betont langsamen Spiel immer in den Dreivierteltakt rutschst? Sowohl bei ›Ein Stern‹ als auch beim ›Ave Maria‹ warst du gegen Ende im Dreier. Willst du, dass die Leute anfangen, langsamen Walzer zu tanzen? Oder ist das eine Volksmusik-Reminiszenz?«

»Das wird jetzt aber kein Fachgespräch, oder«, sagte Ulrich und zündete sich eine Zigarette an.

Wir anderen schwiegen – Sebastian, weil er immer schwieg, Berger und Gregersen, weil ihnen Dittmars Gestichele von jeher egal war, und ich, weil ich mich ertappt fühlte. Es war mir noch nie aufgefallen, aber Dittmar hatte recht. Je länger ich darüber nachdachte, je genauer ich mir die Stücke, die ich in letzter Zeit gespielt hatte, ins Gedächtnis rief, desto deutlicher trat der schleppende Walzer zutage, in den ich beim Spiel stets – und ohne es zu merken – verfallen war.

»Es ist der Takt des Todes«, sagte Sebastian in die Stille, »und der des Volkes.«

Nun war unser Schweigen komplett. Keiner hatte es bislang erlebt, dass sich der hagere Geiger je in ein Gespräch eingemischt, geschweige denn sich zu musikalischen Fragen geäußert hätte. Sebastian sah in unsere erstaunten Gesichter, nahm seinen Zylinder ab und sagte dann im ruhigen Duktus eines Volksschullehrers, der einer Gruppe unwissender Buben zum x-ten Male einfachste Grundlagen vorbetete: »Trauermärsche waren ursprünglich immer im Dreivierteltakt komponiert. Das Ungerade symbolisierte den abgeschnittenen Lebenslauf des Toten, und die Leute haben das auch verstanden. Zu Hochzeiten und Begräbnissen gehörten Walzer, weil das Volk wusste, dass das Leben eine ewige Tippelei ist. Nur die Obrigkeit der Kirche mit ihren salbungsvollen Versen und ewigen Viervierteln hat immer versucht, Geradlinigkeit herzustellen, wo da doch keine ist, wo niemals eine sein kann.« Er wendete sich zum Gehen. »Wir sehen uns später.«

Dittmar war der Erste, der seine Sprache wiederfand. »Ich habe Sebastian noch nie so viel an einem Stück sagen hören.«

»Was meinte er mit Tippelei?«, fragte Ulrich.

»Auf der Walz sein«, sagte Gregersen.

Dittmar schüttelte den Kopf. »Das ist doch alles dummes Gerede.«

»Vielleicht«, sagte Berger und setzte sich in Bewegung, »aber auf mich wartet jetzt die Arbeit. Und auf dich, Marten, wartet deine Freundin.«

Er nickte Sonia zu, die nur ein paar Meter entfernt auf einer Bank saß. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich ihre Anwesenheit nicht mitbekommen hatte. Sie ist nicht meine Freundin, dachte ich, und sie warf mir, als wolle sie meine Gedanken Lügen strafen, eine Kusshand zu.

Als ich neben ihr Platz genommen hatte, drehte sich Berger noch einmal um und rief: »Ich hatte es dir noch gar nicht gesagt, die Halbsiebener wird ein Abschlussball.«

 

Sonias Gegenwart ließ mich augenblicklich zur Ruhe kommen. Sie war, wenn man von meiner Schwester Ricarda absah, die einzige Verbindung zu meiner Vergangenheit. Wir waren auf dem Gymnasium in dieselbe Klasse gegangen und sie kannte meine Geschichte. Nach der Schule hatten wir uns etliche Jahre aus den Augen verloren, dann trafen wir uns zufällig und kurz nacheinander auf drei verschiedenen Beerdigungen wieder. Seitdem sahen wir uns regelmäßig. Immer auf dem Friedhof. Ich, weil ich dort arbeitete, sie, weil sie gern dort hinging.

Ich fand schnell heraus, dass Sonia Bestattungen nicht etwa wegen der Verstorbenen besuchte, sondern einfach so. Ich störte mich nicht daran. Sonia gehörte zu den Menschen, die sich auf die Begräbnisse fremder Leute mogelten, um dort ungestört und in aller Öffentlichkeit das eigene Leben beweinen zu können. Es gab in München nicht wenige davon.

 

Nachdem wir eine Weile schweigend dagesessen hatten, siegte Sonias Neugier: »Was meinte Berger eben damit, Marten? Was ist ein Abschlussball?«

»Das ist etwas, das Leute wie du und ich aufgrund unserer mangelnden Teilnahme am richtigen Leben nicht kennen.«

Sie sah mich missbilligend an. »Du hast ja keine Ahnung. Im Gegensatz zu dir habe ich in meiner Jugend sehr wohl einen Tanzkurs besucht.«

»Dann weißt du ja Bescheid.«

»Auf den Abschlussball bin ich nicht gegangen. Mein Tanzpartner …« Sonia sprach nicht weiter.

»Wer war denn dein Tanzpartner?«, fragte ich.

»Das sage ich dir erst, wenn du mir erzählst, was Berger gemeint hat.«

Ich nickte. Warum sollte ich Sonia auch nicht von den raren Höhenpunkten, die mein Dasein als Beerdigungsmusiker bot, erzählen? Da sie zweifellos den ganzen Tag hier, zwischen den Grabsteinen, verbringen würde, würde sie es ohnehin mitbekommen.

Ob sie sich vorstellen könne, wie die Beerdigung eines Hartz-IV-Empfängers ohne Angehörige oder eines einsamen Obdachlosen ablaufe, fragte ich. Sie konnte es nicht. Also erklärte ich ihr, wie teuer eine Beisetzung durchschnittlich war und wie viele Menschen diese Kosten unmöglich aufbringen konnten, erzählte ihr von den Tausenden Armenbegräbnissen, die Jahr für Jahr in der Stadt stattfanden, erläuterte ihr den Unterschied zwischen einer ordnungsbehördlichen und einer Sozialbestattung, berichtete ihr von der Willkür der Behörden, von anonymen Gräbern und von Beerdigungen ohne jede Würde und Publikum. »Der Tod ist für diese Menschen die Fortsetzung dessen, was zu Lebzeiten mit ihnen geschehen ist.«

Dann erzählte ich ihr, dass es sich Berger schon seit langem zur Aufgabe gemacht hatte, diesbezüglich Abhilfe zu schaffen, erzählte, wie er immer wieder die Ämter abklapperte, wie er auf Veranstaltungen und in Foren um die Wiedereinführung des Sterbegeldes und für eine bessere Bestattungsvorsorge stritt, wie er sich darum kümmerte, dass es auch auf den Armenbegräbnissen Redner und Musik gab, und wie er Essen und Trinken organisierte, weil allein das oft genügte, um Publikum anzuziehen.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, woher er die Energie nimmt, Sonia, und vor allem das Geld. Da gibt es irgendwelche Stiftungen und auch reiche Privatpersonen. Manchmal glaube ich, Berger verdient nicht schlecht daran, auf jeden Fall spielen wir ziemlich oft auf solchen Abschiednahmen und es sind nicht die schlechtesten.«

»Und ein Abschlussball?«, insistierte Sonia.

»Ein paar Mal im Jahr lädt Berger groß ein. Wenn er ausreichend Geld zusammengetrommelt hat, engagiert er ein Catering-Unternehmen, das hinter der Halle einen Stand aufbaut. Es gibt gutes Essen, Bier und Wein. Wir machen vor und nach der Grablegung Musik, im Sommer wird getanzt, es ist das reinste Spektakel.«

»Das ihr Abschlussball nennt.«

»Richtig.«

»Schöner Name.« Sonia legte ihre Hand auf meinen Arm. »Und so ein Abschlussball findet also heute Abend statt?«

Ich bejahte und erzählte weiter, dass Berger ein solches Fest gar nicht publik machen müsse, dass die Zukurzgekommenen und Erdabgewandten das allesamt mitbekämen, die Bettler und Grattler, die Nutten, die Diebe, die ungebetenen Gäste. Das komplette Lumpenproletariat putze sich heraus und gebe sich die Ehre. Sich einmal wieder richtig satt essen, sich betrinken und feiern, darum gehe es.

»Und weißt du, um wen es nicht geht? Um den, der begraben wird. Bei einem Abschlussball geht es ausschließlich um die – um die es sonst nie geht.«

Ich richtete mich auf, aber Sonia hielt mich zurück. »Heute nicht«, sagte sie leise,...

Erscheint lt. Verlag 9.6.2017
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Außenseiter • Beerdigungsmusik • Beerdigungsredner • Begräbnisgeiger • Bestattungen • Depression • Friedhof • Liebe • München • Nordfriedhof • Trauerkultur • Trauermusik • Trauerredner • Trompeter
ISBN-10 3-423-43162-8 / 3423431628
ISBN-13 978-3-423-43162-0 / 9783423431620
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