Erich Wyss übt den freien Fall (eBook)

Ein Band der Serie 'Menschliche Regungen'

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
480 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31742-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erich Wyss übt den freien Fall -  Tim Krohn
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
»Lesegenuss pur ... Aufhören kommt nicht in Frage.« SRF Kultur über Herr Brechbühl sucht eine Katze. Alltagsprobleme, die Folgen von 9/11 und letzte Dinge - für 11 Bewohner eines Zürcher Mietshauses geht es diesmal an die Existenz. Es ist heiß in der Stadt im Sommer 2001. Der Besuch von Efgenia Costas Familie sorgt für viel Fischgeruch, Trubel und Ärger im Treppenhaus. Doch dann wird es wirklich ernst: Ein plötzlicher Todesfall und die Nachricht vom Anschlag auf das World Trade Center haben für die 11 Bewohnerinnen und Bewohner eines Zürcher Mietshauses überraschende Folgen: Die Schauspielerin Selina May erfährt, dass ihr Filmprojekt vertagt wird, Julia gehen Aufträge verloren, Pit macht wieder Musik. Moritz reist nicht wie geplant nach New York, dafür Hubert Brechbühl spontan nach Istanbul. Tim Krohn fuhrt mit diesem Band seine groß angelegte literarische Erkundung aller Gefühle, Charakterzüge und Abgründe des Menschen fort. Klug, sensibel und bisweilen auch schalkhaft ordnet er 68 »menschliche Regungen« den verschiedenen Figuren zu. So lässt er bei Selinas Filmproben drei Vorstellungen von »Perfektionismus« aufeinanderprallen, bringt die sehr ungleichen Frauen Efgenia Costa und Julia Sommer in doppelsinniger »Leselust« zusammen und schickt den 81-jahrigen Erich Wyss auf eine emotionale Berg-und-Tal-Fahrt durch »Transvestitismus«, »Mordlust«, »Sehnsucht« und »Schelmerei«. Tim Krohns liebenswerte, ganz normal verschrobene Haus-WG-Bewohner wachsen dem Leser mit diesem Band noch mehr ans Herz. Und da Krohn das Kunststück gelingt, die Geschichten gerade ausreichend offenzuhalten, bleibt die Spannung bis zum Ende - und darüber hinaus.

Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane Quatemberkinder und Vrenelis Gärtli machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband Nachts in Vals. Der Auftaktband des ?Menschliche Regungen?-Projekts Herr Brechbühl sucht eine Katze war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der dritte Band, Julia Sommer sät aus (2018).

Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane Quatemberkinder und Vrenelis Gärtli machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband Nachts in Vals. Der Auftaktband des ›Menschliche Regungen‹-Projekts Herr Brechbühl sucht eine Katze war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der dritte Band, Julia Sommer sät aus (2018).

Inhaltsverzeichnis

Geradlinigkeit


Abends nach zehn, als endlich die Dämmerung hereinbrach, hatte Paul Lutz noch alle Gebäude der Kolonie Röntgen abgeschritten und sich notiert, wo in den Treppenhäusern Glühbirnen zu ersetzen waren. Danach hatte er sich schlafen gelegt. Doch er verbrachte eine sehr unruhige Nacht, denn vor Aufregung über den Stellenbeginn hatte er Bauchkrämpfe, und schon vor sechs Uhr erhob er sich, um seine Arbeit anzutreten.

Als Erstes sichtete er im Hof die Werkstatteinrichtung und das Materiallager, dann studierte er die Manuale einiger Maschinen und vereinbarte Termine mit der Sanitärfirma, um sich die Technik und den Wartungsstand von Heizungen, Wasserleitungen und Waschküchentechnik erklären zu lassen. Um neun Uhr ging er kurz zu Coop, um das Nötigste einzukaufen und im Stehen zu frühstücken, dann erst wagte er, des Schepperns der Leiter wegen, in den Treppenhäusern die defekten Glühbirnen zu ersetzen und die Schließer mancher Haustüren zu justieren, damit sie sanfter schlossen.

Als Genossenschaftssekretär Dr. Häberli und Koloniechef Läubli kamen, um ihn zu begrüßen und durch seine neue Wirkungsstätte zu führen, war ihm das meiste daher schon vertraut, und er fand Gelegenheit, sein Fachwissen unter Beweis zu stellen. So teilte er ihnen mit, dass es für die Treppenhausbeleuchtung Glühbirnen einer anderen Marke gebe, die weit weniger empfindlich auf Erschütterung reagierten und zudem leicht günstiger seien. Für die Türschließer reiche einfacher Gummi, um witterungsbedingte Spannungen auszugleichen und zu verhindern, dass die Tür bei nassem Wetter überhaupt nicht schließe, bei trockenem hingegen fast ungebremst ins Futter falle (und dabei ebenjene heiklen Birnen verschleiße).

Er fühlte sich auf gutem Wege, als er seine Chefs verabschiedete, und erlaubte sich, früh Mittagspause zu machen, denn er wollte sich so bald als möglich seinen neuen Nachbarn vorstellen.

Er begann oben links, bei Frau May. Als er klingelte, rief sie: »Nur herein, es ist offen.« Also trat er ein und sah sie am Küchentisch sitzen und stopfen. Der Anblick war so herzerwärmend, dass er kurz ins Stottern geriet.

»Lutz, also Paul«, sagte er, »ich bin der neue Hauswart, aber deswegen bin ich gar nicht hier. Ich bin nämlich zugleich Ihr neuer Nachbar, und als der wollte ich mich vorstellen.«

»Wer ist denn ausgezogen?«, fragte sie verwundert.

»Niemand«, sagte er, »ich habe die Dienstwohnung bezogen. Also doch, das Ehepaar Costa hatte darin Gäste untergebracht.«

Inzwischen hatte sie das Loch im Wollrock geflickt und gab ihm die Hand, dann rieb sie mit einem Silberlöffel über die Stelle. »Ein Hausfrauentrick, um das neue Garn speckig wirken zu lassen«, verriet sie. »Sehen Sie, jetzt fällt die Flickstelle kaum auf.«

»Sind Sie Schneiderin oder so?«, fragte er.

»Nein, Schauspielerin«, antwortete sie und nahm das nächste Loch in Angriff. »Ich werde die Mutter Courage spielen. Sie ist Händlerin an der Front im Dreißigjährigen Krieg. Ich stelle mir vor, dass sie viele Kleider von Gefallenen flickt und weiterverkauft – woher sonst sollte sie sie auch haben. Und wenn es nach mir geht, sogar die von ihrem eigenen Sohn, der im Stück vor ihren Augen erschossen wird.«

»Wie furchtbar«, sagte er und wagte es, ungefragt auf einem Schemel Platz zu nehmen. »Aber würde eine Mutter das tun?«

»Oh, die schon«, sagte sie. »Der geht der Handel über alles, sie ist da ganz konsequent. Erzählen Sie aber von sich, Herr Paul, wann haben Sie hier angefangen?«

»Heute früh um sechs«, sagte er und kam gar nicht dazu, das Missverständnis um seinen Namen zu klären.

Denn sie rief schon aus: »Da sind Sie ja einer von der schnellen Sorte! Und etwas altmodisch, nicht? Ist es heutzutage noch üblich, sich den Nachbarn vorzustellen?«

»Ich weiß es nicht, ich zwinge mich dazu«, sagte er ehrlich. »Sie müssen wissen, ich bin ein Mensch, der zur Vereinsamung neigt. Deshalb hat meine Mutter mir ein Gespräch mit einem ihrer Bekannten vermittelt, einem Seelsorger. Ich hatte nicht darum gebeten und wollte erst gar nicht hin, aber ich muss sagen, es hat sich gelohnt. Er hat mir nur zwei Fragen gestellt. Die erste: ›Was ist Ihr Ziel im Leben, oder Ihre größte Sehnsucht?‹ Gesellig zu sein, sagte ich. ›Und was ist Ihre größte Furcht?‹ Meine größte Furcht, Frau May, ist, den Menschen zur Last zu fallen, und das habe ich ihm auch gesagt. Danach sah er mich nur an und bemerkte: ›Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben.‹ ›Moment, Sie fragen gar nicht nach dem Grund für diese Furcht, ich habe nämlich gute Gründe‹, sagte ich. Doch er antwortete – und das war überhaupt das Entscheidende: ›Ihre Gründe interessieren mich kein bisschen, Herr Lutz. Wenn Ihr Wunsch so groß ist, werden Sie die Furcht besiegen, ganz egal, wie begründet sie ist. Denn es gibt keinen anderen Weg.‹«

Mit diesen Worten wollte Paul Lutz sich zurücklehnen, weil er ganz vergessen hatte, dass er auf einem Hocker saß, und konnte sich im letzten Augenblick an der Tischkante festhalten.

Frau May überspielte die Panne, indem sie bat: »Mir verraten Sie aber, was die Gründe für Ihre Furcht sind, oder?«

»Gern«, sagte er. »Meine Mutter hatte meinetwegen schwere Zeiten. Ich bin unehelich geboren, mein Vater gilt als unbekannt. Tatsächlich ist er ein überaus bedeutender Mann in unserer Gemeinde. Meine Mutter hatte als Sekretärin für ihn gearbeitet. Er ist verheiratet und hat drei Kinder, und dummerweise bin ich ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. – Ha, ich weiß, was Sie jetzt denken!«

»Nein, das wissen Sie nicht«, entgegnete sie. »Woher sollten Sie?«

»Weil das alle denken«, sagte er. »›Wie kann einer, der aussieht wie der Lutz, ein bedeutender Mann sein?‹«

»Nein, überhaupt nicht«, sagte sie. »Offen gestanden habe ich überlegt, ob ich Ihre Geschichte irgendwie für meine Rolle nutzen kann. Mutter Courage hat drei Kinder von drei verschiedenen Vätern. Allerdings sind die Väter in diesem Stück nicht wichtig. Ich glaube also nicht, dass mir das etwas nützt.«

Er begann zu strahlen. »So wie Sie will ich auch werden. Alles einem Gedanken unterordnen. Das ist toll. Deshalb habe ich mir nach dem Gespräch mit dem Seelsorger auch vorgenommen, mutiger zu sein und auf die Menschen zuzugehen. Um die Stelle als Koloniewart habe ich mich nur deshalb beworben. Ich war Schulabwart in Rapperswil – glauben Sie mir, das ist ein ganz schön einsamer Beruf. Davor habe ich das Areal einer stillgelegten Fabrik in Uster gewartet, Sie verstehen schon. Hier werde ich erstmals wirklich mit Menschen zu tun haben, mit Menschen in ihrem privaten Umfeld. Gestern war ich schon bei Familie Costa zum Essen eingeladen, sozusagen jedenfalls.«

»Das kann ich Ihnen leider nicht bieten«, sagte Frau May offen. »Ich reise viel, und bin ich zu Hause, möchte ich in Ruhe gelassen werden.« Bei diesen Worten hatte sie auch die zweite Flickstelle mit dem Löffel abgerieben und stand auf, um sich den Wollrock vor den Schoß zu halten. »Sieht man noch etwas?«, fragte sie.

»Vom Geflickten nicht, aber da ist noch ein Loch«, sagte er und zeigte es ihr.

»Motten«, seufzte sie, setzte sich wieder und zog weiteres Garn in die Nadel ein.

»Das erinnert mich an einen Witz«, sagte Paul Lutz, »ich weiß nur nicht, ob er gut ist.«

»Zu spät«, rief sie, »raus damit!«

»Also gut, ich habe Sie gewarnt«, sagte er. »Ein Mann sieht im Restaurant, dass alle Kellner einen Löffel in der Hosentasche tragen. Er fragt, warum. Der Kellner sagt: ›So will es der Chef. Wir sparen damit Zeit, und Zeit ist Geld. Jeden Tag fallen hier etwa vierzig Löffel zu Boden. Müssten wir jedes Mal einen in der Küche holen, würde das pro Schicht eine Stunde Arbeitszeit verschlingen.‹ Das leuchtet dem Gast ein. Er hat aber außerdem bemerkt, dass allen Kellnern ein schwarzer Faden aus dem Hosenlatz hängt. ›Wozu ist der gut?‹, fragt er. Der Kellner wird rot und raunt ihm zu: ›Daran ist unser Johnny befestigt, wenn Sie wissen, was ich meine. So müssen wir ihn auf dem Klo nicht anfassen, brauchen die Hände nicht zu waschen und sparen damit nochmals eine Stunde Arbeitszeit.‹ Der Gast stutzt und fragt: ›Wie bringen Sie ihn danach wieder in den Schlitz?‹ ›Ich weiß nicht, wie die anderen das machen‹, sagt der Kellner, ›aber ich benutze dazu den Löffel.‹«

»Autsch, der ist wirklich mehr als schlecht«, beschwerte sich Frau May.

»Tut mir leid, ich hatte Sie gewarnt«, sagte er und stand gleich auf.

Sie legte das Nähzeug zur Seite und führte ihn zur Tür. »Sie sehen gar nicht aus wie jemand, der Witze erzählt«, stellte sie fest.

»Den und fünf andere habe ich extra auswendig gelernt«, gestand er. »Ich hatte gelesen, dass Frauen Männer mögen, die sie zum Lachen bringen. Das Lachen stimuliert ihren Beckenboden, das soll lustvoll sein.«

Jetzt lachte sie wirklich. »Das hat was, machen Sie so weiter«, sagte sie, und er hörte sie noch lachen, als die Tür schon zu war.

Beflügelt klingelte er gleich bei »Sommer«, und als dort niemand öffnete, einen Stock tiefer, wo auch die Costas wohnten, bei »Wyss«.

Herr Wyss musste wohl achtzig sein und hielt eine Kochkelle in der Hand. »Was gibt’s, wer sind Sie?«, fragte er gereizt.

»Paul Lutz, der neue Hauswart«, sagte er. »Doch vor allem bin ich Ihr …«

Weiter kam er nicht, denn dieser Herr Wyss machte sofort seinem Ärger Luft. »Sehen Sie das?«, fragte er und zeigte mit der Kelle auf die Schuhe der Costas. »Elf Paar habe ich heute früh gezählt,...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2017
Reihe/Serie Menschliche Regungen
Menschliche Regungen
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 11 September 2001 • crowdfunding • Emotionen • Gefühle • Menschen • Quatemberkinder • Roman-Serie • Schweiz • Tim Krohn • Vrenelis Gärtli • Wohngemeinschaft • Zürich
ISBN-10 3-462-31742-3 / 3462317423
ISBN-13 978-3-462-31742-8 / 9783462317428
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99