Durch alle Zeiten (eBook)

Roman

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1615-4 (ISBN)

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Durch alle Zeiten -  Helga Hammer
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Ein echtes ganzes Leben Elisabeth ist eine einfache Frau aus den österreichischen Alpen. Mit siebzehn Jahren verliebt das Mädchen mit dem Madonnengesicht sich in einen jungen Mann aus angesehener Familie. Diese Liebe darf nicht sein und lässt doch beide ihr Leben lang nicht mehr los. Klar und tiefbewegend schildert Helga Hammer eine archaische Bergwelt, geprägt von harter Arbeit und gesellschaftlichen Zwängen, von den 50er Jahren bis in die Gegenwart.

Helga Hammer wurde 1940 in Deutschland geboren, studierte Germanistik und Arabistik und verbrachte einige Jahre in Ägypten. Sie arbeitete als Übersetzerin für Arabisch und Spanisch. Heute lebt sie mit ihrem Mann auf den Kanarischen Inseln und in Österreich.

Helga Hammer, geboren 1940, studierte Germanistik und Arabistik und verbrachte einige Jahre in Ägypten. Heute lebt sie mit ihrem Mann auf den Kanarischen Inseln und in Österreich. Durch alle Zeiten ist ihr Debüt.

1


Mitten in der Nacht kamen unerwartet die Wehen. Elisabeth erschrak über die Heftigkeit der Schmerzen, die ihren Körper zusammenzogen, ihr kaum Zeit ließen, nach Luft zu ringen. Mit den Schmerzen kam die Angst. Sie keuchte, sie wand sich, es gab keine Pausen, keine Ohnmacht, sie hievte ihren vor Qual gekrümmten Körper aus dem Bett, presste die Hände auf den Bauch, spürte, wie Wasser ihre Schenkel hinunterlief. Sie ergriff ein Handtuch, klemmte es zwischen die Beine, drückte eine Hand auf den Mund, der um Hilfe schreien wollte.

Sie versuchte, ohne ein Geräusch zu machen, die hölzerne Stiege hinunterzusteigen. Zitternd vor Kälte drückte sie auf den Lichtschalter, doch es blieb so dunkel wie in einem Sarg. Vorsichtig setzte sie Fuß um Fuß, klammerte sich ans Geländer, hörte den Sturm heulen, das Klirren der gerüttelten Scheiben.

Sie tastete sich durch die Küche, wusste, dass dicht neben dem Herd, zusammengerollt auf einer Matratze, die Magd schlief. Elisabeth stieß das Mädchen mit dem Fuß an, und Gerhild erschrak, schlug heftig um sich, beruhigte sich erst, als sie die Stimme ihrer Herrin hörte.

»Mach Licht, Gerhild, du musst die Hebamme rufen, das Kind kommt!«

Es gab kein Licht, das Telefon war tot, der Sturm jagte mit heftigen Stößen um das Gehöft. Mit zitternden Fingern zündete das Mädchen eine Gaslaterne an und starrte Elisabeth entsetzt an. Die schien wie erstarrt, das Moltonnachthemd wallte um ihren Körper, den Kopf hatte sie in den Nacken geworfen, die pechschwarzen Haare fielen ihr über den Rücken, ihr Madonnengesicht war von Martern gezeichnet.

»Du musst zum Niklas gehen, der ist uns am nächsten – wenn er Viecher auf die Welt bringen kann, dann kann er auch mir helfen.« Sie stöhnte, ächzte die Worte aus ihrem Mund in einer kurzen Pause, die die Wehen ihr ließen.

Gerhild lief zum Fenster, blickte in die Dunkelheit, sah eine dichte weiße Wüste vor sich. »Herrin, Sie dürfen mich nicht hinausschicken, der Schnee liegt einen halben Meter hoch, wir müssen warten, bis der Herr wieder da ist.«

»Da kannst du lang warten – glaubst du, dass er sich bei dem Wetter auf den Weg gemacht hat?«

Der Josef, ihr Mann, war um ein Uhr mittags aufgebrochen nach Filzmoos, einem Dorf, das über zwanzig Kilometer entfernt lag. Zu Fuß, wo er sich mit seinen Kumpanen zum Kartenspielen und Saufen traf.

Elisabeth fiel auf die Knie, umklammerte ihren Leib, stieß heulende Laute aus.

Gerhild begriff, dass sie schnell handeln musste. Sie vermummte sich, stieg in die stinkenden Hosen und die viel zu großen Stiefel ihres Herrn. Zuletzt schlang sie sich einen Lodenumhang mit Kapuze um den Körper.

»Nimm die Gaslaterne mit, und pass auf, dass du nicht in die Schlucht fällst; ich will beten, dass du lebend ankommst.«

Dem Mädchen sträubten sich die Haare, als Elisabeth anfing, zwischen ihren Schreien ein Gebet zu murmeln. Sie öffnete die klobige Haustür und versank bis an die Knie im Schnee. Der fiel unaufhörlich, erstickte jedes Geräusch. Stoisch stapfte Gerhild die vielen Serpentinen, deren Windungen sie nur erahnen konnte, ins Tal hinunter. Die Stille war unheimlich, unter der Vermummung wurde ihr heiß. Ihr Herz schlug aufsässig, sie war jung, ihr Körper kräftig, ihre Beine bewegten sich von allein, und sie würden sich weiterbewegen, bis ihr Herz versagte.

Als sie das Holzhaus des Tierarztes erreichte, war Gerhild schweißüberströmt, durchnässt und gleichzeitig halb erfroren. Mit letzter Kraft bahnte sie sich einen Weg bis zur Haustür und hieb mit den Fäusten darauf. Es dauerte lange, bis sie den Tierarzt aus dem Bett gehämmert hatte. Endlich wurde die Tür aufgerissen, und sie blickte in das bärtige Gesicht des Mannes. Seine Augen funkelten, seine Hände packten sie an den Schultern und zerrten sie ins Haus.

»Bist du verrückt geworden, du kannst doch bei diesem Wetter nicht vor die Haustür gehen!«

»Sie müssen zu meiner Herrin kommen, Doktor, Sie müssen ihr helfen, das Kind zu kriegen«, stammelte Gerhild.

»Ich bin für Kälber und Schweine da, nicht für die Menschen.« Der Mann blickte besorgt, rieb sich heftig die Augen und schüttelte den Kopf.

»Sie sind der Einzige, der es hoch zu uns schafft, Sie haben ein Pferd – das wird uns tragen.«

»Weißt du, wann die Wehen angefangen haben?«

Gerhild schüttelte den Kopf. »Vielleicht vor ein paar Stunden.«

»Wie lang waren die Pausen zwischen den Wehen?«

»Es gab keine, sie hat nur noch geheult vor Schmerzen.«

Der Tierarzt gab keine Antwort mehr, er ging aus dem Raum, kam mit einem Rucksack zurück, stellte Gerhild eine Kanne heißen Tee auf den Tisch und sagte: »Trink!«

Das Pferd stand gesattelt vor der Tür. Es war ein Kaltblüter, ein mächtiges Tier, auf dessen Rücken der Tierarzt eine warme Decke gelegt hatte. Er schwang sich in den Sattel, streckte dem Mädchen eine Hand entgegen und sagte: »Steig auf, gehen wir’s an.«

Der Sturm hatte nicht nachgelassen, Windböen peitschten ihnen den Schnee ins Gesicht, im wabernden Licht der Laterne, die der Tierarzt sich angebunden hatte, sah Gerhild verschwommen die Umrisse von schwankenden Bäumen. Sie schlang die Arme um Dr. Niklas Steinrisser, drückte ihr Gesicht an seinen breiten Rücken, hörte das Keuchen des Pferdes und betete leise vor sich hin.

Das Haus lag in völliger Dunkelheit, als sie ankamen. Der Doktor stellte sein Pferd in den Holzschuppen, tätschelte ihm die Flanken, bat Gerhild, das schweißnasse Tier trocken zu reiben. Er eilte ins Haus und erschrak über die Düsternis und bedrohliche Stille.

Leises Stöhnen kam von dem Sofa, auf dem Elisabeth zusammengesunken war. Niklas ging in die Knie und ergriff ihre Hand. Elisabeth lag still, sie hatte die Augen geschlossen und atmete in kurzen Stößen. Die gefalteten Hände auf ihrem Leib zitterten.

Elisabeth versuchte sich aufzusetzen, doch er hielt sie zurück. Zart strich er über ihr Gesicht, dann über den gewölbten Leib.

»Lissi«, flüsterte er, »hast du arge Schmerzen?« Sie hielt seine Hände umklammert, und er bückte sich über sie, küsste sanft ihre Stirn. »Ich werd dir helfen.«

Elisabeth sah den Mann an, den sie liebte, aber nicht bekommen hatte, und sagte: »Niklas … ich glaub, ich sterb.«

»So schnell stirbt man nicht. Wie oft kommen die Wehen?«

»Sie haben vor einer halben Stunde aufgehört, das Kind steckt fest, es will nicht herauskommen.«

»Wir holen es raus; wir müssen die Wehen wieder in Schwung bringen.«

Niklas stand auf, ging zur Küche, klopfte dem Mädchen auf die Schulter, das immer noch vermummt auf einem Stuhl saß. »Heiz den Herd ein, Gerhild, mach Wasser heiß, such alle Gaslaternen, die ihr habt! Es muss schnell gehen!« Dann ergriff er sämtliche Decken und Kissen von der Eckbank, baute auf dem großen Tisch ein Lager. »Wo habt ihr die Handtücher und Bettlaken?«

Gerhild rannte die Treppe hinauf und brachte einen Arm voll Wäsche. Ihre Hände arbeiteten schnell, in wenigen Minuten entstand auf dem Tisch ein weißes Lager, das auf die Niederkunft eines neuen Menschleins wartete.

Behutsam betteten sie zu zweit Elisabeth darauf, Niklas bedeckte ihren zitternden Körper mit einem Laken, setzte sich neben sie und griff nach ihrer Hand.

»Ich werd schauen, wie es dem Kind geht.« Aus seinem Rucksack nahm er ein hölzernes Hörrohr und beugte sich über Elisabeths Leib, horchte auf die schwachen Herztöne des Kindes, die wohl bald aufhören würden, wenn er nicht schnell handelte. Es galt, Elisabeths verkrampften Zustand zu lösen, sie musste sich entspannen. Doch zuallererst musste er überprüfen, wie weit der Muttermund geöffnet war. Er sprach beruhigend auf Elisabeth ein, zog sich Handschuhe an und griff in ihren Leib. Elisabeth zuckte kaum, schien sich fernab von allem zu befinden.

Der Muttermund war weit geöffnet, Niklas ertastete den Kopf des Kindes. Und so, wie er sich um seine niederkommenden Tiere kümmerte, behandelte er Elisabeth. Er legte eine Infusion in der Armvene an, ließ langsam Oxytocin tropfen, und innerhalb kurzer Zeit kamen die Wehen mit Macht zurück. Die Geburt ging schnell, innerhalb weniger Minuten presste Elisabeth einen Sohn auf die Welt.

Das Kindlein wollte nicht schreien. Niklas hielt es an den Füßen hoch, Gerhild beklopfte sacht seinen Körper. Sie tauchten es in warmes und kaltes Wasser, auch das half nichts. Dann beugte sich Niklas über das winzige Wesen, legte seinen Mund auf die Lippen des Kindes und ließ behutsam seinen Atem hineingleiten. Das Knäblein wurde krebsrot, sein Körper wand sich, sein Mund öffnete sich, und dann kam endlich der Schrei.

Alle fünf Jahre hatte Elisabeth ein Kind geboren, erst Franz, dann Marta; Alfons war Elisabeths letztes Kind; er und seine Geschwister hatten verschiedene Väter.

Aus der Vogelperspektive betrachtet sah der Brandstätterhof aus wie ein kostbares Juwel. Eingebettet in die weichen Polster der Wiesen um ihn herum ruhte er wie ein Vogel im Nest. Ein Wanderer, der zufällig den steilen Weg hinauf zum Brandstätter fand, erblickte eine Halbruine kurz vor dem Zerfall. Uralte Mauern, vom Alter geschwärztes Holz, ein Dach, von dem die Ziegel rutschten, Türen, die schräg in den Angeln hängen. Doch jeder Wanderer verfiel sofort der Schönheit des Tales, ließ sich ins Gras fallen, schaute den Adlern beim Flug zu, und wie von selbst ging sein Blick in die Höhe, wanderte über die drohenden, dreitausend Meter hohen Felswände, hinauf zum Dachsteinmassiv.

Das war Elisabeths Zuhause. Und sie liebte die Berge. Doch wenn im Herbst...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1940-er Jahre • 1950-er Jahre • 1960er Jahre • 1970-er Jahre • 1980-er Jahre • 1990-er Jahre • Abgeschiedenheit • Alleinsein • Alm • Alpen • Aufbruch • Bauernhof • Berg • Bergmassiv • Bergregion • Bergwelt • Betrug • Buch 2017 • Dachstein • Debut • Debüt • Debütantin • Dirndl • Ehebruch • Ein ganzes Leben • Geburt • Gottesfurcht • hartes Leben • Kinder • Liebe • Moral • Neu 2017 • Neuerscheinung 2017 • Neuerscheinungen 2017 • Österreich • Robert Seethaler • Selbstbestimmt • Selbstbestimmung • Tierarzt • Tiere • Trachten • Tradition • traditionelles Leben • Uneheliches Kind
ISBN-10 3-8437-1615-3 / 3843716153
ISBN-13 978-3-8437-1615-4 / 9783843716154
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