In welcher Sprache träume ich? (eBook)

Die Geschichte meiner Familie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31739-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In welcher Sprache träume ich? -  Elena Lappin
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Zu Hause im Exil: die Geschichte einer Sprachenwanderung. Hineingeboren ins Russische, verpflanzt erst ins Tschechische, dann ins Deutsche, eingeführt ins Hebräische und schließlich adoptiert vom Englischen - jede Sprache markiert einen neuen Lebensabschnitt in der prallen Familiengeschichte Elena Lappins, die eng verknüpft ist mit den Wirren europäischer Geschichte im 20. Jahrhundert.Von Prag nach Hamburg, von Israel in die USA und schließlich nach London: Elena Lappin, geborene Biller, verknüpft in dieser Familiengeschichte die Faktoren mehrfacher Emigration, ausgelöst durch historische Ereignisse oder persönliche Entscheidungen, mit den konkreten Schicksalen der Mitglieder ihrer Familie und mit den Fragen nach Heimat, Identität, Judentum und Sprache. Sensibel, ehrlich und mit unverstelltem Blick geht sie den Erzählungen, Lebenslügen und Geheimnissen der Eltern und Großeltern nach und schildert, was es heißt, mit gleich mehrfach gekappten Wurzeln zu leben und auch nach dem Verlust einer Muttersprache schreiben zu wollen. Ein optimistisches Buch über eine mehrfache Migration, das durch eine gute Prise Selbstironie und Humor besticht.

Elena Lappin, 1954 in Moskau geboren, aufgewachsen in Prag und Hamburg, lebt nach Stationen in Israel, Kanada und Amerika heute mit ihrem Mann und drei Kindern in London. Herausgeberin mehrerer literarischer Anthologien, von 1994-1997 Chefredakteurin der Zeitschrift Jewish Quarterly. 1999 erschien ihre Erzählungssammlung »Fremde Bräute« und 2001 der Roman »Natashas Nase«, beide lieferbar bei Kiepenheuer & Witsch.

Elena Lappin, 1954 in Moskau geboren, aufgewachsen in Prag und Hamburg, lebt nach Stationen in Israel, Kanada und Amerika heute mit ihrem Mann und drei Kindern in London. Herausgeberin mehrerer literarischer Anthologien, von 1994-1997 Chefredakteurin der Zeitschrift Jewish Quarterly. 1999 erschien ihre Erzählungssammlung »Fremde Bräute« und 2001 der Roman »Natashas Nase«, beide lieferbar bei Kiepenheuer & Witsch. Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, lebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor. Er hat u.a. Maeve Brennan, Anne Enright, F. Scott Fitzgerald, D.H. Lawrence, Ian McEwan, Mark Twain, Oscar Wilde und Virginia Woolf übersetzt. Für sein Lebenswerk wurde er 2010 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Tschechows Pistole


»Wenn im ersten Akt eine Pistole an der Wand hängt, dann sollte sie im folgenden abgefeuert werden«, lautet ein berühmter Ausspruch Anton Tschechows aus dem Jahre 1889. Die als »Tschechows Pistole« bekannte dramaturgische Technik verlangt, dass Schriftsteller, wenn sie wichtige Elemente in ihre Erzählung einführen, ebenso diszipliniert sein müssen wie Verbrecher, die einen perfekten Mord planen. Nichts darf dem Zufall überlassen bleiben. Jedes Detail existiert aus einem bestimmten Grund, der genau im richtigen Moment enthüllt werden muss.

Ich wuchs mit einer Pistole von dem Typ auf, den Tschechow im Sinn gehabt haben könnte: einem Smith & Wesson Revolver aus dem neunzehnten Jahrhundert, der im Prager Arbeitszimmer des Mannes, den ich als meinen Vater kannte, an der Wand hing. Mit einem Nagel über das Sofa gehängt, lenkte er sofort die Aufmerksamkeit auf sich. Ich mochte es, aufs Sofa zu klettern und den schweren schwarzen Metallgriff, den rostbraunen Lauf und das Gehäuse zu berühren. Für mich roch er immer so, als sei er eben erst abgefeuert worden, ein Aroma aus Staub und Rauch – Letzteres nur Einbildung, aber stark.

Das Arbeitszimmer meines Vaters war in meinen Augen ein bezaubernder Ort, eingerichtet im neuesten Stil der Sechzigerjahre (helles abgerundetes Mobiliar, Pastellfarben), aber mit Gegenständen übersät, die Geschichte atmeten: einem großen antiken Sessel mit weicher Polsterung und imposanten schwarzen Holzlehnen; einem riesigen Ölgemälde in einem schweren vergoldeten Rahmen, dem Porträt eines alten Mannes, das aus der Rembrandt-Schule hervorgegangen sein konnte – düster und doch geheimnisvoll ausgeleuchtet. Aber das war geborgte Geschichte, die man erwerben kann, wenn man einen Kunstgegenstand kauft: Andere Menschen hatten in ihrer Gegenwart ihr Leben gelebt, in ihrer eigenen Epoche. Einzig die Pistole an der Wand war Teil der persönlichen Geschichte meines Vaters, ein echter Zeuge.

Die Familienlegende, die jedem endlos erzählt und wiedererzählt wurde (ob man sich dafür interessierte oder nicht), ging so: Die Pistole war durch Zufall im Garten der Eltern meines Vaters in Kunzewo, einem Vorort von Moskau, ausgegraben worden. Niemand wusste, wie sie dorthin gelangt war oder wem sie ursprünglich gehört hatte. Natürlich ließ sie sich nicht mehr abfeuern (galt Tschechows literarische Maxime auch für eine beschädigte Waffe?), aber sie sah doch eindrucksvoll aus. Entworfen und angefertigt mit Sinn für schmucklose Ästhetik, besaß sie eine Art solider Schönheit. Mein Vater hing sehr an ihr und ich auch.

Und das tue ich bis heute. Die Pistole zog (nachdem sie zuvor von Russland nach Prag gereist war) mit uns von Prag nach Hamburg, als wir 1970 dorthin emigrierten. Ihr Zuhause ist nach wie vor das Arbeitszimmer meines Vaters, allerdings schon seit vielen Jahren nicht mehr als Wandschmuck. Stattdessen bewahrt mein Vater sie auf dem marmornen Sims eines Heizkörpers auf, vor einem gerahmten Foto seiner Mutter. Sie starb mit Anfang vierzig, als er erst fünf Jahre alt war, und so sieht sie auf diesem einzigen Porträt, das ich je von ihr gesehen habe, ewig jung aus: tiefe dunkle Augen; schlicht zurückgestecktes dunkles Haar mit Mittelscheitel. Sie hat schöne, klare Gesichtszüge; eine ernste, offene Miene; volle Lippen. Sie wirkt streng und resolut, vielleicht etwas hart oder sogar traurig. Sie war die Mutter von sechs Söhnen (zwei stammten aus ihrer ersten Ehe) und musste robust, praktisch, zielstrebig sein. Wäre sie, wie alle jüdischen Großmütter, altersmilde geworden? Wäre mein Vater – ihr Jüngster – ein anderer Mann geworden, wenn sie länger gelebt und ihre Söhne ins Erwachsenenalter begleitet hätte?

Ich mailte ihm ein Foto von einer ähnlichen Pistole, das ich im Internet gefunden hatte, und fragte ihn, ob er glaube, dass sie das gleiche Fabrikat sei und aus der gleichen Zeit stamme. Postwendend und ohne zu zögern, schrieb er auf Tschechisch zurück: »Deine Probleme möchte ich haben!« Mein Vater hat kein Interesse daran, die poetische Bedeutung dieses oder irgendeines anderen Gegenstands zu ergründen. Er würde nicht darüber nachdenken, warum er die Pistole neben dem Porträt seiner Mutter aufbewahrt und sie mit antiken Menoras umgibt. Auf Tschechows Behauptung, dass die fortgesetzte Anwesenheit dieses Revolvers in seinem Leben kein Zufall sei und auch nicht sein könne, würde er erwidern: »Natürlich ist es ein Zufall. Es ist nur eine alte Pistole. Das ist alles.«

Tatsächlich war er es, der sie gefunden hatte. Viele Jahre lang war sie in dem Garten vergraben gewesen, aber nicht so tief, dass ein nach Schätzen suchendes Kind sie nicht hätte ausgraben können. Wenn seine viel älteren Brüder zu beschäftigt oder zu uninteressiert waren, um ihm Beachtung zu schenken, hatte er nur Tobik, den Familienhund, um sich und verbrachte viele Stunden mit sich allein. Eines Tages Ende der Dreißigerjahre förderte sein Spiel etwas zutage. Er konnte sein Glück nicht fassen: Diese Pistole war so alt, dass sie Zeuge der großen Revolution, mehrerer Kriege, vielleicht sogar ein, zwei romantischer Duelle hätte sein können … Mein Vater durfte sie behalten. Als er, noch ein Halbwüchsiger, Russland (gegen den Willen seines Vaters) verließ, um sich seinen Brüdern anzuschließen, die bereits in Prag lebten, nahm er nicht viel mit, wohl aber die Pistole. Sie musste ihn an die Dinge erinnert haben, über die er nie spricht: das Haus, in dem er aufwuchs, seine frühe Kindheit.

Die Eltern meines Vaters waren beide Juden, aber aus unterschiedlichen Verhältnissen. Sein Vater stammte aus dem tschechischen Teil des Karpatischen Ruthenien und endete im Ersten Weltkrieg als Soldat der österreichisch-ungarischen Armee in Russland. Dort geriet er in Kriegsgefangenschaft und begegnete seiner zukünftigen Frau, die aus der Ukraine kam. Ihre ersten Jahre verbrachten sie in Kiew, wo die älteren Brüder meines Vaters zur Welt kamen. Später zog die Familie nach Kunzewo, und wenn ich nicht wenige Jahre, bevor er starb, mit einem der Brüder meines Vaters mehrere lange Telefongespräche geführt hätte, wüsste ich nicht, wie es um ihr Familienleben bestellt war. Dieser Onkel erzählte mir Dinge, die ich mir nie hätte vorstellen können: In der Familie wurden alle jüdischen Feste gefeiert, beim Pessach-Fest besonderes Geschirr aufgetragen. Am bedeutsamsten aber war, dass ihr Haus während der Hohen Feiertage Juden aus der Nachbarschaft als Gebetshaus diente, vermutlich im Geheimen. Mein Vater ist ein zutiefst säkularer Jude und hat weder Hebräisch gelernt noch eine Bar Mitzwa gehabt. Dennoch macht sein Judentum einen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit aus. Jedes Mal, wenn er jüdische Lieder und Gebete hört (an denen er nicht teilhaben kann), werden ihm die Augen feucht, und oft muss er weinen. Sie berühren ihn und verbinden ihn mit etwas, woran er sich nicht mehr bewusst erinnert: mit seinem Zuhause. Als ich ihm erzählte, was ich von seinem Bruder erfahren hatte, war er sogar überrascht: Von all den Traditionen, die im Haus seiner Eltern gepflegt worden waren, hatte er nichts gewusst.

Im Zweiten Weltkrieg war er noch ein Kind, und wie viele Menschen aus den Frontgebieten wurde er in den asiatischen Teil Russlands evakuiert. Seine Brüder dagegen traten in das Tschechoslowakische Korps der Roten Armee unter General Svoboda ein. Der Krieg brachte sie wieder mit den tschechischen Wurzeln ihres Vaters in Verbindung, und als er zu Ende war, zogen sie alle nach Prag (bis zum kommunistischen Umsturz 1948 noch eine westliche Demokratie). Mein Vater lernte Tschechisch, behielt jedoch Russisch stets als seine »beste« Sprache bei. Die Oberschule, die er besuchte, war ein russisches Gymnasium, ursprünglich für die Kinder der in Prag lebenden Weißrussen gedacht, nach dem Krieg jedoch zunehmend von jungen Leuten besucht, die sich für den Kommunismus begeisterten. Als Teenager war mein Vater ein glühender Jungkommunist. Ein Verwandter, dem in Prag ein winziger Lebensmittelladen gehörte und der später nach Israel auswanderte, konnte sich an seinen leidenschaftlichen Ausbruch in den Vierzigerjahren erinnern: »Wenn die Revolution kommt, wird dein Geschäft enteignet.« Die Liebesaffäre meines Vaters mit dem Kommunismus erwies sich jedoch als kurzlebig und endete schlimm (oder, je nach Standpunkt, vielleicht eher gut), als er von einem Freund denunziert wurde.

 

Von den wenigen vertrauten Gegenständen, mit denen er sich umgibt, wenn er an seinem Schreibtisch sitzt oder sich überhaupt in seinem Arbeitszimmer aufhält, ist die Pistole am wenigsten entbehrlich. Selbst jetzt, mit Mitte achtzig, da er kaum noch als Übersetzer und Dolmetscher arbeitet, ist dieses Zimmer nach wie vor sein persönlicher Herrschaftsbereich und unterscheidet sich ästhetisch stark von den Räumen, die meine Mutter bewohnt. Ihre Zimmer sind überladen mit Gegenständen zweifelhafter Herkunft und Qualität (sie sammelt alles und kann einfach nichts wegwerfen), während sein minimalistisches Büro sparsam eingerichtet ist. Auf seinem übergroßen Schreibtisch aus Eichenholz, den wir in einer unserer ersten Wohnungen in Hamburg vorfanden, steht in einem Glasrahmen mit schwerem Marmorsockel ein Sepiafoto seines Vaters. Auf der Rückseite – von Zeit zu Zeit dreht er den Rahmen um – ist ein farbiger Schnappschuss von mir zu sehen, wie ich, sehr sonnengebräunt und sommerlich, etwa zwanzig Jahre alt, einen kuscheligen Teddybären herze. An den Wänden neben den mit Wörterbüchern bestückten Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichen, hängen große Porträts meiner sehr schönen Mutter, als sie ungefähr vierzig war.

In...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2017
Übersetzer Hans-Christian Oeser
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familiengeschichte • Fremde Bräute • Fremde Bräute • Heimat • Herkunft • Israel • Judentum • maxim biller • Mehrsprachigkeit • Prager Frühling • Prager Frühling • Sprach-Genie
ISBN-10 3-462-31739-3 / 3462317393
ISBN-13 978-3-462-31739-8 / 9783462317398
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