Der kretische Gast (eBook)
456 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31761-9 (ISBN)
Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach diversen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nicolas-Born-Preis, dem Bettina-von-Arnim-Preis, dem Rheingau Literatur Preis und zuletzt dem Hannelore-Greve-Preis. Zudem war er Stipendiat der Villa Massimo sowie der Villa Aurora. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen »Der kretische Gast« (2003), »Sunset« (2011), »Konzert ohne Dichter« (2015) und »Keyserlings Geheimnis« (2018). Zuletzt erschien »Leonard Cohen« (2020) und der Roman »Fahrtwind« (2021).
Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach diversen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Nicolas-Born-Preis, dem Bettina-von-Arnim-Preis, dem Rheingau Literatur Preis und zuletzt dem Hannelore-Greve-Preis. Zudem war er Stipendiat der Villa Massimo sowie der Villa Aurora. Zu seinen erfolgreichsten Romanen zählen »Der kretische Gast« (2003), »Sunset« (2011), »Konzert ohne Dichter« (2015) und »Keyserlings Geheimnis« (2018). Zuletzt erschien »Leonard Cohen« (2020) und der Roman »Fahrtwind« (2021).
2
Die Tür wurde geöffnet, ein Windstoß trieb Regenspritzer in die Kabine, und der Pilot fluchte mit hamburgischem Akzent, bei dem »Schietweddä« fühle er sich wie zu Hause. Johann zerrte seinen Koffer und den Rucksack aus dem Haltenetz und kletterte mit weichen Knien über eine Gangway, die von außen an die Tür geschoben worden war, auf das Rollfeld. Im Zwielicht aus Regen, gelben Scheinwerfern und einsetzender Dämmerung herrschte hektischer Betrieb. Einige Lkws britischer Bauart, zum Teil noch mit britischen Hoheitszeichen versehen, rollten von Lagerschuppen heran oder standen bereit, um den Nachschub aus den Jus aufzunehmen. Drei andere Maschinen des Konvois parkten bereits weiter vorne, und ganz hinten, wo das Rollfeld in eine breite Schotterpiste überging, waren die Lastensegler gelandet. Die fünfte und letzte Maschine setzte soeben zur Landung an, als ein Kübelwagen auf Johann zuhielt und dicht vor ihm stoppte.
Der Fahrer, ein stämmiger, unrasierter Mann in Kakiuniform, legte nachlässig eine Hand gegen den Mützenschirm und stellte sich als Hauptfeldwebel Sailer vor. »Sailer mit a i«, sagte er grinsend. »Herr Martens?«
Johann nickte.
»Willkommen auf Kreta«, sagte Sailer, nahm Johanns Gepäck und verstaute es auf den Rücksitzen. »Ich habe Befehl, Sie nach Chania in Ihre Unterkunft zu bringen.«
»Danke.« Johann winkte den Piloten zu, die in der Kabinentür standen, und stieg neben Sailer auf den Beifahrersitz.
Während sich der Kübelwagen ruckend in Bewegung setzte, riss im Nordwesten die Bewölkung auf, und letzte Strahlen der untergehenden Sonne schimmerten wie blutige Schlieren auf Pfützen und dem nässeglänzenden Asphalt des Rollfelds. An seinen Rändern waren noch Bombentrichter zu erkennen, und zwei ausgebrannte britische Tanks standen auf der hinteren Piste. In der Dämmerung wirkten sie wie versteinerte Tiere aus irgendeiner Vorzeit, deren Rüssel drohend in die Gegenwart stachen. Der Regen ließ nach, und als sie die Küstenstraße erreicht hatten, fielen nur noch ein paar verirrte Tropfen. Sailer stellte den Scheibenwischer aus und schaltete die Scheinwerfer ein. Johann wühlte in der Tasche seines Trenchcoats nach der silbernen Zigarettendose, klappte sie auf, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt die Dose seinem Chauffeur hin. Sailer griff zu, gab Johann und sich selbst mit einem blakenden Sturmfeuerzeug Feuer.
»Kreta also«, sagte Johann und stieß den Rauch gegen die Windschutzscheibe.
Sailer warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Ja, Kreta. Winter gibt’s hier leider auch. Zum Ausgleich keine Heizungen.«
»Na ja«, sagte Johann, »ich werd’s hier schon aushalten.«
Sie schwiegen eine Weile. »Sind Sie«, fragte Sailer plötzlich und zögerte einen Moment, »Zivilist?« In der Art und Weise, mit der er das Wort aussprach, bekam es einen merkwürdigen Klang. Eine Art Misstrauen schwang darin mit, aber auch Neid auf eine Normalität, die immer unerreichbarer zu werden schien.
Johann wunderte sich nicht, dass ein dreißigjähriger, offensichtlich gesunder Mann ohne Uniform, der trotz des knappen Transportraums im Januar 1943 nach Kreta eingeflogen wurde, für etwas Ungewöhnliches gehalten werden musste, wahrscheinlich für einen Parteibonzen, Gestapo-Offizier oder Agenten; vielleicht aber auch nur für einen Drückeberger, der sich mithilfe hochrangiger Beziehungen aus dem Krieg heraushalten konnte. Und weil genau das in gewisser Hinsicht auf Johann zutraf, fühlte er sich diesem Mann gegenüber unbehaglich. Vermutlich gehörte der zur kämpfenden Truppe, die im vorletzten Jahr unter enormen Verlusten die Insel aus der Luft erobert hatte. Gern hätte Johann ihm jetzt erzählt, dass er von einer sehr hohen Stelle, wie Professor Lübtow es formuliert hatte, angefordert worden war, um hier auf Kreta einer schwierigen Aufgabe nachzugehen, einer Pflicht sozusagen. Aber da man ihm Stillschweigen über alle Informationen und Aktivitäten abverlangt hatte, nickte er nur und wiederholte tonlos: »Zivilist, ja.«
»Und Sie kommen also«, Sailer sog an der Zigarette und warf die glühende Kippe aus dem Wagen, »direkt aus«, er schluckte und spuckte durchs Seitenfenster auf die Straße, »aus Deutschland?«
»Mehr oder weniger. Bin von München über Rom nach Thessaloniki geflogen und …«
»Wie sieht es in Deutschland aus?«, unterbrach Sailer ihn hastig. »Gibt es immer noch Bombenangriffe? Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch, aber wir bekommen hier nur sehr«, wieder zögerte er, »sehr wenig Informationen. Und ob die stimmen, weiß man nicht so recht. Mit der Feldpost ist das auch eher eine Lotterie, und es gibt praktisch keinen Urlaub mehr. Transportprobleme. Alle Kapazität wird für Versorgung und Nachschub frei gehalten. Ich komme aus Dortmund. Meine Eltern leben da, meine Verlobte …«
»Ihre Verlobte«, echote Johann und dachte an den Brief aus Lübeck. Bedauern wir Ihnen mitteilen zu müssen, dass Fräulein Ingrid …
»Ja, ja«, sagte Sailer. »Dortmund.«
»Es ist etwas besser geworden«, murmelte Johann zögernd. »Jedenfalls hat es seit dem Sommer kaum noch Angriffe gegeben. Man hat auch die Flak weiterentwickelt, und es gibt bessere Nachtjäger. Zuletzt hat es noch Düsseldorf erwischt, Ende Juli, glaube ich.«
»Und Dortmund?«
»Soviel ich weiß, ist da bislang nichts passiert. Köln muss schlimm gewesen sein, Rostock, Bremen. Und Lübeck. Lübeck hat gebrannt wie, wie …« Er fand das Wort nicht.
»Bislang ist also nichts passiert«, sagte Sailer, »bislang …«
»Ja«, sagte Johann, »bislang«, starrte in die Nacht, die von den auf und ab tanzenden Scheinwerfern des Kübelwagens zerschnitten wurde. »Es kommt aber noch mehr, fürchte ich.«
Die Straße musste jetzt unmittelbar am Ufer entlangführen, weil sich manchmal das Rauschen und Schlagen von Brandung ins Motorengeräusch mischte. Der Sturm war abgeflaut. Hin und wieder strich noch eine verspätete Böe vom Meer herüber, griff durch die offenen Seiten ins Wageninnere und ließ das Persenningdach des Kübelwagens knattern. Im Norden blinkten Sterne am Himmel, und manchmal konnte man im Süden hinter den eilig ausdünnenden Wolkenbahnen schon einen niedrigen Mond erkennen.
»Und Russland?«, fragte Sailer plötzlich. »Wir hören hier immer nur Offensive, Offensive, Offensive. Und Sieg an allen Fronten.«
»Das klingt in Deutschland auch nicht anders, offiziell jedenfalls nicht«, sagte Johann fröstelnd, schlug den Kragen des Trenchcoats hoch und fingerte wieder nach der Zigarettendose. »Es gibt aber Gerüchte, dass die Sache bei Stalingrad gar nicht gut … Was ist los?«
Sailer war abrupt auf die Bremse getreten, brachte den Kübelwagen zum Stehen, schaltete Motor und Scheinwerfer aus. »Da vorn auf der Straße bewegt sich was«, flüsterte er, lauschte in die Dunkelheit und zog unter seinem Sitz eine Maschinenpistole hervor. »Können Sie damit umgehen?«
»Ich fürchte nein«, sagte Johann entsetzt. »Aber was soll da denn sein?«
»Weiß ich nicht«, zischte Sailer. »Vielleicht Banden.«
»Was für Banden?«
Sailer gab keine Antwort, ließ den Motor wieder an, fuhr im Schritttempo weiter, lenkte den Kübelwagen mit der linken Hand und klemmte sich die Maschinenpistole unter den rechten Arm, den Finger am Abzug. Im Mondlicht, das wie aus einem schwankenden Bullauge hinter Wolkenfetzen hervorbrach, erkannte Johann einen wippenden Schatten auf dem hellen Schotterbelag der Straße. Sailer schaltete plötzlich die Scheinwerfer wieder ein. Der Lichtkegel riss grell aus der Dunkelheit, was sich da vor ihnen bewegte. Auf einem Esel hockte eine Gestalt, die so weit nach vorn gekrümmt war, dass sie fast auf Hals und Kopf des Tieres lag. Als der Kübelwagen nur noch wenige Meter entfernt war, trat eine in Schwarz gekleidete Frau, die den Esel an einem Strick führte, heftig gestikulierend auf die Fahrbahn und versperrte den Weg. Sailer musste bremsen, um die Frau nicht zu überfahren, und brachte fluchend die Maschinenpistole in Anschlag, als sie nun auf Johanns Seite an den Wagen kam und, abwechselnd auf die Gestalt auf dem Esel und in Richtung Stadt deutend, einen aufgeregten Wortschwall hervorstieß. Sailer gab wortlos Gas und ließ die Gruppe hinter sich.
»Warten Sie«, sagte Johann, »ich glaube, die Frau hat gesagt, dass sie ihren Mann ins Krankenhaus bringen muss.«
»Können Sie etwa Griechisch?« Sailer sah Johann staunend an, stoppte aber nicht, sondern drückte ihm die Maschinenpistole in die Hand, beschleunigte den Kübelwagen und jagte so schnell weiter, wie die von Schlaglöchern übersäte Straße es zuließ.
»Wollen Sie den Leuten denn nicht helfen? Wir könnten doch zumindest den Mann mitnehmen.« Johann hielt sich am Türrahmen fest, streckte den Kopf aus dem Wagen und sah hinter sich die Gruppe in der Nacht verschwinden. »Halten Sie doch an, Mensch!«
»Ich habe Befehl, Sie in Ihr Quartier zu bringen«, sagte Sailer ruhig. »Und sonst gar nichts.«
»Aber das ist doch ein Notfall und …«
»Das kann genauso gut ein Hinterhalt sein«, knurrte Sailer durch zusammengebissene Zähne. »Diese Scheißbanden sind schon seit Wochen wieder aktiv.«
»Welche Banden?«
»Partisanen«, sagte Sailer. »Nennen sich selbst Andarten. Dreckschweine.«
Sie schwiegen. Johanns Hilfsbereitschaft wich einer diffusen Angst. Auf Kreta, hatte Professor Lübtow zu ihm gesagt, sei man in diesen Zeiten wahrscheinlich sicherer als in Deutschland. Da könne Johann sich einen feinen Lenz machen. Von Partisanen war keine Rede gewesen. Und jetzt saß er hier auf dem Weg nach Chania mit einer...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2017 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Besatzung • Beutekunst • Griechenland • Kreta-Urlaub • Kunstraub • Liebesroman • Mittelmeer • Nationalsozialismus • Wehrmacht • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-462-31761-X / 346231761X |
ISBN-13 | 978-3-462-31761-9 / 9783462317619 |
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