Ein wilder Schwan (eBook)

Andere Märchen
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2017 | 1. Auflage
160 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-17563-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein wilder Schwan -  Michael Cunningham
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Michael Cunningham erzählt die alten Märchen neu - er betrachtet sie aus einem anderen Blickwinkel, hinterfragt sie mit Witz und Verve und zeigt dabei, wie zeitlos sie sind.

Noch nie waren Märchen so lustig und raffiniert, so düster und sexy - und so wahr. Rumpelstilzchen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen und Rapunzel - wer erinnert sich nicht an die Gutenachtgeschichten aus der Kindheit, an Märchen, die uns verzauberten und schaudern machten. Einer der begnadetsten amerikanischen Schriftsteller holt nun diese und andere Märchen in unsere Gegenwart und erzählt, was sie verschwiegen oder vergessen haben oder wie es nach dem angeblichen Ende »wirklich« weitergeht. Und welch tiefe Abgründe sich an jeder Ecke auftun können. Die altüberlieferten Mythen über Könige und Prinzessinnen, Flüche, Zauber, Habgier und Verlangen erweisen sich in Michael Cunninghams spielerischen, so ironischen wie klugen Erzählungen als verblüffend modern und menschlich.



Michael Cunningham wurde 1952 in Cincinnati, Ohio, geboren und wuchs in Pasadena, Kalifornien, auf. Er lebt in New York City, lehrt an der Yale University und hat mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht. Sein Roman »Die Stunden« wurde vielfach preisgekrönt, u. a. mit dem Pulitzerpreis und dem PEN/Faulkner-Award, und wurde in 22 Sprachen übersetzt. Die überaus erfolgreiche Verfilmung »The Hours« mit Meryl Streep, Julianne Moore und Nicole Kidman wurde mit einem Oscar ausgezeichnet.

GEHÄNSELT



s ist hier von keinem besonders aufgeweckten Jungen die Rede. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass ihm rechtzeitig einfällt, seine Mutter zur Chemo zu fahren oder bei Regen die Fenster zu schließen.

Geschweige denn, dass ihm der Verkauf der Kuh gelingt, die, seit ihnen das Geld ausgegangen ist, den letzten Vermögenswert der Familie darstellt.

Wir reden über einen Jungen, der die letzte Habe seiner Mutter auf halbem Weg in die Stadt einem Fremden überlässt, für eine Handvoll Bohnen. Der Typ behauptet, die Bohnen seien verzaubert, und das reicht Hans als Erklärung vollkommen aus. Er fragt nicht einmal nach, welche Sorte von Zauber die Bohnen angeblich entfalten. Vielleicht verwandeln sie sich in sieben hübsche Ehefrauen. Vielleicht verwandeln sie sich in die sieben Todsünden und umschwirren ihn wie ein Fliegenschwarm bis ans Ende seiner Tage.

Hans hat keine Zweifel. Hans ist nicht gut im Hinterfragen. Hans ist der Junge, der sagt: Wow, Mann, magische Bohnen, echt?

Es gibt unzählige Jungen wie Hans. Jungen, die sich an absurde Versprechungen klammern, an Spekulationen, Jungen, die fest davon überzeugt sind, geborene Gewinner zu sein. Sie haben eine tolle Idee für ein Drehbuch – ihnen fehlt nur, Sie wissen schon, irgendjemand, der es für sie aufschreibt. Bei den Partys ihrer Freunde spielen sie den DJ und glauben tatsächlich, früher oder später spazierte irgendein Clubbesitzer herein, um sie abzuwerben und vor großem Publikum auflegen zu lassen. Sie brechen die Berufsschule ab, weil sie nach ein, zwei Halbjahren der Meinung sind, eine Ausbildung wäre etwas für Verlierer – da ist es doch besser, weiterhin in seinem alten Kinderzimmer zu wohnen und arbeitslos zu sein, vorübergehend, bis Ruhm und Reichtum sich einstellen.

Ob Hans’ Mutter sich aufgeregt hat, als er nach Hause kam, die Hand ausstreckte und ihr zeigte, was er für die Kuh bekommen hat? Ja, und wie.

Womit habe ich das verdient, wo ich so viele Opfer gebracht, so viele Abendessen praktisch aus dem Nichts hervorgezaubert und selbst kaum etwas gegessen habe, wie konnte ich dich zu einem dermaßen rücksichtslosen und unzuverlässigen Menschen heranziehen, kannst du mir das bitte mal erklären?

Ist Hans enttäuscht von der Phantasielosigkeit seiner Mutter, von ihrer mangelnden Courage im Spiel des Lebens, ihrem unerschütterlichen Glauben an preisbewusstes Einkaufen und No-Name-Produkte, der sie genau da hingebracht hat, wo sie heute steht? Ja, und ob.

Mom, im Ernst, sieh dir mal unser Haus an! Ist Sparsamkeit nicht dasselbe wie Sterben auf Raten? Frag dich das mal. Warum will uns seit Dads Tod niemand mehr besuchen? Nicht einmal der hungrige Hank. Oder der wirre Willie.

Hans erwartet keine Antwort, er will sie gar nicht hören, und so spult sie sich still im Kopf der Mutter ab.

Ich habe meinen wunderschönen Sohn, ich sehe seine jungen, starken Schultern, wenn er sich morgens über das Waschbecken beugt. Wozu brauche ich die gelben Zähne vom hungrigen Hank oder den wirren Willie mit seinem krummen Rücken?

Dennoch, ihr Sohn hat die Kuh gegen eine Handvoll Bohnen eingetauscht. Hans’ Mutter wirft die Bohnen aus dem Fenster und schickt ihn ohne Abendessen ins Bett.

Märchen haben normalerweise eine Moral. In einer trostloseren Version würden Mutter und Sohn verhungern.

In dem Fall wäre die Moral von der Geschichte: Mütter, bleibt realistisch, was eure einfältigen Söhne angeht, egal, wie charmant ihr schiefes Lächeln wirkt, wie niedlich ihnen die dunkelgoldenen Locken in die Stirn fallen. Wenn ihr sie idealisiert und ihnen Tugenden zusprecht, die sie ganz offensichtlich nicht besitzen, wenn ihr in blindem Wunschdenken darauf besteht, ein vernünftiges Kind großgezogen zu haben, das euch im Alter unterstützen wird … dann seid nicht überrascht, nach einem Sturz im Badezimmer die Nacht auf den Fliesen verbringen zu müssen, weil euer Sohn bis zum nächsten Morgen mit seinen Freunden durch die Kneipen zieht.

Aber so endet sie nicht, die Geschichte von Hans und der Bohnenranke.

Dieses Märchen lehrt uns etwas anderes: Vertraue dem Fremden. Glaube an die Magie.

Der Fremde in der Geschichte von Hans und der Bohnenranke hat nicht gelogen. Am nächsten Morgen ist Hans’ Fenster von hemmungslos wucherndem Grün verdunkelt. Er sieht Blätter, so groß wie Bratpfannen, einen Stängel, so dick wie ein Baumstamm. Als er den Kopf in den Nacken legt, stellt er fest, dass die Bohnenranke bis in die Wolken gewachsen ist.

Genau: Investieren Sie in ein Wüstengrundstück, dort wird demnächst ein Highway gebaut. Steigen Sie frühzeitig in die revolutionäre Altersumkehrtechnologie Ihres Onkels ein. Geben Sie jede Woche mindestens die Hälfte Ihres Haushaltsgeldes für Lotterielose aus.

Hans kann nicht aus seiner Haut, deswegen stellt er weder Fragen, noch macht er sich Gedanken, ob es wirklich ratsam ist, an der Bohnenranke hinaufzuklettern.

Oben angekommen, entdeckt er das gigantische Schloss eines Riesen, das auf einer besonders flauschigen Wolke steht. Das Schloss ist blendend weiß und scheint ganz leicht zu beben, als wäre es aus konzentriertem Dunst gebaut, als könnte es beim nächsten Gewitter zu einer riesigen, perlmuttschimmernden Pfütze zerfließen.

Weil er nun einmal Hans ist, geht er schnurstracks zu der gigantischen, schneeweißen Tür. Sicher werden die Bewohner sich freuen, ihn zu sehen!

Noch bevor er anklopfen kann, hört er jemanden seinen Namen rufen, ganz leise, als hätte der Wind gelernt, Haaans zu hauchen.

Der Windhauch ballt sich zu einem Wolkenmädchen zusammen, zu einer Jungfrau aus Nebel.

Sie erzählt Hans, dass der Riese, der in dem Schloss wohnt, vor vielen Jahren Hans’ Vater umgebracht hat. Der Riese habe auch den kleinen Sohn töten wollen, aber Hans’ Mutter habe sich das Baby an die Brust gedrückt und so inbrünstig um Gnade gefleht, dass der Riese den Jungen verschonte, unter einer Bedingung: Niemals dürfe die Mutter ihm verraten, auf welche Weise sein Vater umgekommen war.

Vielleicht hat Hans’ Mutter ihn aus diesem Grund immer behandelt, als wäre er ein kostbarer Schatz und die Hoffnung in Person.

Das Nebelmädchen erzählt Hans, er habe einen rechtmäßigen Anspruch auf alles, was der Riese sein Eigen nenne. Dann löst sie sich auf wie hastig ausgeatmeter Zigarettenqualm und verschwindet.

Doch weil er nun einmal Hans ist, war er sowieso der Meinung, einen rechtmäßigen Anspruch auf die Besitztümer des Riesen – eigentlich auf alle Besitztümer ganz allgemein – zu haben. Die Geschichte von dem Vater, der angeblich aus beruflichen Gründen nach Brasilien musste und dort an der Ruhr gestorben ist, hat er ohnehin nie so recht geglaubt.

Er klopft an, die Frau des Riesen öffnet die Tür. Früher einmal mochte sie hübsch gewesen sein, aber von ihrem Liebreiz ist nichts geblieben. Ihr Haar ist schütter, der Kittel voller Flecken. Sie sieht so abgekämpft und verhärmt aus wie seine Mutter, nur eben zwanzig Meter größer.

Hans verkündet, er habe Hunger, denn die Welt dort unten könne ihm nichts bieten.

Die Frau des Riesen, die nur selten Besuch bekommt, ist hocherfreut über das hübsche kleine Mann-Kind vor ihrer Tür. Sie bittet Hans herein und serviert ihm ein Frühstück, warnt ihn aber gleichzeitig vor dem Riesen, der bei seiner Rückkehr ganz bestimmt Hans zum Frühstück essen werde.

Bleibt Hans trotzdem? Selbstverständlich. Und kommt der Riese an dem Tag früher nach Hause? Natürlich.

Seine Stimme dröhnt durch die unermesslichen Weiten des Schlosses:

Fe fi fo fum,

Hier treibt sich doch ein Mensch herum.

Sei er lebendig oder tot,

Ich mahl seine Knochen und back daraus Brot.

Die Frau des Riesen versteckt Hans ausgerechnet in dem Topf, in dem ihr Mann ihn kochen würde. Sie hat kaum den Deckel daraufgelegt, als der Riese hereinstampft.

Er ist kräftig und untersetzt, aufbrausend und laut, so bedrohlich, wie es Kneipenschläger sind oder allgemein jene Gestalten, die zunächst ganz amüsant wirken (er trägt Lederwams und Strümpfe), in Wahrheit aber eine Gefahr darstellen, allein weil sie dumm genug und betrunken genug sind, ernstlichen Schaden anzurichten; weil ihnen jede Vernunft fehlt und es ihnen angemessen erscheint, andere auf eine vermeintliche Beleidigung hin mit der Billardstange zu erschlagen.

Die Riesin versichert ihrem Mann, er rieche nur den Ochsen, den sie ihm zum Mittagessen zubereitet habe.

Im Ernst?

An dieser Stelle, wir können die Augen nicht davor verschließen, schlägt das Ganze kurzzeitig in eine Farce um.

Riese: Ich weiß, wie Ochsen riechen. Ich weiß, wie Menschenblut riecht.

Riesin: Nun ja, es handelt sich um eine ganz neue Sorte, mit Aroma.

Riese: Was?

Riesin: Ganz neu! Es gibt jetzt auch Ochsen, die nach Prinzessinnentränen schmecken. Oder nach bösem Stiefmutterneid.

Sie serviert ihm den Ochsen. Am Stück.

Riese: Hm. Schmeckt wie ganz normaler Ochse.

Riesin: Dann kaufe ich so einen nicht wieder.

Riese: Ein gewöhnlicher Ochse ist vollkommen in Ordnung.

Riesin: Aber ich dachte, es wäre mal eine Abwechslung …

Riese: Du lässt dich einfach zu leicht übers Ohr hauen.

Riesin: Ich weiß. Niemand weiß das besser als...

Erscheint lt. Verlag 13.11.2017
Übersetzer Eva Bonné
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel A Wild Swan and Other Tales
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Andersen • Die Stunden • düster • eBooks • Grimm • Märchenbuch • Mythen • Pulitzerpreisträger • Roman • Romane • Sexy • The Hours • Witz • Zauber
ISBN-10 3-641-17563-1 / 3641175631
ISBN-13 978-3-641-17563-4 / 9783641175634
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