Bronsteins Kinder (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
302 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73130-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bronsteins Kinder -  Jurek Becker
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Damals, 1973, lebte Hans zusammen mit seinem Vater. Mit Martha, der Frau, die er liebte, fuhr er häufig zu dem Häuschen des Vaters vor der Stadt. Eines Tages fand Hans das Haus besetzt. Dies war der Beginn einer Geschichte, die sein Leben veränderte: In dem Haus wurde ein Mann gefangengehalten.



<p>Jurek Becker wurde am 30. September 1937 in Lodz/Polen geboren und starb am 14. März 1997 in Sieseby/Schleswig-Holstein. Von 1939 bis 1945 wuchs Becker im Ghetto in Lodz auf und wurde später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert. 1945 siedelte er in den Ostteil Berlins über, wo er von 1957 bis 1960 Philosophie an der Humboldt-Universität studierte. 1960 wurde Becker aus politischen Gründen vom Studium ausgeschlossen und ging an die Filmhochschule Babelsberg. Becker ist Autor zahlreicher Drehbücher. 1969 wurde sein erster Roman veröffentlicht - <em>Jakob der Lügner</em> wurde weltbekannt. Jurek Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold und dem Bundesverdienstkreuz.</p>

Jurek Becker wurde am 30. September 1937 in Lodz/Polen geboren und starb am 14. März 1997 in Sieseby/Schleswig-Holstein. Von 1939 bis 1945 wuchs Becker im Ghetto in Lodz auf und wurde später in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen inhaftiert. 1945 siedelte er in den Ostteil Berlins über, wo er von 1957 bis 1960 Philosophie an der Humboldt-Universität studierte. 1960 wurde Becker aus politischen Gründen vom Studium ausgeschlossen und ging an die Filmhochschule Babelsberg. Becker ist Autor zahlreicher Drehbücher. 1969 wurde sein erster Roman veröffentlicht – Jakob der Lügner wurde weltbekannt. Jurek Beckers Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold und dem Bundesverdienstkreuz.

Vor einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu Schaden, er starb. Das Ereignis fand am vierten August 73 statt, oder sagen wir ruhig das Unglück, an einem Sonnabend. Ich habe es kommen sehen.

Ich wohne seitdem bei Hugo und Rahel Lepschitz, dazu bei ihrer Tochter Martha. Sie wissen nichts vom Hergang der Geschichte, die in meines Vaters Tod ihren Höhepunkt fand, für sie ist er einfach an Herzinfarkt gestorben. Hugo Lepschitz hat damals gesagt, der Sohn seines besten Freundes sei ihm nicht weniger lieb als ein eigener, und sie haben mich zu sich genommen. Dabei hatten die beiden sich kaum zehnmal im Leben gesehen, und wenn sie auch nur das geringste füreinander übrig hatten, dann versteckten sie es wie einen Schatz.

Man hätte alles damals mit mir machen können, mich zu sich nehmen, mich fortschicken, mich ins Bett stecken, nur fragen durfte man mich nichts. Als ich einigermaßen wieder zu mir kam, war meine und meines Vaters Wohnung aufgelöst, ich lag auf dem Sofa der Familie Lepschitz, wurde von Martha gestreichelt, und der Fernseher lief.

Seit Tagen hört das Wetter nicht auf, ein Mai ist das! Ich spüre, wie das Leben zu mir zurückkehrt; es kribbelt in meinem Kopf, die grauen Zellen räkeln sich, nicht lange, und ich werde wieder denken können. Das Trauerjahr geht zu Ende. Wenn man mich vor den goldenen Thron riefe und nach dem einen großen Wunsch fragte, brauchte ich nicht lange zu überlegen: Gebt mir das steinerne Herz. Was die anderen mit ihren Gefühlen leisten, würde ich sagen, das möchte ich mit dem Verstand erledigen. In Zukunft kann mir sterben wer will, noch so ein Jahr wird mir nicht mehr passieren.

Hinter meinem Umzug kann nur Martha gesteckt haben. Als sie mich von Vaters Beerdigung mit den paar kleinen Juden nach Hause brachte und in der leeren Stube sitzen sah, wird ihr vor Mitleid das Herz zersprungen sein. Wir liebten uns damals entsetzlich. Bestimmt hatte sie die besten Absichten, auch wenn heute alles verloren ist. Wenn sie heute ins Zimmer kommt, fange ich sofort zu überlegen an, ob es draußen nicht etwas zu tun gäbe. Seit ich hier wohne, ist unsere Herzlichkeit verfallen, und man muß sehr gute Augen haben, um noch einen Rest davon zu erkennen.

Ich habe nicht den Mut, mich nach einer neuen Freundin umzusehen. Ich stelle mir vor, was geschehen würde, wenn ich eines Tages mit einer Jutta oder Gertrud hier auftauchte. Wie Rahel Lepschitz ihr Gesicht zwischen die Hände nehmen und wie Hugo Lepschitz den Kopf über so viel Undankbarkeit schütteln und wie Martha mit starren Augen versuchen würde, so zu tun, als handelte es sich um das Alltäglichste von der Welt.

Bei Lichte besehen stehe ich also vor der Wahl, mir entweder eine bestimmte Art von Zeitvertreib aus dem Kopf zu schlagen oder hier auszuziehen. Oder die Sache mit Martha renkte sich wieder ein, aber das halte ich für ausgeschlossen. Damals hat es mir nichts ausgemacht, daß sie anderthalb Jahre älter war als ich und daß manche sich wunderten, wie eine so reife und erwachsene Person sich mit einem Kindskopf wie mir abgeben konnte. Heute kommt sie mir vor wie eine Greisin.

Vor einem Jahr hätte ich meinen Kopf verwettet, daß wir drei Kinder haben würden und daß ein riesiges Glück vor uns lag. Vor einem Jahr habe ich gezittert, wenn ich sie nur um die Ecke kommen sah.

Für jede Verrichtung, die man mir überläßt, bin ich dankbar; in der ersten Zeit durfte ich nicht einmal Kohlen aus dem Keller holen, so als wäre Nichtstun die beste Therapie für einen Patienten wie mich. Wenn ich mich in die Wanne legen wollte, mußte Hugo Lepschitz mit seinen Angestelltenärmchen die Kohlen für den Badeofen nach oben schleppen. Aus Mitleid habe ich kaum mehr gebadet. Inzwischen hat sich das Blatt zu meinen Gunsten gewendet, ich darf sogar das Abendbrot zubereiten und den Tisch decken.

Ich decke den Tisch. Sie sehen fern wie jeden Abend, sie kennen keine schönere Beschäftigung, als nach Ähnlichkeiten zwischen Gesichtern auf dem Bildschirm und solchen, die sie persönlich kennen, zu suchen. Man kann nur staunen, wie groß ihr Bekanntenkreis ist, denn an jedem Abend landen sie Treffer. Einmal soll jemand wie mein Vater ausgesehen haben, aber ich wollte das Buch, das ich gerade las, nicht unterbrechen.

Sie setzen sich so an den Tisch, daß der Fernseher in ihrem Blickfeld bleibt. Lepschitz fragt seine Frau, wo Martha steckt, sie weiß es nicht. Er beißt so heftig in ein Stück Matze, daß im Umkreis von einem halben Meter ein Krümelregen niedergeht. Irgendwo in der Stadt gibt es ein Geschäft, in dem man ungarische Matze kaufen kann; Vater ist nur ein- oder zweimal im Jahr hingegangen, doch Lepschitz will jeden Abend diese bröckligen Fladen auf dem Tisch haben. Ich fand den Laden schon immer merkwürdig: keine Apfelsinen, kein Rindfleisch, keine Tomaten, aber Matze für Hugo Lepschitz. »Was ich dich fragen wollte«, sagt Lepschitz kauend.

Noch nie war mir so unbehaglich in dieser Wohnung, dabei ist nichts geschehen. Es ist nur Zeit vergangen, viel zuviel Zeit, es knistert mir im Kopf. Ich hasse die beiden nicht etwa, Gott behüte, ich liebe sie nur nicht allzu sehr und möchte fort und weiß nicht wie.

»Du ißt ja nichts«, sagt Rahel Lepschitz.

Die Fernsehsendung handelt von Bandscheibenschäden: ein rothaariger Mann erklärt, wie durch Stärkung der Rückenmuskulatur die Schmerzen gelindert werden können. Und eine junge Frau im Gymnastikanzug führt die entsprechenden Übungen vor, für Rahel Lepschitz nichts als Schwindel. Ihr Mann fragt: »Wo siehst du Schwindel?«

»Solche Übungen«, sagt sie, »kann nur ein Mensch ausführen, der keine Rückenschmerzen hat. Genausogut können sie einem Beinamputierten empfehlen, täglich zehn Kilometer zu laufen.«

Wer so lebt, wie ich es tue, wie eine Stubenfliege, auf welche Weise will der eine neue Freundin kennenlernen? Ich unternehme nichts, mir kann nichts schiefgehen, und nichts kann eine überraschend gute Wendung nehmen, du lieber Himmel, ich bin noch keine Zwanzig. Mein Vater, der selbst nicht der Lebendigste war, hätte das niemals zugelassen; er hätte darauf bestanden, daß ich in Bewegung bleibe, daß ich zumindest einmal am Tag die Wohnung verlasse, er war ein Antreiber. Wie alt darf einer sein, um noch Vollwaise genannt zu werden? Wenn jemand sechzig ist und keine Eltern mehr hat, wird sich niemand groß wundern, aber wo ist die Grenze?

»Was ich dich fragen wollte«, sagt Lepschitz. »Seit Wochen läßt sich erkennen, daß zwischen dir und Martha etwas nicht in Ordnung ist. Kann man helfen?« »Ich bitte dich«, sagt seine Frau.

»Man kann nicht helfen«, sage ich.

Die Frage verrät, daß Martha ihnen keine Auskunft gibt, das kommt nicht unerwartet. Damals werden sie gedacht haben, sie nähmen die große Liebe ihrer Tochter bei sich auf, Marthas Ein und Alles; plötzlich hängt ihnen ein Untermieter am Hals, ein Trauerkloß von einem Untermieter, der nicht genügend Feingefühl besitzt, sich nach erloschener Liebe zu verdrücken. Die Fernsehturnerin sieht einer Frau aus dem Hinterhaus ähnlich, ich wundere mich, daß sie es nicht bemerken.

»Du mußt verstehen«, sagt Rahel Lepschitz, »daß wir uns Gedanken machen.«

»Aber ja.«

Täglich erwarte ich einen Brief von der Universität. Wahrscheinlich werde ich angenommen, ich habe wenig Zweifel: mein Abiturzeugnis ist gut, und Hinterbliebener zweier Opfer des Naziregimes bin ich auch, was soll da schiefgehen. Ich habe mich für das Fach Philosophie beworben.

Wenn es nach Vaters Willen ginge, hätte ich Medizin zu studieren, er wünschte sich immer einen Internisten zum Sohn. Aber es geht nicht nach seinem Willen, ich werde Philosophie studieren, ohne zu wissen, worum es sich dabei handelt.

»Hab bitte Vertrauen zu uns. Mit wem willst du sonst sprechen?«

Ich sage: »Das ist wahr.«

»Und weiter?«

»Wir fühlen uns nicht mehr voneinander angezogen«, sage ich.

Als ich zehn Tage hier wohnte, habe ich mich hingesetzt und ausgerechnet, wieviel mein Aufenthalt sie jeden Monat kosten würde, es war die größte geistige Anstrengung während des vergangenen Jahres. Seitdem überweise ich an jedem Monatsersten eine gewisse Summe. Zuerst wollten sie keinen Pfennig akzeptieren. Doch ich konnte keine Rücksicht darauf nehmen, nicht nur weil ich fünfmal mehr Geld auf dem Konto habe als sie; ich habe damals argumentiert, daß jedes Verhältnis, in dem die Opfer immer nur von einer Seite getragen werden, nicht von Dauer sein könne. Martha, die zufällig dabeisaß und uns zuhörte, murmelte etwas von altklug. Lepschitz handelte mich um dreißig Mark nach unten, dann waren sie einverstanden.

»Warum antwortest du uns nicht?«

Wie ein Rettungsengel schwebt Martha ins Zimmer. Sie schwebt hinter meinem Rücken vorbei, tippt mir flüchtig auf die Schulter, küßt Mutter, küßt Vater und landet sicher auf einem Stuhl. Tausend Tropfen stecken in ihrem Haar, das braun und glatt ist und über alle Maßen lang. Es ist mir klar, daß ich, sobald von ihrem Aussehen die Rede ist, noch immer wie ein Verliebter klinge. Sie entschuldigt sich für das späte Kommen und erzählt, wer sie aufgehalten hat.

Ich sage: »Wir haben eben über dich gesprochen.«

Das ist nicht nett, natürlich nicht, ich sage es mehr aus Bosheit als um einer Klärung willen.

»Es war nicht weiter wichtig«, flüstert ihre Mutter.

»Ich habe gesagt, daß wir uns nicht mehr voneinander angezogen fühlen«, sage ich...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufseher • Belletristische Darstellung • Berlin • Judenvernichtung • Konzentrationslager • Ost • ST 1517 • ST1517 • suhrkamp taschenbuch 1517 • Überlebender
ISBN-10 3-518-73130-0 / 3518731300
ISBN-13 978-3-518-73130-7 / 9783518731307
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,5 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99