Das Amerika der Seele (eBook)

Essays 1996-2013
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
496 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-16969-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Amerika der Seele -  Karl Ove Knausgård
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Essays von Karl Ove Knausgård
Warum schreiben, warum malen, warum fotografieren? Warum lesen, warum Gemälde betrachten, warum in Galerien gehen? Kann es dabei um etwas anderes gehen als um die großen Fragen des Lebens? Und was hat diese Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben zu tun?

Das Amerika der Seele ist eine Sammlung von Texten, die einen weiten Bogen spannen: von der Gnade, die darin liegen kann, der Beerdigung des eigenen Vaters beizuwohnen, bis zur Bedeutung der Einsamkeit in den Bildern der US-amerikanischen Fotokünstlerin Francesca Woodman. Vom Massaker auf Utøya bis zu Knut Hamsuns missglücktem Meisterwerk »Mysterien«.

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 nahm er in Kopenhagen den Hans-Christan-Andersen-Literaturpreis entgegen. Er lebt in London.

BILDER FRANCESCA WOODMANS SAH ICH ZUM ersten Mal in einem Fotoband, den Linda gekauft und im Wohnzimmer in das Regal mit den Kunstbüchern gestellt hatte. Auf dem Schutzumschlag war eine junge Frau abgebildet, die am Bildrand hockte, das Kinn auf eine Hand gestützt, und mich direkt anstarrte. Die Wand hinter ihr war weiß, aber schäbig, voller Risse und Flecken, und auf dem Holzboden, grob und uneben, lagen abgebröckelter Putz, Staub, abgeblätterte Farbe. Der Blick der Frau war einerseits fragend, andererseits abschätzend. So, so, du siehst mich an? Sie trug ein unifarbenes Kleid mit einem Muster aus kleinen und großen schwarzen Punkten. Oder sagte ihr Blick »ach, mach schon, guck einfach«? In diesen Augen lagen eine Selbstsicherheit und Offenheit, der das Fragende in ihrem Blick eine Grenze setzte.

Ich schlug das Buch auf und blätterte darin. Das erste Bild zeigte eine nackte Frau, sie saß mit gespreizten Beinen, eine Glasscheibe gegen ihren Bauch und den behaarten Schoß gepresst, auf einem schmutzigen Stuhl, den Kopf vorgebeugt, vollständig verdeckt von langen Haaren. Ich blätterte weiter und sah eine Frau, nur mit Strümpfen und Schuhen bekleidet, die mit gespreizten Beinen neben einer Pflanze saß, hängende Brüste, ein bleicher, teigiger Bauch, das Gesicht der trompetengleichen Blüte zugewandt, die Nase beinahe in ihr, die Augen geschlossen. Am rechten Bildrand, neben einem abgeschnittenen Spiegel, hing dasselbe Kleid wie auf dem Umschlagbild. Am linken Bildrand eine durch Feuchtigkeit beschädigte Tür, ganz unten dunkel, als würde sie schon faulen. Ich blätterte weiter, sah ein Bild von einer unscharfen Gestalt, die unter eine Art Möbel gekrochen war, in einem verfallenen Zimmer, in dem die Tapete in Fetzen hing. Das reichte mir, jetzt war es gut, gereizt schlug ich das Buch zu und stellte es fort, erfüllt von etwas, was an Abscheu erinnerte. Dieses Frauenzeug, das mir direkt ins Gesicht geschleudert wurde, ging mir auf die Nerven.

Am ersten Mai dieses Jahres sah ich in New York zum zweiten Mal Bilder von Francesca Woodman. Da hatte ich nicht nur ihre Bilder, sondern auch ihren Namen längst vergessen und verband nichts mit ihm, als Asbjørn vorschlug, ins Guggenheim zu gehen, um sich dort eine Fotoausstellung anzusehen. Asbjørn ist Experte für alles, was in der Welt der Kunst und Literatur vor sich geht, so dass ich wusste, wenn er eine solche Empfehlung aussprach, war die Ausstellung einen Besuch wert. Auf dem Weg dorthin erzählte er mir, sie habe sich mit nur zweiundzwanzig Jahren das Leben genommen. Ich sah eine Sarah Kane-artige Bildwelt vor mir, dunkel und chaotisch und unschön, und meine Lust verflüchtigte sich ein wenig. Dennoch ging ich mit. Jill, Lektorin in dem amerikanischen Verlag, der meine Bücher herausgibt, begleitete uns und sagte, sie habe eine Freundin, die Woodman gekannt habe, und offen für die hohe Qualität und große Bedeutung der Bilder ging ich von Wand zu Wand und starrte sie an. Ein steter Zusammenprall von Körper und Raum. Offenbar seit langem verlassene Räume, darin ein stehender, sitzender, liegender, kriechender oder hängender Körper, häufig nackt, häufig gesichtslos, in mehr oder weniger verdrehten, oft auffallend inszenierten Posen. Sie gaben wenig preis, hingen fast stumm vor mir, waren nur, was sie waren, aber ich sah trotzdem, dass sie mir gefielen, und versuchte, mich der Welle der Begeisterung anzuschließen, mit der die anderen hinterher über die Bilder sprachen. In der Museumsbuchhandlung kaufte ich ein Buch von Woodman. Erst als ich im Hotelzimmer darin blätterte, erkannte ich die Bilder wieder. Ich rief Linda an, hatten wir zu Hause eventuell ein Buch von Woodman? Linda lachte und antwortete, das hätten wir, was los sei, interessierte ich mich jetzt plötzlich für sie?

Zwei Tage später kehrte ich in das Museum zurück und sah mir die Bilder allein an. Anschließend ging ich in die ständige Ausstellung in der ersten Etage hinunter, wo Gemälde vom Anfang des 20. Jahrhunderts hängen, ausschließlich Klassiker, Pissarro, Picasso, Manet, Monet, Cézanne, van Gogh, Gauguin, und diese Gemälde, so farbsprühend, erschienen mir plötzlich wie etwas aus einer anderen Zeit, ohne jede Relevanz für das, was in mir und um mich herum vorging. Sie waren Museumsobjekte, sagte mir mein Gefühl. Es war ein intensives Gefühl, und es war neu, denn die Bilder der Impressionisten und Post-Impressionisten haben mich immer sehr angesprochen, sie bildeten nicht nur einen Höhepunkt in der Geschichte der Malerei, zwischen Altem und Neuem oszillierend, voller Leben, sondern hatten eine persönliche Bedeutung für mich besessen, weil sie sich immer mit meinen Gefühlen verbunden, meinen Augenblick mit dem ihren gefärbt hatten. Jetzt waren sie tot. Selbst Monets Bilder, die trotz des hohen Kitschfaktors, den die zahllosen Poster und Reproduktionen seinen Werken verliehen haben, dem bestimmten Augenblick so nahe gewesen waren, dem Licht darin, zum Beispiel an einem Sommernachmittag an der Küste der Normandie, dass sie stets die Zeit überbrückten, die zwischen dem Augenblick des Bildes und dem Augenblick des Betrachters lag, denn wir alle kennen das Licht über dem Meer an einem Sommernachmittag, es ist auch unser Licht, das jederzeit in uns aufsteigen und auf diese Weise die Verbindung zwischen der Vergangenheit, unserer eigenen und der geschichtlichen einerseits, und der Gegenwart andererseits herstellen kann, durch die Gefühle, die das sind, wodurch wir die Welt am tiefsten erleben. Wir waren, und wir sind, und wir werden, das sind die Gefühle, die Monets Bilder in mir ausgelöst haben. Allerdings nicht vorbehaltlos, denn im Registrieren von Licht und Farben des Augenblicks liegt immer auch etwas Fremdes, eine Art Versachlichung der Welt, etwas Fernes und Objektives, das wir nicht mit uns verknüpfen können, weder im Augenblick selbst noch in seiner Wiedererschaffung durch die Kunst, und das große Verdienst des Impressionismus bestand darin, dass er, möglicherweise, ohne es überhaupt zu wissen, diesen Abgrund im Licht zeigte und nicht im Dunkeln, wie es etwa die Gemälde des Barock taten. Der Tod im Licht, der Tod im grünen Laub, der Tod im blauen Himmelsgewölbe. Das war die Relevanz Monets und seiner Zeitgenossen: Durch die Einkreisung des Augenblicks verbanden sie uns mit ihm, ließen sie uns seine Schönheit sehen und erfüllten uns mit einem Gefühl dafür, was es heißt, zu leben, aber auch dafür, was es heißt, nicht zu leben.

Diese Relevanz ist universell, sie hat nichts damit zu tun, was in der gesellschaftlichen und politischen Sphäre entstehen mag; die Lichtreflexe auf einer Wasserfläche glitzern unabhängig davon, ob wir das Essen salzen oder es im Kühlschrank aufbewahren, ob wir Sozialdemokraten oder Neokonservative sind, ob wir zu Pferde reiten oder Auto fahren, ob wir Briefe verschicken oder Textnachrichten. Jedenfalls habe ich das immer gedacht, aber an jenem Nachmittag im Guggenheim-Museum in New York war diese Relevanz verschwunden.

Ich verließ die Museumsräume und ging die 5th Avenue hinunter, erst an dem großen Park entlang, danach unter den gewaltigen Wolkenkratzern, so traumgleich in ihrer Unzugänglichkeit, und dachte dabei die ganze Zeit an das, was ich soeben erlebt hatte: Warum empfand ich plötzlich Francesca Woodmans Fotografien, so jugendlich schlicht, als relevant, und warum schienen mir die großen Maler des frühen 20. Jahrhunderts plötzlich irrelevant zu sein? Hatten Woodmans Bilder mich auf etwas aufmerksam gemacht, was es bei Monet oder van Gogh nicht gab und was demnach ausschließlich zu uns gehören musste, zu dieser Welt aus gelben Taxis mit Fernsehbildschirmen in den Rückenlehnen der Sitze, schwebenden Hubschraubern und Menschen, deren Blicke auf ihren Mobiltelefonen klebten, zwischen denen ich an diesem Nachmittag im Mai hindurch gehastet war, während die Sonne am Himmel über den Wolkenkratzern immer tiefer stand und schon bald hinter ihnen untergegangen sein würde? Oder war es so, dass der Gedanke an die Universalität mit dem verbunden ist, was bereits etabliert ist, und mit diesem erstarrt, und deshalb ständig neu erobert werden muss, um gültig zu bleiben, und ständig neues Territorium erobern muss, um uns mit seiner vollen, lebendigen Kraft zu treffen?

Ein Bild von einem schlanken Körper in einem schwarzweißgepunkteten Kleid, die nackten Arme an den Seiten herabhängend, in der einen Hand ein zylinderförmiger Gegenstand, der sich bei genauerem Hinsehen als ein Birkenholzscheit erweist, das ungefähr die gleiche Länge und den gleichen Durchmesser hat wie der Unterarm. Der Körper ist an Schultern und Beinen beschnitten, so dass weder das Gesicht noch die Füße sichtbar sind. Menschen identifizieren wir durch das Gesicht, ohne es wird der Körper zu einem beliebigen Körper, und durch das Gesicht lesen wir andere Menschen. Sehen wir ein Gesicht, stellen wir eine Verbindung zu ihm her. Dieses Foto verweigert uns eine solche Identifikation und zwingt den Blick so, sich auf die Suche nach anderen Identifikationsangeboten zu machen, sie bewegen sich von, wer sie ist, der ersten Frage, die wir dem Gesicht stellen, dazu, was sie ist. Oder besser, was das ist. Ein Torso, mit Stoff bekleidet, zwei nackte Arme, ein Birkenholzscheit? Das Muster auf der Rinde ähnelt dem auf dem Kleid, die Verbindung ist ebenso unumgänglich wie simpel, dieser Körper ist wie ein Baum.

Die Aufnahme, entstanden 1980 in der MacDowell Colony in New Hampshire, gehört zu einer Serie von Bildern, die um dasselbe Thema kreist, Körper und Baum. Acht nebeneinander gestellte Bilder von einer Reihe heller Birkenstämme vor einem dunklen Waldhintergrund. Auf einem ist ein langgestreckter, unscharfer Körper mit hochgereckten Armen als direkte Verlängerung des Stamms hineingeschnitten worden....

Erscheint lt. Verlag 31.10.2016
Übersetzer Paul Berf, Ulrich Sonnenberg
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Sjelens Amerika
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alltag • Amerika • Beerdigung • Belletristik • Breivik • Cindy Sherman • eBooks • Einsamkeit • Francesca Woodman • Gnade • Heidegger • Knut Hamsun • Lektor • Massaker • Mysterien • Norwegen • Sally Mann • Sammlung • Sandhornet • Skandinavien • Vater
ISBN-10 3-641-16969-0 / 3641169690
ISBN-13 978-3-641-16969-5 / 9783641169695
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