Und damit fing es an (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
333 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-74913-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und damit fing es an -  Rose Tremain
Systemvoraussetzungen
10,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Und damit fing es an ist ein zarter, bewegender Roman, der davon erzählt, dass es manchmal fast ein ganzes Leben dauert, bis man das Glück findet - in dem einen Menschen, den man zum Leben braucht.

Gustav Perle ist ein zurückhaltender Mann. Schon in den 40er-Jahren, als Kind in ärmlichen Verhältnissen, hat er gelernt, nicht zu viel vom Leben zu wollen. Als Anton in seine Klasse kommt, ein Junge aus einer kultivierten jüdischen Familie, hält mit ihm auch das Schöne in Gustavs Leben Einzug. Seine Mutter Emilie sieht das nicht gerne, aber für Gustav ist Anton alles, was er braucht, um glücklich zu sein. Doch das Leben treibt sie auseinander und es wird lange Jahre dauern, bis beide sich wiedersehen - und erkennen, dass das Glück vielleicht schon immer direkt vor ihnen lag.



<p>Rose Tremain wurde 1943 geboren und wuchs in London auf.<strong> </strong>Sie studierte ein Jahr lang an der Pariser Sorbonne, ging zurück in ihre Heimat und begann ein Anglistikstudium an der University of East Anglia in Norwich, das sie 1967 abschloss. Dort lehrte sie später von 1988-1995 als Dozentin <em>creative writing</em>. Vorher war sie Lehrerin an einer Privatschule für Jungen. Rose Tremain veröffentlichte Romane, Kurzgeschichten, schrieb aber auch für Film, Funk und Fernsehen. Ihr Roman <em>Zeit der Sinnlichkeit </em>wurde 1995 mit Robert Downey Jr., Hugh Grant und Meg Ryan verfilmt (<em>Restoration</em>). Ihr Roman <em>The Road Home</em>, der im Suhrkamp Verlag unter dem Titel <em>Der weite Weg nach Hause </em>erschien, wurde 2008 mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Tremain lebt mit ihrem Lebenspartner, dem Biographen Richard Holmes, in London und Norwich. Im Jahr 2020 wurde sie von der Queen in den Adelsstand erhoben. Ihr Werk erscheint auf Deutsch im Suhrkamp und Insel Verlag.</p>

Rose Tremain wurde 1943 geboren und wuchs in London auf. Sie studierte ein Jahr lang an der Pariser Sorbonne, ging zurück in ihre Heimat und begann ein Anglistikstudium an der University of East Anglia in Norwich, das sie 1967 abschloss. Dort lehrte sie später von 1988-1995 als Dozentin creative writing. Vorher war sie Lehrerin an einer Privatschule für Jungen. Rose Tremain veröffentlichte Romane, Kurzgeschichten, schrieb aber auch für Film, Funk und Fernsehen. Ihr Roman Zeit der Sinnlichkeit wurde 1995 mit Robert Downey Jr., Hugh Grant und Meg Ryan verfilmt (Restoration). Ihr Roman The Road Home, der im Suhrkamp Verlag unter dem Titel Der weite Weg nach Hause erschien, wurde 2008 mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet. Tremain lebt mit ihrem Lebenspartner, dem Biographen Richard Holmes, in London und Norwich. Ihr Werk erscheint auf Deutsch im Suhrkamp und Insel Verlag.

Mutti


Matzlingen, Schweiz, 1947


Mit fünf Jahren wusste Gustav Perle nur eines sicher: Er liebte seine Mutter.

Ihr Name war Emilie, aber alle nannten sie Frau Perle. (In der Schweiz waren die Menschen damals nach dem Krieg recht formell. Man konnte sein Leben verbringen, ohne jemals den Vornamen seines nächsten Nachbarn zu erfahren.) Gustav nannte Emilie Perle »Mutti«. Sie sollte sein Leben lang »Mutti« bleiben, auch dann noch, als das Wort für ihn babyhaft zu klingen begann: seine Mutti, sein Ein und Alles, eine dünne Frau mit einer durchdringenden Stimme und strähnigen Haaren, die sich in der kleinen Wohnung irgendwie zögerlich von Zimmer zu Zimmer bewegte, als fürchte sie, zwischen einem Schritt und dem nächsten auf Dinge – oder sogar Menschen – zu stoßen, die sie nicht erwartet hatte.

Von der Wohnung im zweiten Stock, zu der eine für das Haus zu stattliche Steintreppe führte, konnte man den Fluss Emme und Matzlingen sehen, eine Stadt in der Region zwischen Jura und Alpen, die sich Schweizer Mittelland nennt. An der Wand von Gustavs winzigem Zimmer hing eine Karte von Mittelland, auf der sich der Landstrich grün und hügelig ausnahm und von Viehherden, Wasserrädern und kleinen Kirchen mit Schindeldächern belebt war. Manchmal nahm Emilie Gustavs Hand und führte sie an die Stelle, wo Matzlingen am Nordufer des Flusses eingezeichnet war. Das Symbol für Matzlingen war ein Käserad mit einem herausgeschnittenen Stück. Gustav konnte sich erinnern, dass er Emilie einmal gefragt hatte, wer denn das fehlende Stück Käse gegessen habe. Aber Emilie hatte geantwortet, er solle ihre Zeit nicht mit albernen Fragen vertun.

Auf der Eichenanrichte im Wohnzimmer stand eine Fotografie von Erich Perle, Gustavs Vater, der gestorben war, bevor Gustav alt genug war, um sich an ihn zu erinnern.

Jedes Jahr am ersten August, dem Schweizer Nationalfeiertag, stellte Emilie Enziansträußchen rund um das Foto und ließ Gustav davor knien und für die Seele seines Vaters beten. Gustav wusste nicht, was eine Seele ist. Er sah nur, dass Erich ein gutaussehender Mann mit einem selbstbewussten Lächeln war, der eine Polizeiuniform mit glänzenden Knöpfen trug. Also beschloss Gustav, für die Knöpfe zu beten – dafür, dass sie ihren Glanz behielten und dass das stolze Lächeln seines Vaters mit den Jahren nicht verblasste.

»Er war ein Held«, sagte Emilie jedes Jahr wieder zu ihrem Sohn. »Zuerst habe ich es nicht begriffen, aber das war er. Er war ein guter Mann in einer verkommenen Welt. Falls irgendjemand dir etwas anderes erzählt, dann irrt er sich.«

Manchmal murmelte sie, die Augen geschlossen und die Hände zusammengepresst, auch andere Dinge über Erich, an die sie sich noch erinnerte. Eines Tages sagte sie: »Es war so ungerecht. Ihm ist nie Gerechtigkeit widerfahren. Und das wird es auch nie.«

*

In einem Kittel, das kurze Haar sorgfältig gekämmt, wurde Gustav jeden Morgen in die an die Grundschule angeschlossene örtliche Vorschule gebracht. An der Tür des Schulhauses blieb er immer vollkommen regungslos stehen und sah Emilie hinterher, wenn sie sich wieder entfernte. Er weinte nie. Häufig fühlte er einen Schluchzer aus seinem Herzen aufsteigen, aber er zwang ihn stets wieder hinunter. Denn Emilie hatte ihm beigebracht, wie er sich in der Welt zu verhalten habe: Er hatte sich zu beherrschen. Die Welt sei voller schlechter Menschen, sagte sie, aber Gustav habe seinem Vater nachzueifern, der, als ihm Unrecht geschah, ein ehrenhafter Mann geblieben sei; er habe sich beherrscht. Wenn Gustav das beherzige, sei er auf alles, was da kommen mochte, vorbereitet. Denn selbst in der Schweiz, die vom Krieg verschont geblieben sei, wisse niemand, was die Zukunft bringen werde.

»Du siehst also«, sagte sie, »du musst wie die Schweiz sein. Verstehst du? Du musst dich zusammenreißen und mutig und stark sein und dich heraushalten. Dann wirst du die richtige Art Leben führen.«

Gustav hatte keine Ahnung, was »die richtige Art Leben« war. Alles, was er kannte, war sein eigenes Leben, das Leben mit Emilie in der Wohnung im zweiten Stock mit der Karte von Mittelland an seiner Zimmerwand und Emilies Strümpfen, die an einer Leine über der gusseisernen Badewanne trockneten. Er wünschte sich, sie würden immer dort hängen, diese Strümpfe. Er wünschte sich, Geschmack und Konsistenz der Rösti, die es zum Abendessen gab, würden sich nie ändern. Selbst der Käsegeruch in Emilies Haaren, den er nicht besonders mochte, gehörte, wie er genau wusste, einfach dorthin, weil Emilies Arbeitsstelle in der Matzlinger Käse-Kooperative sie beide am Leben hielt.

Die Spezialität der Matzlinger Kooperative war Emmentaler aus der Milch der Kühe in den Emme-Tälern. »Es gibt viele ausgezeichnete Erfindungen in der Schweiz«, erklärte Emilie Gustav und klang dabei wie eine Reiseführerin, »und der Emmentaler Käse ist eine von ihnen.« Doch trotz seiner ausgezeichneten Qualität schwankte der Umsatz des Emmentalers – sowohl innerhalb der Schweiz als auch in all den Ländern, die noch mit dem mühsamen Wiederaufbau nach dem Krieg beschäftigt waren. Und wenn der Umsatz nach unten ging, konnten die Prämien, die den Käsereiangestellten zu Weihnachten und am Nationalfeiertag ausgezahlt wurden, enttäuschend gering ausfallen.

Das Warten auf ihre Prämie machte Emilie Perle immer ganz benommen vor Sorge. Sie saß dann an dem Küchenregal (es war kein Tisch, sondern nur ein Regalbrett mit Scharnier, an dem Gustav und sie ihre Mahlzeiten einnahmen) und rechnete auf den grauen Rändern des Lokalblatts Matzlinger Zeitung Zahlenkolonnen zusammen. Die Druckerschwärze trübte stets ihre Rechenkünste. Außerdem blieben die Zahlen nicht in ihren Kolonnen, sondern wanderten in Reportagen über den Schwingfest-Wettbewerb und die Sichtung von Wölfen in den nahe gelegenen Wäldern. Manchmal wurde Emilies hektische Kritzelei noch zusätzlich durch ihre Tränen verschmiert. Sie hatte Gustav beigebracht, niemals zu weinen. Aber diese Regel schien für sie selbst nicht zu gelten, denn manchmal, wenn Gustav spät in der Nacht leise aus seinem Zimmer schlich, fand er Emilie weinend über den Seiten der Matzlinger Zeitung.

In solchen Momenten roch ihr Atem oft nach Anis, und sie hielt ein Glas mit einer wolkig gelben Flüssigkeit umklammert; Gustav fürchtete sich vor alledem – vor ihrem Anisatem, vor dem dreckigen Glas und vor den Tränen seiner Mutter. Er kletterte auf den Hocker neben ihr und beobachtete sie aus den Winkeln seiner grauen Augen, und schon bald putzte Emilie sich die Nase, streckte die Hand nach ihm aus und sagte, es tue ihr leid. Dann küsste er ihre feuchte, brennende Wange, sie hob ihn hoch und trug ihn, unter seinem Gewicht schwankend, zurück in sein Zimmer.

In dem Jahr, als Gustav fünf wurde, gab es überhaupt keine Weihnachtsprämien, und Emilie sah sich gezwungen, für den Samstagmorgen eine zweite Arbeit als Putzfrau in der protestantischen Kirche Sankt Johann anzunehmen.

*

Sie sagte zu Gustav: »Bei dieser Arbeit kannst du mir helfen.«

Und so brachen sie gemeinsam sehr früh auf, noch bevor die Stadt richtig erwachte, bevor sich irgendein Licht am Himmel zeigte. Sie liefen durch den Schnee, folgten dem schwachen Strahl der beiden Taschenlampen, und ihr Atem benetzte ihre wollenen Schals von innen. Wenn sie in der Kirche ankamen, war diese ebenfalls dunkel und kalt. Emilie knipste die zwei grünlichen Neonröhren rechts und links vom Kirchenschiff an, und sie begannen mit der Arbeit, ordneten die Gesangbücher, staubten die Kirchenbänke ab, wischten den Steinfußboden und polierten die Messingkerzenständer. Sie konnten die Eulen in der schwindenden Dunkelheit rufen hören.

Wenn es dann heller wurde, nahm Gustav seine Lieblingsaufgabe in Angriff. Er kniete sich auf eines der Betkissen, schob es immer ein Stückchen weiter, während er das Gitter auf dem Mittelgang putzte. Vor Emilie tat er so, als müsse er dabei sehr gründlich vorgehen, weil das schmiedeeiserne Gitter so kunstvoll verschnörkelt war und sein Staubtuch jeder Windung der Ornamente von innen und außen nachzugehen hatte, worauf sie bemerkte: »In Ordnung, Gustav, das ist gut. Dass du gründlich arbeitest, ist gut.«

Was sie jedoch nicht wusste, war, dass Gustav immer nach Dingen für seine skurrile Sammlung von Gegenständen suchte, die durch das Gitter gefallen waren und dort im Staub lagen. Er nannte sie seinen »Schatz«. Nur Hände so klein wie seine konnten sie herausfingern. Hin und wieder fand er auch Geld, aber immer nur Münzen von niedrigem Wert, mit denen sich nichts kaufen ließ. Häufiger waren es Haarnadeln, verwelkte Blütenblätter, Zigarettenstummel, Bonbonpapiere, Büroklammern und Eisennägel. Er wusste, dass auch sie wertlos waren, aber das störte ihn nicht. Eines Tages fand er einen nagelneuen Lippenstift in einer goldenen Hülle. Den bezeichnete er als seinen »Hauptschatz«.

All das trug er in seinen Manteltaschen nach Hause und versteckte es in einer Holzkiste, in der einst die Zigarren lagen, die sein Vater immer geraucht hatte. Er strich die Bonbonpapiere glatt, deren lebhafte Farben ihm gefielen, und schüttelte den Tabak aus den Zigarettenstummeln in eine kleine Blechbüchse.

Wenn er allein in seinem Zimmer war, betrachtete er seinen Schatz. Manchmal berührte er ihn und roch daran. Dass er ihn vor Emilie verbarg – als wäre es womöglich ein Geschenk, mit dem er sie eines Tages überraschen würde –, war das Aufregende daran. Der...

Erscheint lt. Verlag 8.8.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel The Gustav Sonata
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Freundschaft • Homosexualität • Hotel • insel taschenbuch 4615 • IT 4615 • IT4615 • Klavier • Liebe • Schweiz
ISBN-10 3-458-74913-6 / 3458749136
ISBN-13 978-3-458-74913-4 / 9783458749134
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,8 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99