Der Laden (eBook)

Roman. Dritter Teil
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2016 | 1. Auflage
464 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1208-5 (ISBN)

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Der Laden - Erwin Strittmatter
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'Ob Sommer, ob Winter, ob Krieg, ob Frieden - das Merkwürdige ist stets unterwegs.'

Es würde Land verteilt, hatte die Mutter geschrieben, und Esau Matt ist wieder nach Bossdom gekommen. Um fast zwei Jahrzehnte sind alle älter geworden, und ein Weltkrieg liegt hinter ihnen. Von neuem ist Esaus Leben mit den Schicksalen der Bossdomer verbunden.

Dritter Teil der Trilogie.



Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994.

Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogien »Der Laden« (1983/1987/1992) und »Der Wundertäter« (1957/1973/1980).

Den Glasmachern fiel das Haar vom vielen Schwitzen aus. Weshalb dem einen und dem anderen nicht?

Weil manche ihre Mützen nach hinten schieben, wenn sie schwitzen.

Auch allzu vieles Liebstern mit den Weibern führe zur Haarausfälligkeit, hieß es, und Nargorkans Paule behauptete, um seiner Glatze einen Sinn zu verleihen: Der Mensch stammt vom Affen ab, und je mehr er Mensch wird, desto unhoariger wirta.

Was soll das Theoretisieren: Bruder Tinko wurde unausweichlich in die Barbierlehre nach Grodk geschickt. Er wollte sich nicht in einer Schaberei, wie die kleinen Barbierläden genannt wurden, belehren lassen. Er bestand darauf, in einem größeren Grodker Geschäft für Haarbearbeitung Lehrling zu werden, im Frisiersalon Kuhlee. Mein Vater wollte es ihm ausreden. Kuhlee war ein Mitschüler des Vaters aus der Dorfschule von Grauschteen. Kuhlee war Friseurmeister, und mein Vater war noch immer kein Bäckermeister. Jetzt spielta den großen Handwerksmeesta, hat drei Gesellen und zwee Friseusinnen, hat Lehrlinge, sagte der Vater neidisch, aber wie dämlich der in die Schule woar, froagt nich. Als Beweis für die Dämlichkeit von Großfrisiermeister Kuhlee führte der Vater an: Mußte moal denken, Lehrer Dietrich befroagt uns, was fürn Kaiser wir hoam, und Gustav soagt: Den Balinschen.

Der Abschreckversuch des Vaters blieb ohne Erfolg. Bruder Tinko bestand drauf, im besten und vornehmsten Betrieb, im Salon Kuhlee eben, Lehrling zu werden. Und er wurde es. Er lernte Männerfriseur, und er lernte Weiberfriseur. Gutbürgerlicher Mittagstisch im Hotel Hoffmann, gutbürgerliche Haarveredlung nebenan im Salong Kuhlee. Die Handwerksmeister trugen ihre Köpfe in den Salon Kuhlee, und sie hatten dort ihre eigenen Seifennäpfe mit ihrem Namenszug, und die Damen erschienen mit eigenen Frisierumhängen, und mein Bruder Tinko nahm daran teil, diese Grodker Bürger zu verschönern, und nannte sich daheim scherzhaft Verschönerungsrat. Damit zog die Barbiersprache ins Haus Matt ein: Das Leben ist am schwersten drei Tage vor dem Ersten; und wer lang hat, läßt lang hängen; oder du bist heute mal wieder so schwarz unter die Oogen, und mehr solche Weisheiten und aufgeschnappte Nichtheiten durchzogen das Haus Matt, wenn der Barbiermeesta oder Verschönerungsrat am Wochenende heimkam. Unsere ehemalige Kinderstube wurde zur Barbierstube. Es war nicht mehr vom Haarschneiden, Rasieren und Haarkräuseln die Rede; es wurde bedient. Bruder Tinko bediente vor allem die Jugend. Alle romantischen Gedanken, alle literarischen Erlebnisse, aller Umgang mit den Dichtern, alles Edle wurde von der Barbierkundschaft aus der alten Kinderstube hinausgedrängt. Meine Jünglingsschwärmereien verkrochen sich hinter den Scheuerleisten. Dauergast in der Barbierstube war an den sonntäglichen Vormittagen mein Vater. Es wurde nicht nur fad geschwatzt, sondern auch dumm politisiert, und es wurden je Kunde ein bis drei hipsche Fläschchen Bier ausgetrunken. Einnahme für die Mutter außer der Zeit.

Bruder Tinko wurde der Lieblingssohn meines Vaters. Tinko war ein geschickter Geldmann, kriegte im Salon in Grodk seine Trinkgelder und verdiente an den Sonntagen in Bossdom. Bruder Heinjak sank beim Vater im Werte. Er lernte in Grodk Bäcker und war ein Teig-Affe. Ich war ein unsteter Tierbändiger, einer, der es nirgendwo aushielt, einer, der, wenn er wirklich daheim war, in die Barbierstube der Schätzikans, zur Konkurrenz, ging. Es wollte sich mir nicht, mich vom Bruder betun zu lassen. Es war mir zu wabbelig.

Bei den Mittagsmahlzeiten wurde Tinko nach den Verhältnissen bei Kuhlees in der Lehrmeisterei ausgefragt: Was macht eegentlich die Kuhleen da den ganzen Tag? wollte die Mutter wissen, und der Vater wollte wissen, ob der dämliche Gustav, der Balinsche, schon einmal handgreiflich gegen den Bruder wurde. Der Bruder überspielte die Frage. Gustav Kuhlee, sagte er, ginge aber handgreiflich mit einer der Friseusen um. Es gab neben dem Salon einen Raum, in dem Haarwässer und Parfüme, Puder und Kondome und alles, was die Atmosphäre eines Barbiersalons rund machte, gelagert wurde. In der Parfümkammer, wie der Raum genannt wurde, verschwand Gustav, der Balinsche, zuweilen mit der ersten Friseuse, und sie weckten damit die Neugier der anderen Barbiere und Friseusen. Alle wollten sehen, wie die da drinnen die Mixturen anrührten, und sie benutzten dazu das kleinste Fenster der Welt, das Schlüsselloch. An dieser Stelle machte mein Bruder eine Pause. In einem Roman werden an so heiklen Stellen drei Punkte gemacht, die den Leser auffordern sollen, sich dies und das, oder was er gern möchte, hinzuzudenken. Die Mutter wurde ungeduldig: Na, und was hoabta doa gesehn im Schlüsselloche? Die Gurgelgegend am Hals des Bruders bewegte sich ruckartig. Es war, als schluckte er die Worte, die berichtsfertig in seinem Munde gelagert hatten, wieder zurück.

Na, bissel was werta doch gesehen hoam, ermunterte der Vater. Bissel, bissel? sagte Tinko. Wir hoam alles gesehen. Und das alles, was die Barbierlehrlinge gesehen hatten, war: Gustav Kuhlee, der Meister, entkleidete die erste Friseuse, und die erste Friseuse entkleidete den Meister, soweit sie es als nötig empfand.

Und denne? Meine Mutter kam in Eifer.

Das werta woll selber wissen, antwortete Bruder Tinko.

Und die Friseuse war nacklicht, ganz und gar nacklicht? so die Mutter. Mein Bruder nickte.

In die Schule dämlich wie ne Grützwurscht, aber bei solchen Sachen vorne dran, sagte der Vater.

Du bis stille! verwies ihn die Mutter. Kummt denn das öfter vor? fragte sie den Bruder, und der Bruder berichtete, es käme besonders dann vor, wenn die Chefin zum Kaffeekränzchen der Meisterfrauen ginge.

Ein Jahr verrann, zwei Jahre verrannen, ein nächstes folgte ihnen. Die jungen Leute blühten auf, die alten zählten die Kerben, die ihnen die Zeit versetzt hatte. Bruder Tinko wurde ein stattlicher Mensch, groß und blond, ein halbsorbischer Germane. Er machte etwas her, wie es im Volksmund heißt. Die Mädchen fingen ihm an Augen zu machen, doch noch ehe er sich entschloß, ein Bräutchen aufzunageln, befiel ihn eine Blindheit und machte ihn hörig. Er fing an, von einer Friseuse zu schwärmen, und ließ nichts auf sie kommen. Sie war ein Rasseweib, und, wie alle der Brunst verfallenen Männer, ließ Tinko kein Wochenende aus, vor seinen jugendlichen Kunden, und besonders vor den Eltern, von seiner Rassefrau zu schwärmen. Wie heeßt se denn überhaupt? fragte die Mutter.

Elvira, antwortete mein Bruder verzückt und als ob er den Namen einer Heiligen ausgesprochen hätte.

Woar das nich die, was nacklicht mit eiern Meesta in die Parfümkammer gekrochen is? Mein Bruder hatte, berauscht von seinen ersten Samenspielen mit einer Frau, vergessen, worüber er sich zwei Jahre zuvor lustig gemacht hatte, und daß er die Familie und seine Sonntags-Barbierkundschaft mit in diese Belustigung einbezogen hatte.

Großes Entsetzen bei den Eltern. Du wirscht doch nich etwan, und schloag dir das bloß ausm Koppe. Der Bruder war taub wie ein Auerhahn bei der Balz. Er kam nur noch jedes dritte Wochenende nach Hause. Seine Barbierkundschaft wartete auf ihn, verwartete ganze Sonntagvormittage. Der Vater mußte sie mit lallerigen Gesprächen, bei Flaschenbier, unterhalten.

Soll er sie mal mitbringen! Wollen wir sie uns doch mal ansehen, denn kommt er vielleicht wieder regelmäßig, sagten sich die Eltern, und der Bruder obsiegte, setzte seine Elvira durch, wie weiland die Schwester ihren schwarz uniformierten Glasschleifer durchgesetzt hatte.

Elvira erschien in der Matt-Familie, aufklaviert und sündig glänzend. Sie war mindestens um zehn Jahre älter als Bruder Tinko, doch Elvira wußte sich zu tragen und zu beschminken wie eine Junge und führte sich zunächst bescheiden auf, war städtisch beredsam und brachte einen Hauch aus der Weltstadt Grodk ins Haus.

Elvira, die Meisterin der Frisier- und Barbierkunst, die Meisterin auf zwei Klavieren. Sie barbierte den Vater, bediente ihn mit kleinen Fingergefälligkeiten. Sie frisierte die Mutter behutsam und wohltuend, und die Mutter verfiel in einen kleinen Trancezustand und bekannte tags drauf: Eegentlich merkt mans goar nich, daß die beeden mit de Joahre so ausnander sind. Und der Vater sagte: In die Barbiererei hat se jedenfalls was los.

So fing es mit Bruder Tinko und seinem Weibe Elvira an. Wie sie weiter miteinander verfuhren, weiß ich nur ungenau. Ich war nicht daheim, ihr wißt, daß mich die Bossdomer einen Herumtreiber nannten, daß der Vater mich nicht gern erwähnte, und wenn es geschah, sagte er höchstens: Der hälts nirgendswo aus, der kummt in sein Leben zu nischt.

Irgendwann muß der Barbier seine Barbierossa geheiratet haben. In irgendeinem der Briefe, die mir die Mutter in die Fremde schrieb, muß es geheißen haben: Tinko will ganzes Kinder, aber sie kriegt keene.

Die Briefe der Mutter sind nicht erhalten geblieben, aber in einem dürfte auch gestanden haben, um das vergebliche Kindermachen der beiden zu verreden, daß die beiden groß raus sind, daß inzwischen dem Bruder seine Meisterschaft im Barbieren und Frisieren verbrieft wurde, daß die beiden miteinander ein Geschäft aufmachten und mit ihrem ehemaligen Meister, Herrn und Liebhaber Gustav Kuhlee in Konkurrenz gingen.

Die Zeit verging. Die nationalen Sozialisten herrschten in Deutschland. Ich war, bürgerlich gesehen, ganz unten, war Hilfsarbeiter mit fünfunddreißig Mark Wochenlohn in einem Chemiebetrieb in Thüringen. Nochmals meine Verhältnisse von damals zu beschreiben, will sich mir nicht. Ich hab über sie in dem Buch vom Grünen...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1. Weltkrieg • 2. Weltkrieg • Bäckerei • Biografischer Roman • Chronik • Colonialwarenladen • DDR • DDR Literatur • DDR Schriftsteller • Deutschland • Dorfleben • Erster Weltkrieg • Erwin Strittmatter • Familie • Klassiker • Laden • Lausitz • Pubertät • Roman • Sorben • sorbische Literatur • Strittmatter • Trilogie • Zeitgeschichte • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-8412-1208-5 / 3841212085
ISBN-13 978-3-8412-1208-5 / 9783841212085
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