Americana (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
496 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31648-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Americana -  DON DELILLO
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Der erste, bahnbrechende Roman von Don DeLillo Mit achtundzwanzig Jahren hat der gut aussehende David Bell bereits Karriere in einer New Yorker Fernsehproduktionsfirma gemacht. Alle Skandale und Intrigen hat er zu seinen Gunsten zu nutzen verstanden. Bell wechselt sowohl Prinzipien als auch die eigene Identität, wie es die jeweilige Situation erfordert, und schützt sich selbst mit seinem ausgeprägten Zynismus. Doch eines Tages wird ihm klar, dass ihm die Wirklichkeit immer weiter entrückt. Der Versuch, sie wieder »einzufangen« - mit einer Kamera in der Hand auf der Reise durch Amerikas Mittleren Westen, auf der Suche nach dem Herzen des Landes -, gerät zu einem Fiasko, das ihn gnadenlos an seine Grenzen führt.

Don DeLillo, 1936 geboren in New York, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Theaterstücken. Sein umfangreiches Werk wurde mit dem National Book Award, dem PEN/Faulkner Award for Fiction, dem Jerusalem Prize und der William Dean Howells Medal from the American Academy of Arts and Letters ausgezeichnet. 2015 erhielt Don DeLillo den National Book Award Ehrenpreis für sein Lebenswerk.

Don DeLillo, 1936 geboren in New York, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Theaterstücken. Sein umfangreiches Werk wurde mit dem National Book Award, dem PEN/Faulkner Award for Fiction, dem Jerusalem Prize und der William Dean Howells Medal from the American Academy of Arts and Letters ausgezeichnet. 2015 erhielt Don DeLillo den National Book Award Ehrenpreis für sein Lebenswerk. Matthias Müller, geboren 1950 in Bremen, studierte Japanologie in Wien und Berlin und lebt heute in den Niederlanden. Er übersetzt wissenschaftliche Texte, Literatur und Sachbücher sowie spezialisierte Texte im Bereich Musik. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Breyten Breytenbach, John Barth, John Cheever, Don DeLillo und Garth Risk Hallberg.

Teil 1


Kapitel 1


Dann ging wieder ein langweiliges und düsteres Jahr dem Ende zu. Jede Ladenfront war mit Lichterketten behängt. Kastanienverkäufer schoben ihre rauchenden Karren umher. Abends waren die Menschenmengen riesig, und der Verkehr schwoll zur brüllenden Springflut an. Die Weihnachtsmänner auf der Fifth Avenue schwenkten ihre kleinen Glöckchen mit einer seltsam traurigen, spitzfingrigen Vornehmheit, als streuten sie Salz auf ein übel verdorbenes Stück Fleisch. Aus allen Geschäften ertönte Musik, als Glockengeläut, Gesang und Hosiannas, und von den Kapellen der Heilsarmee ertönte die martialische Trompetenklage uralter christlicher Heerscharen. Es war seltsam, zu dieser Zeit und an diesem Ort solche Klänge zu hören, das klang nach Becken und Kesselpauken, ließ einen an Kinder denken, die für eine bodenlose Sünde gescholten wurden, und die Leute schienen sich auch daran zu stören. Aber die Mädchen waren wunderschön und ungerührt, wie sie da in jedem verrückten Laden einkauften, wie Majoretten durch diese magnetischen Zwielichter schritten, groß und rosa, bunte Päckchen an ihre zarten Brüste gedrückt. Und der Schäferhund des Blinden verschlief die ganze Show.

Schließlich kamen wir bei Quincy an. Seine Frau machte uns auf. Ich stellte ihr meine Freundin B.G. Haines vor und fing dann sofort an, die Leute im Raum zu zählen. Beim Zählen war ich mir verschwommen bewusst, dass ich mich mit Quincys Frau über Indien unterhielt. Es war eine Angewohnheit von mir, die Versammelten zu zählen. Die Frage, wie viele Personen an einem gegebenen Ort anwesend waren, erschien mir wichtig, vielleicht weil in den ständig wiederkehrenden Meldungen über Flugzeugabstürze und Militäraktionen immer die Zahl der Toten und Vermissten betont wird. Derartige Exaktheit ist ein Stromkitzel für das abgestumpfte Gehirn. Das Zweitwichtigste, was es herauszufinden galt, war der Grad der Feindseligkeit. Das war relativ einfach. Man brauchte dafür nur die Leute anzusehen, die einen ansahen, wenn man hereinkam. Ein langer Blick reichte gewöhnlich aus für eine einigermaßen brauchbare Einschätzung. Im Wohnzimmer befanden sich einunddreißig Personen. Etwa drei von vieren waren feindselig.

Quincys Frau und meine Freundin lächelten gegenseitig über ihre Peace-Ohrringe. Dann führte ich B.G. ins Zimmer. Wir warteten darauf, dass jemand auf uns zuginge und eine Unterhaltung begänne. Es war eine Party, und wir wollten nicht miteinander reden. Es ging vielmehr darum, sich für den Abend zu trennen und aufregende Leute zu finden, mit denen man reden konnte, und sich ganz am Schluss wieder zu treffen und sich einander zu erzählen, wie grässlich es gewesen sei und wie heilfroh man sei, wieder zusammen zu sein. Das ist der Inbegriff westlicher Zivilisation. Aber es war eigentlich egal, denn eine Stunde später langweilten wir uns alle. Es war eine von diesen Partys, die so langweilig sind, dass die Langeweile bald zum Hauptgesprächsthema wird. Man zieht von einer Gruppe zur andern und hört ein dutzendmal denselben Satz. »Das ist wie ein Film von Antonioni.« Aber die Gesichter waren nicht ganz so interessant.

Ich beschloss, ins Bad zu gehen und mich im Spiegel zu betrachten. An der Badezimmerwand hingen sechs gerahmte Graffiti. Die Wörter waren in großer fettgedruckter Schrift gesetzt, 6o Punkt, auf Hochglanzpapier. Damit sie authentischer wirkten, waren sie in einer handschriftlichen Type gesetzt. Drei der Graffiti waren blasphemisch und drei obszön. Die Rahmen sahen teuer aus. Ich bemerkte einige Schuppen auf meinen Schultern. Ich wollte sie gerade abbürsten, als ein Mädchen namens Pru Morrison hereinkam. Sie stammte irgendwo aus Bucks County und war gerade dabei, in den Wirbel der Großstadtmonotonie zu geraten. Sie stand mir gegenüber, den Körper gegen die geschlossene Tür gepresst. Sie war gerade mal achtzehn, und ich war sowohl zu alt als auch zu jung, um mich für sie zu interessieren. Trotzdem wollte ich nicht, dass sie das mit den Schuppen mitkriegte.

»Ich wollt mir mal die Hände waschen.«

»Wer ist die Bimbo-Tussi?«

»Pru, ich hab gehört, dass Peck und Peck diese Woche eine Sonderaktion Reitgerten haben. Lauf doch mal rüber und guck sie dir an.«

»Hab gar nicht gewusst, dass du mit Bimbo-Tussis ausgehst, David.«

Ich begann mir die Hände zu waschen. Pru setzte sich auf den Rand der Badewanne und drehte den Wasserhahn nur so weit auf, dass er tröpfelte. Ich fragte mich, ob das irgendwas Sexuelles suggerieren sollte. Manchmal war es schwierig, solche Dinge richtig einzuschätzen.

»Ich hab einen Brief von meinem Bruder gekriegt«, sagte sie. »Er bedient einen M-79-Mörser. Er ist in einer der schlimmsten Kampfzonen. Er schreibt, jeder Quadratzentimeter Boden wird hart umkämpft. Du solltest mal seine Briefe lesen, David. Die sind wirklich stark.«

Der Krieg lief jeden Abend im Fernsehen, aber wir gingen alle ins Kino. Bald sahen sich die Filme immer ähnlicher, und dann gingen wir in schummrige Zimmer und törnten uns an oder ab oder sahen zu, wie andere sich an- oder abtörnten, oder zündeten Räucherstäbchen an und hörten uns Tonbänder von Beinah-Stille an. Ich brachte meine 16-Millimeter-Kamera mit. Es war ein witziges Spielzeug, und alle waren begeistert.

»Er schreibt, man kann die Freundlichen nicht von den Feindseligen unterscheiden.«

»Wer?«, fragte ich.

»Ich kann dich nicht ausstehen, du Wichser«, sagte Pru.

»Wie ich von Quincy höre, hast du einen neuen Freund, Pru. Texas A. und M. Irgend so ein Jungkadett. Wie ich von Quincy höre, hast du ihn über eine computerisierte Partnervermittlung gefunden.«

»So ein dreckiger Lügner.«

»Dein eigener Cousin, Pru.«

»Du hast Schuppen«, sagte sie. »Ich kann sie auf deiner Jacke sehen. Schuppen!«

Quincy war in selten guter Form, erzählte eine Reihe von Witzen über polnische Hausmeister, schwarze Pastoren, Juden in Konzentrationslagern und italienische Frauen mit haarigen Beinen. Er traktierte sein Publikum mit Schocks und Beleidigungen und forderte die Leute zum Protest heraus. Natürlich lachten wir uns geradezu halb tot, bemüht, einander darin zu überbieten, wie fortschrittlich wir waren. Es sollte entkrampfend wirken. Wer von derartigen Witzen allgemein peinlich berührt war oder bei bestimmten, die die eigene Rasse oder Herkunft verunglimpften, empfindlich reagierte, war noch nicht reif, um in den Mainstream aufgenommen zu werden. B.G. Haines, ein professionelles Mannequin und eine der schönsten Frauen, die mir jemals begegnet war, schien Quincys Nummer Spaß zu machen. Sie war eine von insgesamt vier Schwarzen im Raum – und unter diesen die einzige Amerikanerin – und sie hielt es offenbar für ihre diplomatische Pflicht, am allerlautesten über Quincys gemeinste Farbigenwitze zu lachen. Sie lag vor lauter Lachen beinahe auf dem Boden, und ich war mir sicher, dass ich da auf dem Kamm eines jeden Lachens ein krampfhaftes, gebrochenes Schluchzen bemerkte. Ich nehme an, es fehlte ihr einfach noch etwas an Übung. Tatsächlich hatte sie schon den ganzen Abend lang jeden angelächelt, der sich ihr näherte, und mit ernstem Nicken auf alle gesellschaftlichen Erkenntnisse geantwortet, die von den im Raum anwesenden Gelehrten an sie gerichtet wurden. Es war verwirrend. Schließlich erinnerte ich sie daran, dass es an uns sei, sie höflich zu behandeln, und nicht umgekehrt. Dann schloss ich noch einen Kurzvortrag über ihre Verantwortung gegenüber den Angehörigen ihrer Hautfarbe an. Sie angelte sich ein vorbeischwebendes Horsd’œuvre und wurde wieder elegant.

Es war fast vorbei. Einige waren schon gegangen. Es war nur eine Cocktailparty, und kleine Gruppen formierten sich fürs Abendessen. In einer Ecke des Zimmers vollführte Quincys Frau eine modifizierte Cocktailversion ihres Karate-Striptease, wie wir es nannten, ein Tanz, den sie, wie sie sagte, auf ihrer Reise in den Orient gelernt hatte.

Demnächst würde ich B.G. fragen, wo sie essen wollte. Sie würde vorschlagen, dass ich das entscheide. Wir würden zu einem kleinen französischen Restaurant ganz drüben auf der West Side gehen, am Rand vom Niemandsland, wo der Wind kalt vom Fluss herüberweht und die niedrigen trostlosen Wohnblocks Verfall ausdünsten und wo zu dieser Jahreszeit eine Atmosphäre völliger Leere herrscht, als sei die Gegend auf der Flucht vor den Stiefeln des Krieges verlassen worden. Niemand außer zerrissenen Katzen und Kindern mit durchsichtigen Bäuchen könnten dort leben, und diese fernen Lichter, die da über dem Times Square knistern, gehören zu einer andern Stadt in einem anderen Zeitalter. B.G. würde Froschschenkel bestellen. Ich würde versuchen, sie damit zu beeindrucken, dass ich mit dem Kellner französisch spräche, mit der Wärme und Vertrautheit eines Helden der Résistance, der einen alten Kampfgefährten begrüßt. Der Kellner würde mich verachten, und B.G. würde meinen Bluff durchschauen. Mir würde nichts anderes übrig bleiben, als den Abend mit einer dieser Kettenraucher-Unterhaltungen über Tod, Jugend und Angst zu beenden. Da fiel mir ein, dass ich nicht mehr rauchte.

»Wo würdest du gerne essen gehen?«, sagte ich.

Aber sie hörte mich nicht. Sie redete mit einem Mann namens Carter Hemmings. Obwohl Carter dreißig Jahre alt war, oder zwei Jahre älter als ich, war er beim Sender einer meiner Untergebenen. Das Alter der Männer, mit denen ich arbeitete, war mir immer sehr bewusst. Wovor mir im Sender am meisten grauste, waren jüngere Männer, die auf...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2016
Übersetzer Matthias Müller
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Agentur • Amerika • Fernsehen • Mittlerer Westen • Roadtrip • Werbung
ISBN-10 3-462-31648-6 / 3462316486
ISBN-13 978-3-462-31648-3 / 9783462316483
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