Kaltenburg (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
448 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75069-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kaltenburg -  Marcel Beyer
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Wer ist Kaltenburg? Ein Ornithologe und Verhaltensforscher, der nach dem Krieg in Dresden ein Forschungsinstitut aufbaut. Ein Exzentriker, der den Dienstwagen samt Stasi-Chauffeur stehen lässt und Motorrad fährt. Für Hermann Funk, der seine Eltern in der Dresdner Bombennacht verlor, wird er zum Ziehvater. Als alter Mann erinnert sich Funk: an die Gründung des Institutes und der DDR, an Kaltenburgs plötzliches Verschwinden nach dem Mauerbau, an ein möglicherweise dunkles Kapitel in dessen Vergangenheit. Vor dem Hintergrund von einem halben Jahrhundert DDR-Geschichte erzählt Marcel Beyer in seinem hochgelobten Roman meisterlich von menschlichen Lebensläufen. Joseph-Breitbach-Preis 2008

<p>Marcel Beyer, geboren am 23. November 1965 in Tailfingen/Württemberg, wuchs inKiel und Neussauf. Er studierte von 1987 bis 1991 Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Siegen; 1992 Magister artium mit einer Arbeit über Friederike Mayröcker. Der Autor erhielt zahlreiche Preise, darunter 2008 den Joseph-Breitbach-Preis und 2016 den Georg-Büchner-Preis. Bis 1996 lebte Marcel Beyer in Köln, seitdem ist er in Dresden ansässig.</p>

1


Ludwig Kaltenburg wartet bis zu seinem Tod im Februar 1989 auf die Rückkehr der Dohlen. Besuchern gegenüber äußert er sich noch in seinem letzten Winter zuversichtlich, eines Tages werde ein Paar dieser von ihm geliebten, von ihm bewunderten weißäugigen Krähenvögel den Kamin im Arbeitszimmer als Nistplatz wählen und mit seiner Brut eine neue Dohlenkolonie ins Leben rufen. »Ich weiß, sie werden erst in einigen Monaten mit dem Nestbau beginnen«, erklärt er Weggefährten, Schülern oder Journalisten, die von Wien eine knappe Autostunde durch die niederösterreichische Schneelandschaft gefahren sind. Ihm stehe die Zukunft vor Augen. In eine Wolldecke gehüllt, sitzt der große Zoologe Ludwig Kaltenburg am Fenster, das Karomuster und das volle weiße Haar, er hört nur noch sehr schlecht, seine Geistesgegenwart aber hat nicht gelitten.

»Die Vögel fliehen den Rauch«, sagt er, darum halte er es nicht für ratsam, den Ofen in dem kleinen Anbau vom frühen Morgen bis in die Abendstunden brennen zu lassen. Der späte Kaltenburg wird von mehreren elektrischen Heizöfchen eingerahmt. Er ist gelöster Stimmung. »Die jungen Dohlen werden ohne mich zurechtkommen müssen, dessen bin ich mir durchaus bewußt.«

Ehe die Gäste höflich protestieren können, der hochverehrte Herr Professor werde sie am Ende alle überleben, schildert Kaltenburg den Abstieg einer sogenannten Kamindohle zu ihrem in völliger Dunkelheit liegenden Nest. Der Vogel springt nach einigem Zögern und Herumlaufen mit dem Schnabel voran in den Eingang der künstlichen Höhle, vollführt eine Drehung, findet mit abgespreizten Flügeln am rauhen Kamingemäuer Halt, streckt die Beine aus und stützt sich mit den Krallen ab. Dann geht es vorsichtig, man könnte sagen: Schritt für Schritt, hinunter in die Tiefe, zwei Meter oder mehr. Das laute Poltern, Rasseln, Schleifen. Momentaufnahmen dieser viele Male am Tag wiederholten Prozedur vermitteln den Eindruck, die Dohle stürze hilflos aus großer Höhe herab, aber das Gegenteil ist der Fall, jede Bewegung zeugt von überlegtem Vorgehen und äußerster Geschicklichkeit.

Niemand wagt es, dem Professor zu widersprechen. Seine letzte Kolonie ist vor vielen Jahren zerfallen, doch noch immer kennt kein Mensch die Dohlen so gut wie Ludwig Kaltenburg. Im eisigen Januar malt er sich und seinen Gästen das Treiben kommender Dohlengenerationen aus, und wenn er mit dem Rollstuhl auf der Stelle wendet, wird mancher Besucher unsicher, ob er tatsächlich die Gummireifen auf dem Parkett hört, oder ob er bereits den leisen Ruf einer Dohle vernimmt, die das Reifenquietschen täuschend echt zu imitieren weiß. Kaltenburg neigt den Kopf, als horche er. Die Radiatoren summen. Im Rauchfang streicht ein Dohlenflügel über den verrußten Stein.

2


Die Vögel fliehen den Rauch. Kaltenburg ist achtzig, als er damit beginnt, sich von alten Unterlagen zu trennen, die er zunehmend als Ballast empfindet. Anstatt die Tagesnotizen und Vorlesungsmanuskripte, die Taschenkalender und Aufsatzentwürfe sowie Teile seiner Korrespondenz zu verfeuern, macht er sich ein Vergnügen daraus, die Papiere nach und nach seinen Schützlingen anzuvertrauen. Auch sämtliche Vorarbeiten zu der 1964 veröffentlichten Studie mit dem Titel URFORMEN DER ANGST finden so neue Verwendung, nachdem sie mehr als zwei Jahrzehnte unbeachtet in einem verschlossenen Maria-Theresien-Kasten gelegen haben.

Im Verlauf einiger schöner Frühlingstage verteilt Ludwig Kaltenburg die Manuskriptblätter der Rohfassung als Nistmaterial unter den in seinem Haushalt lebenden Nagern und Entenvögeln. Ein halbes Dutzend Stichwortlisten überläßt er einem jungen Hermelin, dem er sich freundschaftlich verbunden fühlt. Im Sommer dann sitzt Kaltenburg hinter dem Haus auf der Terrasse, hält den weitläufigen Garten im Blick, den Teich, die Wiese, nimmt schließlich eine Handvoll Notizzettel aus dem Schuhkarton auf seinen Knien. Wenn die Entenküken bei Sonnenuntergang mit ihren Eltern heimkehren, nehmen sie das holzhaltige Papier dankbar anstelle von Beschäftigungsfutter an.

Er hat URFORMEN DER ANGST immer als Zäsur in seinem Lebenswerk betrachtet. Das erste nach zwölfjähriger Abwesenheit wieder in seinem Herkunftsland, in Österreich, entstandene Buch. Das erste, in dem Kaltenburg offen auf Beobachtungen während seines Dresdenaufenthalts zurückgreift, selbst wenn er in der Einleitung hervorhebt, die Idee sei ihm beim Schnorcheln vor der Küste Floridas gekommen. Seine erste umfangreiche Untersuchung seit Ende des Zweiten Weltkriegs, die nicht umgehend ins Russische übersetzt wird, sieht man von einer lückenhaften, im Samisdat kursierenden Zusammenfassung ab. Erst 1995, anläßlich seines sechsten Todestages, erscheint in einem kleinen Petersburger Fachverlag eine vollständige Ausgabe ohne sinnentstellende Übersetzungsfehler, leider unter einem mißverständlichen Titel, der auf Deutsch ungefähr ICH – LUDWIG KALTENBURG UND DIE ANGST lauten würde. Die Sowjetunion ist von den Landkarten verschwunden und bei den russischen Lesern keinerlei Interesse mehr an den Schriften eines Tierkundlers namens Kaltenburg vorhanden.

Die bloße Existenz des Buches wurde geleugnet. Man hat seinen Verfasser totgeschwiegen. Hat ihn lautstark verdammt. Scharfe Attacken gegen ihn geführt. Auf Konferenzen demonstrativ gemieden. Kollegen in den USA haben ihm Weltfremdheit vorgeworfen. Kollegen in Europa eine unsaubere Vorgehensweise. Gegen die Formulierung, Angst sei insofern eine geradezu wunderbare Einrichtung der Natur, als daß sie lebenserhaltend wirken könne, laufen Erziehungswissenschaftler wie Konfliktforscher bis in die achtziger Jahre Sturm. Bei einer Fernsehdiskussion soll einmal ein Jugendfreund die Kamera gesucht und Kaltenburg – »Ludwig, ich weiß, du schaust uns jetzt am Bildschirm zu« – eindringlich dazu aufgefordert haben, sich auf sein Fachgebiet zu besinnen und Spekulationen über die Beschaffenheit des Menschen für alle Zukunft hinter sich zu lassen. Mit URFORMEN DER ANGST ist Ludwig Kaltenburg zu einer weltweit beachteten Figur geworden.

3


Binnen weniger Monate erreicht die Auflage eine Höhe, wie man sie angesichts der Arbeit eines Zoologen nicht für möglich gehalten hätte, und es heißt, Kaltenburg habe sich von seinem Honorar einen Mercedes mit aufklappbarem Verdeck zugelegt.

Dem einen oder anderen fachfremden Leser mag bereits bei der Lektüre der ersten Kapitel gelegentlich unwohl zumute werden, in denen Kaltenburg zunächst nichts weiter vorschwebt, als ein Panorama möglicher Angstreaktionen zu entfalten, die jedem aufmerksamen Beobachter der Tierwelt geläufig sind. So weiß man, daß junge Singvögel – der Autor bezieht sich hier auf Tannenmeisen – nach dem Schlüpfen trotz ausreichender Wärme- und Nahrungszufuhr rasch verenden können, sofern ihr Nest auf Dauer groben, unregelmäßig erfolgenden Erschütterungen ausgesetzt wird. Wie man beobachtet hat, zucken die blinden und gefiederlosen Wesen bereits im Ei zusammen, wenn etwa ein herabfallender Zweig das Nest berührt.

Eine längere Passage befaßt sich mit dem Phänomen der Schreckmauser, dem plötzlichen Abstoßen einzelner oder mehrerer Federn unter Schock. Kennzeichnend ist das Fehlen von Gewalteinwirkung, wie das Beispiel der Turteltaube augenfällig macht, die beim Überfliegen eines offenen Geländes einen in ihrer Nähe abgegebenen Schuß vernimmt: Sie bleibt in der Luft stehen, läßt einen Teil ihres Gefieders zu Boden regnen, als habe der Schuß ihr gegolten, ja, als hätten sich die Schrotkugeln in ihren Leib gebohrt – doch im nächsten Moment setzt sie ihren Flug fort, wenn auch offenbar verwirrt und durch den Federverlust geschwächt. Kaltenburg zufolge stellt die Schreckmauser in gewisser Weise ein Fortleben der kindlichen Erschütterungsangst beim erwachsenen Vogel dar, mit dem entscheidenden Unterschied, daß lediglich einzelne Individuen dieses Verhalten zeigen. Kaltenburg führt einen Züchter an, in dessen Buchfinkenvoliere sich ein außerordentlich anfälliges Weibchen befand. Er habe stets darauf geachtet, seine Vögel so vorsichtig wie möglich zu umgreifen, und trotzdem blieben, als der Züchter zum erstenmal den schlafenden Buchfinken aus dem Lockvogelkäfig nehmen wollte, an seiner Handfläche bestürzend viele Bauchfedern zurück. Nach diesem Erlebnis schreckmauserte das Weibchen nahezu zwangsläufig beim Anblick eines Habichts oder einer Katze.

Das Gegenstück zur Schreckmauserdarstellung bildet der Abschnitt über die Hyänen. Diese Tiere zeigen dem Menschen gegenüber keinerlei Fluchtverhalten, Furcht kennen sie nicht, und die einzelne Hyäne wagt sich selbst in der freien Wildbahn so nah an den Menschen heran, daß es kaum Mühe bereitet, sie mit einem Knüppel zu erschlagen. Der Rest des Jagdverbandes, sagt man, verfolgt derartige Vorfälle mit äußerster Gleichgültigkeit.

Im Mittelteil grenzt Kaltenburg anhand eigener Beobachtungen aus fünfzig Jahren unterschiedliche Angsterfahrungen begrifflich ein, um sich anschließend im Kapitel DIE TODESANGST einer aufsehenerregenden Photoserie von Pavianporträts zuzuwenden, die unter widrigsten Umständen im natürlichen Lebensraum der Affen entstanden und dem Autor von einem befreundeten Tierfilmregisseur zur Verfügung gestellt worden sind: Der Gesichtsausdruck im allerletzten Lebensaugenblick, da der Pavian blitzartig erfaßt, diesmal wird er dem Angreifer nicht entrinnen, unterscheidet sich laut Kaltenburg in nichts von dem eines Menschen, der seinem Todfeind rettungslos ausgeliefert ist.

Bis zu diesem Punkt, schreibt er, beschränke sich die Studie...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristische Darstellung • DDR • Deutschland • Dresden • Freundschaft • Geschichte 1945-1989 • Ministerium für Staatssicherheit • Ornithologe • Österreicher • ST 4103 • ST4103 • suhrkamp taschenbuch 4103 • Zoologe
ISBN-10 3-518-75069-0 / 3518750690
ISBN-13 978-3-518-75069-8 / 9783518750698
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