Wie Treibgut - Autobiografie einer ungeliebten Tochter -  Birgitta Warncke

Wie Treibgut - Autobiografie einer ungeliebten Tochter (eBook)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag DeBehr
978-3-95753-329-6 (ISBN)
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Mutterseelenallein kann man auch sein, wenn die eigene Mutter noch auf Erden weilt. Dies lernte ich bereits in frühester Kindheit. Meine Mutter war eine Narzisstin - und wir, ihre Töchter, mussten als drapierendes Beiwerk ihrer Auftritte herhalten. Herausgeputzt wurden wir, vorgezeigt, doch zu tiefer Verbindung, inniger Liebe war sie unfähig. Wie sehr wünschte ich mir ihre Zuneigung, wie sehr wollte ich ihr vertrauen können, stattdessen enttäuschte sie, manipulierte, zerstörte mit Freude alles um sich herum. In der schlimmsten Stunde meiner Kindheit, als mein Onkel sich an mir verging, verlor ich den letzten Halt, meine geliebte Großmutter. Ein erschütternder Bericht einer ungeliebten Tochter, deren Kampf um die Zuneigung der Mutter sie fast zerstörte.

 

Leben in Ägypten

 Und jetzt Ägypten! Jeder Tag, den Allah hier werden lässt, sagt mir, wie gut wir es in unserer europäischen Heimat haben. Und dieses meine ich in vielerlei Hinsicht. Meine kleine Witwenrente macht es mir möglich, hier zu leben. Für die 42 Millionen ärmsten Ägypter jedoch, ungefähr mehr als die Hälfte aller hier Lebenden, wird jeder Tag ein Kampf ums Überleben. Das Geld ist knapp oder gar nicht da, Ziele und Wünsche bescheiden – jedoch vorhanden. Hier muss man akzeptieren, dass die Kindersterblichkeit sehr hoch ist, dass junge Menschen plötzlich und unerwartet aus ihrem Leben gerissen werden, dass lebensgefährliche Infektionen, wie Hepatitis A, B und C, die Menschen einfach auslöschen. Der Tod ist hier ständig präsent. Und man hat gar nicht die Möglichkeit, sich lange damit auseinanderzusetzen, denn das Sterben ist hier fast alltäglich. Aus klimatisch bedingten Hygienegründen muss jeder Leichnam innerhalb von 24 Stunden bestattet werden und dann geht man wieder zur Tagesordnung über. Hier werden vielerorts noch Klagefrauen bestellt, die während des Bestattungsrituals in ein lautstarkes Weinen ausbrechen, um den Zurückgebliebenen einen erlösenden Ausbruch der Trauer zu ermöglichen. Man lässt weinen!

 In unserem Land suchen wir selbstverständlich einen Arzt auf, wenn es uns schlecht geht. Viele Ärzte, die hier agieren, haben scheinbar den Hippokratischen Eid mit Erreichen ihres Berufes in irgendeiner Schublade verschwinden lassen. Sie werden erst aktiv, wenn das verlangte Geld auf dem Tisch liegt – oder eben nicht.

 Bereits in Schultagen hatte mich die Geschichte dieser Menschen in den Bann gezogen. Das Land der Pharaonen, das Wirken der mächtigen Dynastien und Herrscher, das Spiel um Intrigen, Politik, Kampf und Romanzen, viel später die Blüte der Hochkultur des Islams. Dann folgte eine für etliche von uns kaum nachzuvollziehende bizarre Lebensform unter islamischer Prägung, in deren Folge die Menschen nicht nur in diesem Land um viele Jahre zurückgeworfen wurden. Es folgten Monarchien, Kolonialherrschaft. Anschließende Diktaturen und Militärregierungen unter dem Einfluss von meist selbstsüchtigen und korrupten Machtpolitikern gaben sich die Hand. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, in erster Linie sich die eigenen Taschen vollzustopfen, um so für die Wahrung der persönlichen Absicherung zu sorgen. Wie die Bevölkerung, ganz besonders die Ärmsten der Armen, damit klarkamen, interessiert bis heute hier niemanden. Dafür muss nach wie vor Allah einspringen.

 Heute ist dieses Volk, wie mir scheint, trotz der missglückten Frühlingsrevolution, ein am Boden liegendes aber dennoch stolzes Volk, welches an Faszination für mich bis zum heutigen Tag nichts eingebüßt hat. Keiner weiß so recht, wie es hier weitergehen wird. Nur dass es so nicht gehen wird, ahnt jeder. Aber wie soll man etwas ändern, bevor man sich nicht darüber klar wird, dass man überhaupt krank ist. Dieses Land wird von der Regierung bedient, wird verwaltet, ohne dass sich etwas Wesentliches dabei ändert. Außer verzweifelten Versuchen, die Wirtschaft anzukurbeln, vagen Lippenbekenntnissen um Besserung, gelingt es den Machthabern nicht wirklich, dieses Blatt herumzudrehen. Und warum auch, den Reichen in diesem Land geht es gut und in den Armen hat man billige und willige Arbeitskräfte, denen man die Lebensgrundlage immer mehr entzieht, anstatt auf Schulbildung, Schulpflicht und Berufsausbildung zu setzen. Die hier am Existenzminimum lebenden Menschen sind nicht in der Lage, auf ein soziales Auffangnetz zu hoffen. Eine Krankenversicherung ist für sie schlicht und ergreifend nicht bezahlbar. Sollte das der Nährboden sein für das sich mehr und mehr ausbreitende extremistische Gedankengut?

Auch ist es schon sehr speziell zu beobachten, wie man hier einen Spagat hinlegt zwischen bitterster Armut und zum Beispiel der heutigen Welt der Kommunikation, dem modernen Dasein. Man trifft hier kaum auf Menschen, die kein Handy besitzen. Und so sieht man nicht gerade selten in ausgemergelte, zahnlose, junge wie alte Gesichter – aber Handy am Ohr oder Laptop unter dem Arm. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, was Allah dazu sagen würde, passt es doch im eigentlichen Sinne nicht ins islamische Gedankengut. Ich habe aber schnell begriffen, dass vieles, was im Koran steht, auch Auslegungssache bedeutet. Sehr viele Menschen hier können gar nicht lesen und so bastelt man sich seinen Koran irgendwie zurecht und die, die lesen können, basteln ebenfalls. Wenn ich jedoch trotz der schweren Umstände, die das Leben hier mit sich bringt, die unvergleichbare Freundlichkeit, Fröhlichkeit und diese tief empfundene Demut in den meisten Augen derer erkenne, die das Überleben geradezu erfunden zu haben scheinen, genießen sie dafür mein vollstes Verständnis und meine unverhohlene Bewunderung. Mit einem Lächeln im Gesicht schaut man gen Himmel und dankt Allah für diesen Tag und hofft, dass der nächste vielleicht ein wenig besser werden wird. Aber ich habe auch schnell begriffen, dass die moderne Kommunikation, das Internet und das Smartphone, die einzige Möglichkeit für die hier lebenden Menschen ist, mit ihrer Welt und der Welt da draußen in Kontakt zu treten und damit zumindest einen Fuß in ein anderes freieres, westliches Dasein zu bekommen. Als Ägypter zieht man an das Rote Meer, um Geld zu verdienen. Aus unserer Sicht handelt es sich hierbei um einen Hungerlohn, für den sich diese Menschen bis zu 18 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche abrackern und quälen müssen. Es ist jedoch viel mehr Lohn, den sie in ihren Heimatorten jemals erhalten würden, um sich und alle Familienangehörige am Leben zu erhalten. Und so ist die moderne Kommunikation, wie das tägliche Brot, zu einem essenziellen Gut geworden.

 Aber wie so oft und überall im Leben, hält es auch hier eine reichhaltige Palette zwischenmenschlicher Facetten bereit. Häusliche Gewalt, nächtliche Übergriffe und erschreckende Hilfeschreie von Kindern, die sich nach wie vor und das teilweise bei vollem Bewusstsein, trotz des gesetzlichen Verbotes, immer noch der Beschneidung und der Verstümmelung unterziehen müssen. Dabei könnte man sagen, dass die Beschneidung bei Jungen immer noch den Aspekt der Hygiene erfüllt, wenn es dann unter hygienischen Maßnahmen erfolgt. Dieses Ereignis wird sogar gebührend gefeiert und ein Großteil der Familie findet sich dazu ein. Überfallmäßig werden plötzlich die Kinder unter einem Vorwand in Nebenräume gezogen, wo dann oft und ohne die leiseste Vorahnung die Beschneidung bei Jungen, aber vor allen Dingen die Genitalverstümmelung bei Mädchen stattfindet. Oder man nutzt die Möglichkeit, in den Großstädten für umgerechnet 5 Euro sein Kind in speziellen Shops abzugeben. Hier finden dann unter ebenfalls fragwürdigen hygienischen Maßnahmen die Beschneidungen und Verstümmelungen statt. Nicht ohne Grund legt man dieses Prozedere in die Ferien, damit die Kinder Gelegenheit haben, sich von den schrecklichen körperlichen Auswirkungen zu erholen. Dauerhafte Schmerzen bei den weiblichen Opfern, Entzündungen beim Urinieren, während des Beischlafs oder späteren Schwangerschaften können lebenslange Begleiter dieser geschundenen Seelen sein. Das traumatische Erlebnis hierbei werden sie wahrscheinlich nie abstreifen können. Und es ist für mich nicht nachzuvollziehen, dass es oft die Frauen sind, die massiv an diesen Riten festhalten, die in diesem Fall noch nicht einmal islamischen Ursprungs sind, sondern sich als Initiationsriten, als Akt des Eintritts in das Erwachsenendasein aus irgendwelchen grauen Urzeiten bis heute den kulturellen Platz sichern konnten, damit diese Mädchen, als moralisch und körperlich rein angesehen werden können, bevor sie in den Stand der Ehe eintreten. Was ist das doch für eine Ironie, wenn der weibliche Anteil des Islams selbst dafür Sorge trägt, dass diese diskriminierenden, archaischen Strukturen wie ein defektes Gen von einer Generation zur nächsten getragen werden.

Ticken die Mütterherzen hier anders? Schlagen sie nicht für ihre eigenen Kinder, besonders für ihre Töchter in diesem Fall? Wo bleibt der gesunde Menschenverstand? Oder sieht man es eher so, dass die eigenen erlittenen Schmerzen, psychisch wie physisch, ebenfalls von den Töchtern durchlitten werden sollen? Frei nach dem Motto, was ich durchgemacht habe, sollst du auch aushalten müssen. Sozusagen als Rache? Ist das der Preis für erlittene Qualen und sich immer wiederholende Traumata? Was ist das für eine kranke Denke angesichts nachfolgender, medizinischer Erkrankungen, auftretender Wundinfektionen, die bis hin zum Tod durch Verbluten entstehen können und anscheinend billigend in Kauf genommen werden. So liegt die Quote der durchgeführten Verstümmelungen in Ägypten trotz Aufklärung immer noch um 90 Prozent, ist sogar um weitere 3 Prozentpunkte angestiegen. Nach der Wahl des Präsidenten Mursi, einem Mitglied der Muslim-Bruderschaft, die heute in Ägypten verboten ist, wurde dieses Verbot der Beschneidung kurzfristig wieder aufgehoben. Aber das scheint niemanden zu kümmern. Und nicht nur bei Musliminnen, auch bei den hier lebenden Christen ist dieser kulturelle Wahnsinn gültige Praxis. Für mich als bekennende Europäerin erscheint dieses Gebaren im höchsten Maße paranoid. Aber viele hier bestehende Denkansätze, Riten und Vorgehensweisen sind für mich kaum oder gar nicht nachzuvollziehen.

 Das familiäre Zusammenleben innerhalb der ägyptischen Familien zeichnet sich teilweise auch immer noch sehr dramatisch ab. Als Normalreisender in den Touristenhochburgen ist man kaum in der Lage, diese Umstände zu erkennen. Und es zeichnet sich noch ein weiterer...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-95753-329-5 / 3957533295
ISBN-13 978-3-95753-329-6 / 9783957533296
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