Gartenstraße 27 (eBook)

Ein Leben nach 1945 in Schleswig-Holstein
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
416 Seiten
Boyens Buchverlag
978-3-8042-3051-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gartenstraße 27 -  Peter Erichsen
Systemvoraussetzungen
21,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Statt sich seiner Geschichte zu stellen, schlägt Rolf Erichsen nach Kriegsende einfach ein neues Buch auf und beginnt ein anderes Leben mit einem ehrenwerten Beruf und einer Familie in seiner schleswig-holsteinischen Heimatstadt. Spannend und hautnah stellt der Sohn diese Entwicklung nach. Rolf Erichsen hat Glück, dass ihn die Natur mit Fleiß, Humor und Menschlichkeit ausgestattet hat, und so beginnt eine erfolgreiche Karriere in der Rendsburger Stadtverwaltung. Es wird aber auch bald klar, dass er Heilung sucht, denn die Vergangenheit ist ja nicht vorbei. Sie wirkt fort in Geschichten, in Personen und in der großen und in der kleinen Politik. Sie wirkt fort in alten Einstellungen zur Rolle der Ehefrau, zur Kindererziehung, zur Sexualität und vor allem zur Bedeutung der Autorität. Rolf Erichsen versucht, sich in dem Spannungsfeld zwischen Verdrängung und trotzigem Bekennen zu orientieren. Im privaten Bereich misslingt ihm das oft. Nicht zuletzt deshalb gelingt es ihm am Ende seines Lebens nicht, inneren Frieden zu finden. Doch seine Begeisterung für die demokratisch verfasste kommunale Selbstverwaltung ist seine Art, den Geistern der Vergangenheit zu entkommen. Und sein Einsatz für die grenzüberschreitenden Freundschaftsbeziehungen in Europa verspricht ihm die Erlösung, die er sucht. Dieser Doku-Roman ist eine authentische zeit- und lokalhistorische Reise durch eine kleine Stadt in Norddeutschland sowie durch eine Zeit des Übergangs, in der die Vergangenheit noch nicht vorbei ist.

Peter Erichsen, geboren 1946 in Rendsburg, war Lehrer an verschiedenen Realschulen in Schleswig-Holstein mit den studierten Fächern Deutsch und Biologie. 1983 bis 1985 lebte er mit seiner Frau und drei Kindern in Namibia (damals Südwestafrika), wo er als Auslandslehrer an der deutschen Privatschule Karibib (PSK) unterrichtete. Von 1990 bis 1997 wurde er vom Bundesverwaltungsamt in Köln an die Deutsche Schule Kapstadt vermittelt, und zwar als Leiter der Neuen Sekundarstufe (früher: Fremdsprachenzweig). Dort erlebte er das offizielle Ende der Apartheid. Erichsen lebt heute im Ruhestand mit seiner Frau in Büdelsdorf bei Rendsburg. 1988 erschien sein erstes Buch über die Erfahrungen und Erlebnisse in Namibia ('Hoffnung auf Regen'), das 2014 aktualisiert neu aufgelegt wurde. Im gleichen Jahr folgte ein Erfahrungsbericht über den Wandel in Südafrika ('Bewegende Zeit').

Peter Erichsen, geboren 1946 in Rendsburg, war Lehrer an verschiedenen Realschulen in Schleswig-Holstein mit den studierten Fächern Deutsch und Biologie. 1983 bis 1985 lebte er mit seiner Frau und drei Kindern in Namibia (damals Südwestafrika), wo er als Auslandslehrer an der deutschen Privatschule Karibib (PSK) unterrichtete. Von 1990 bis 1997 wurde er vom Bundesverwaltungsamt in Köln an die Deutsche Schule Kapstadt vermittelt, und zwar als Leiter der Neuen Sekundarstufe (früher: Fremdsprachenzweig). Dort erlebte er das offizielle Ende der Apartheid. Erichsen lebt heute im Ruhestand mit seiner Frau in Büdelsdorf bei Rendsburg. 1988 erschien sein erstes Buch über die Erfahrungen und Erlebnisse in Namibia („Hoffnung auf Regen“), das 2014 aktualisiert neu aufgelegt wurde. Im gleichen Jahr folgte ein Erfahrungsbericht über den Wandel in Südafrika („Bewegende Zeit“).

Die Wohnungskommission ist in Rendsburg unterwegs (1945)

Sadrinna war nicht gut gelitten.

Es lag auch an seinem Äußeren. Er war klein von Statur, aber aufrecht. Sein Gesicht verjüngte sich nach unten und hatte dennoch einen breiten Mund mit ledrig gemusterten Lippen. Auf der nackten Schädelplatte waren die wenigen langen Strähnen der Haare wie Jahresringe sorgfältig im Halbkreis angeordnet – die Vergeblichkeit dieses hartnäckigen Kampfes war rührend. Wenn sich hier eine Schwäche zu zeigen schien, so sprachen die braunen Augen, die wir bei vielen Menschen als bohrend empfinden, eine andere Sprache: Sie schienen die Schwächen ihres Gegenübers genauestens zu kennen, und die steilen Falten über den Mundwinkeln zeigten eine eingebildete Überlegenheit, die erschreckend war.

Obwohl die Zeiten mehr als schlecht waren, machte seine Kleidung einen guten Eindruck, zumindest auf den ersten Blick. Sadrinna war Stadtinspektor im Wohnungsamt. Anzug, weißes Hemd und Langbinder gehörten zu seiner Berufskleidung und wurden sorgfältig gepflegt. Und gegen übermäßige Abnutzung geschützt, wie die Stoffflicken an den Jackettärmeln zeigten.

Helmut Sadrinna betrat mit seinen beiden Begleitern den Flur des Hauses in der Gartenstraße 27, klingelte an der Wohnungstür und wollte, da er kein Klingeln hörte, gerade klopfen, als seine wachen Augen hinter dem milchigen Ornamentglas eine Bewegung wahrnahmen. Langsam öffnete sich die Tür, und vor der Dunkelheit des Wohnungsflurs erschien der Stadtrentmeister Johannes Erichsen, einen halben Kopf größer, schlank, mit eindrucksvoller Stirnglatze und Nickelbrille.

„Komm rein, Helmut“, sagte er müde.

„Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass wir in offizieller Mission unterwegs sind und Bekanntschaft keine Rolle spielt!“

„Ich weiß“, sagte Erichsen. Er öffnete die Tür weit und machte eine Armbewegung.

„Treten Sie ein!“

Doch Sadrinna machte keine Anstalten. Er hatte einen heiklen Auftrag, und er hatte die Form zu wahren. Natürlich kannte er Johannes Erichsen, der bis vor kurzem noch Leiter der Stadtkasse gewesen war. Er kannte ihn, wie man Kollegen kennt, aber Freundschaft wäre zu viel gesagt. Gott sei Dank hatte er der Versuchung widerstanden, Mitglied der Partei zu werden! Wie oft war ihm das nahe gelegt worden, nicht zuletzt vom Bürgermeister! Er weigerte sich, das zu tun, was die anderen wollten, egal ob gut oder schlecht, es war ein Charakterzug von ihm. Wahrscheinlich war er deshalb immer noch Stadtinspektor, er mit seinen doch schon 41 Jahren. Aber jetzt kam ihm das zugute, jetzt wurde er gebraucht, weil er sich nicht hatte überreden lassen.

„Ich bin von der Militärregierung beauftragt, eine Bestandsaufnahme der Wohnraumversorgung in Rendsburg durchzuführen, um die Flüchtlinge optimal unterzubringen. Ich darf Ihnen vorstellen: Sergeant Crompton, verantwortlich für diese Wohnungskommission. Corporal Springfield, Dolmetscher.“

„How do you do?“, sagte Sergeant Crompton und führte lässig seine Hand an die schwarze Baskenmütze.

Corporal Springfield salutierte, trat einen Schritt vor und gab Johannes Erichsen die Hand. „Guten Tag, Herr Erichsen!“ sagte er mit übertriebener Betonung.

Sergeant Crompton reagierte verärgert, man sah es an seinem Gesicht. Es war besser, Distanz zu den Germans zu halten. Er machte einige Ausführungen auf Englisch.

„Die Militärregierung hat befohlen, Sie mussen alle Räume melden“, übersetzte Springfield. „Die Lage ist sehr ernst wegen die viele Fluchtlinge. Sie, Herr Erichsen, sind Mitglied von die NSDAP gewesen. Sie haben mehr Pflicht als andere.“

„Kommen Sie doch erst mal rein!“, antwortete Erichsen.

„Wir sind so frei“, sagte Sadrinna und marschierte voran.

„Ist hier kein Licht?“

„Stromsperre.“

„Ach so! Ist doch noch gar nicht Abend!“

„Ist aber so. Wurde nicht angekündigt.“

„Na. Dann zeigen Sie mal Ihre Wohnung.“

*Stadtrentmeister Erichsen wird bestraft

Johannes Erichsen hatte den Besuch erwartet. Die Kunde von der Tätigkeit der Wohnungskommissionen hatte sich verbreitet wie die Nachrichten im afrikanischen Busch.

Normal war nichts mehr, eigentlich schon seit Jahren. Es gab nicht einmal mehr eine Tageszeitung – nur Schaukästen und jedes Wochenende das amtliche Nachrichtenblatt des Kreises Rendsburg.

Dass Sadrinna in der Eiderstraße, der Feldstraße und im Sommerkamp sein Unwesen trieb, hatte sich schnell herumgesprochen. Dazu brauchte Erichsen nicht einmal seine Kontakte zum Rathaus. Die Gartenstraße gehörte auch zu diesem jungen Stadtteil am Kaiser-Wilhelm-Kanal – ein Gebiet mit tiefen Gärten und etlichen Baulücken, weit ab von der dichten Bebauung der Stadt.

Sein ehemaliger Kollege war bisher wenig in Erscheinung getreten. Bei einem Betriebsfest hatten sie am gleichen Tisch gesessen und waren ins Gespräch gekommen. Seitdem duzten sie sich – nicht weil Erichsen einen Seelenverwandten entdeckt zu haben glaubte, sondern weil es angenehm war, sich einer Familie zugehörig zu fühlen. Das entsprach seinem Harmoniebedürfnis.

Das war wohl eine seiner Schwächen. Er wollte mit jedem gut auskommen.

In seiner Jugend in dem Dorf Gammelby1 hatte er die Sau raus gelassen. Aber er gehörte zu den Menschen, die durch ihre Hormone zu Rüpeln werden, und die, sobald sich wieder ein Gleichgewicht bildet, schnell feststellen, dass es sich viel angenehmer leben lässt, wenn man die Normen der Gesellschaft akzeptiert. So wurde Johannes Erichsen fast über Nacht ein strebsamer, sparsamer Mensch, der Gefallen daran fand, anderen zu gefallen. Er sah blendend aus und versäumte keinen Tanz, nahm sich lieber mehrere Stehkrägen mit, schwitzte sie durch und wechselte sie.

Von den Ideen der Nationalsozialisten fühlte er sich herzlich umarmt, die nach innen gerichtete Harmonie in der Volksgemeinschaft war ein Ziel, das sein Lebensgefühl traf. Dass der Staat dabei eine dominierende Rolle spielen wollte, war ihm nur recht, hatte er doch selbst erlebt, wohin zügelloses Leben führen kann. Und die einfachen Urteile, die sich um das Für und Wider nicht scheren, die auf dem Lande leichter gedeihen als in der Stadt, die wurden ihm in die Wiege gelegt.

Als die Nationalsozialisten den alten Bürgermeister der Stadt Rendsburg absetzten und der neue seinen Mitarbeitern im Rathaus eifrig das Parteibuch empfahl, sah Erichsen die Gelegenheit, als kleiner Mann am Aufbau eines neuen Deutschland mitzuwirken. Im ersten Überschwang ließ er sich sogar zum Blockleiter machen, nahm an Schulungen teil und gab seine Kenntnisse weiter, half, das Winterhilfswerk zu organisieren, und hatte ein Auge auf Mitbürger, die noch Schwierigkeiten mit der neuen Zeit hatten. Oft war er am Wochenende durch die Straßen gegangen, um die 50 Pfennig einzusammeln, die jede Familie spenden musste, die sie beim Kochen von Eintopfgerichten angeblich sparte. Das war eine große Sache. Auf diese Weise unterstützte die Volksgemeinschaft die Armen und Bedürftigen.

Das war ihm aber genug. Als 1939 der Krieg begann, schob er seine beruflichen Pflichten und seine kränkelnde Frau vor und ließ sich von seinen Aufgaben entbinden.

Nach Stalingrad2 kamen ihm Bedenken. Es war nicht die große Idee, an der er zweifelte, nicht das System. Aber er hatte Angst um seinen Sohn Rolf, der sich begeistert schon mit 18 an die Front gemeldet hatte, obwohl er noch drei Jahre hätte warten können, und der jetzt in einem Krieg stand, der verloren zu gehen drohte. Mit unabsehbaren Folgen für die große Idee.

Ein heftiger, noch nie vorher da gewesener Streit mit Rolf war die Folge, als der 1943 auf Heimaturlaub im Elternhaus weilte. Vater und Sohn schienen sich zu entzweien. Des Vaters Zweifel stieß auf helle Empörung: Der Dolchstoß aus der Heimat werde die kämpfenden Soldaten entmutigen und zu ihrem Tod führen! Ob sein Vater das wolle?

Bei Kriegsende war Johannes Erichsen immer noch Parteimitglied. Zur Politik der Besatzungsmacht gehörte die Entnazifizierung des täglichen Lebens, der gesamten geschlagenen, zerbrochenen Gesellschaft. Wer NSDAP-Mitglied war, konnte deshalb keine wichtigen gesellschaftlichen Funktionen mehr wahrnehmen. Der Stadtrentmeister und Beamte der Stadt Rendsburg wurde in den Ruhestand versetzt. Und Sadrinna hatte Oberwasser.

Erichsen hatte auf seinem Lieblingsplatz an der Fensterfront des Wohnzimmers in einem wulstigen Sessel gesessen, als er an den Blumentöpfen vorbei die beiden Uniformierten entdeckte. Ein dritter, etwas kleiner an Statur, war Sadrinna. Er stemmte sich gegen die weiße Grundstückspforte, bis sie mit einem dumpfen Schlag nachgab.

„Du weißt eben nicht, wie das geht!“, dachte Erichsen mit leichtem Spott. Aber die Pforte konnte das Fremde nicht aufhalten.

Er drehte sich um. „Wir kriegen Besuch“, sagte er in Richtung Bett. Seine Stimme klang gleichgültig.

„Wer denn?“, antwortete seine Frau.

„Das weißt du doch! Wir haben heute Morgen darüber gesprochen.“

„Sadrinna?“

„Ja.“

„Oh Gott!“

Die drei Männer reckten die Hälse, als sie auf dem Plattenweg diagonal durch den Vorgarten zur linken Seite des Hauses gingen, wo sich der Hauszugang befand.

*Die Wohnungskommission begutachtet das Haus in der Gartenstraße

Die Küche wirkte vollgestellt, was insbesondere an dem Gartentisch lag, der mit einem bestickten Tischtuch bedeckt in der Mitte auf dem schwarzweißen Terrazzofußboden stand, um ihn herum einige Stühle. Auf einem saß eine junge Frau und...

Erscheint lt. Verlag 1.9.2016
Sprache deutsch
Gewicht 628 g
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Belletristik • Doku-Roman • Nachkriegszeit • Rendsburg • Roman • Schleswig-Holstein • Vergangenheitsbewältigung
ISBN-10 3-8042-3051-2 / 3804230512
ISBN-13 978-3-8042-3051-4 / 9783804230514
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99