Jasper und sein Knecht (eBook)

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2016 | 1. Auflage
446 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74788-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jasper und sein Knecht -  Gerbrand Bakker
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Entschleunigend und weise, ohne zu belehren: Gerbrand Bakker schreibt über ein Jahr in der Eifel, über ein Jahr im Leben eines Mannes, der in Romanen wie Oben ist es still die Seelen der Menschen auslotet und sich nun einen Blick ins eigene innere Erleben erlaubt - mit packender Ehrlichkeit und unschlagbar trockenem Humor.
Ein altes Haus in der Eifel, ein eigenwilliger Hund, Nachbarn mit Charakter: Das ist der Alltag des Romanautors Gerbrand Bakker. Unterbrochen wird er von Reisen und Preisverleihungen, einem Lunch bei der niederländischen Königin - und immer wieder der Frage, wie es sich lebt als Mensch, der nur mit einer komplexen Bedienungsanleitung zu verstehen ist.
Warum einen das alles so in den Bann zieht, dass man nicht mehr aufhören möchte zu lesen? Weil Gerbrand Bakker seine Aufzeichnungen subtil verknüpft mit den Erinnerungen an früher, an Opa Bakker und den Bauernhof der Eltern, berufliche Wege und Irrwege. Und weil er ein Meister im Einfangen von Stimmungsnuancen ist.



Gerbrand Bakker, 1962 in Wieringerwaard geboren, ist Autor und Gärtner, hin und wieder auch Eisschnelllauftrainer. Für seine Romane, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, hat er zahlreiche Preise erhalten. Bakker lebt in Amsterdam und in der Eifel.

Gerbrand Bakker, 1962 in Wieringerwaard geboren, ist Autor und Gärtner, hin und wieder auch Eisschnelllauftrainer. Für seine Romane, die in bisher mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, hat er zahlreiche Preise erhalten. Bakker lebt in Amsterdam und der Eifel. Andreas Ecke hat Autoren wie Gerbrand Bakker, Saskia Goldschmidt und Ernest van der Kwast ins Deutsche übertragen. Er wurde mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis und dem Europäischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.

10. Februar [Schwarzbach]


Gestern Morgen hatte ich mich dick eingepackt, Jasper sein Geschirr angelegt und mir die Bergschuhe angezogen. Die Rollleine hatte ich in der Hand. Ich öffnete die Haustür, und Jasper lief ganz gemächlich fort. Erst da merkte ich, dass ich die Leine nicht an seinem Geschirr eingehakt hatte. Er blieb viereinhalb Stunden weg. Hin und wieder sah ich ihn, einmal holte ich ihn aus dem Garten von Frau Trappen, die Geburtstag hatte, was mir aber erst mittags einfiel. Ich trug ihn zum Haus und setzte ihn vor der Tür auf den Boden, weil ich dachte: Jetzt bleibt er, er muss doch Hunger haben. Wieder weg. Unterwegs verlor er irgendwo sein Geschirr, es wird wohl an einem Ast hängen geblieben sein. Sehr schade, ich hatte dieses Geschirr, das etwas zu weit war, meinem Geschmack und seinen Maßen entsprechend umgearbeitet und an schnell verschleißenden Stellen Stofflappen angenäht. Pauline Slot, eine Kollegin, die ebenfalls hier in der Gegend ein Haus besitzt, meinte, das Geschirr sei wunderschön »customized«. Schon das zweite, das verlorengeht, er ist ein teurer Hund. Obwohl: Jetzt trägt er das Geschirr von Paulines verstorbener Hündin Molly, über die sie ihr Buch De hond als medemens (»Der Hund als Mitmensch«) geschrieben hat. Das hat mich nichts gekostet. Ja, Blut an den Fingern, weil auch dieses Geschirr »customized« werden musste und ich die Nadel kaum durch die Kunststoffriemen bekam. Jasper hat schwierige Maße, Geschirre sind ihm entweder zu klein oder zu groß, Molly hatte einen viel tieferen Brustkorb als er. Aber besser ein verlorenes Geschirr als ein Hund, der irgendwo im Wald, wo ich ihn nicht finden kann, an einem dicken Ast festhängt. Unsere Abendessenrunde dauerte genau drei Minuten, und um elf Uhr hatte er immer noch wenig Lust. Heute Morgen sind wir die Morgenrunde mit der Leine zwischen uns gegangen, und später überwand er die paar Meter zwischen Haustür und Anbau ohne Fluchtversuch. Komisches Tier. Jetzt träumt er. Er klopft mit dem Schwanz und schmatzt und seufzt tief.

Dick einzupacken braucht man sich nicht mehr, der Winter scheint vorbei zu sein, auch wenn man das hier in der Eifel nie wissen kann. Gestern und in der vergangenen Nacht ist fast aller Schnee weggeschmolzen, und heute haben wir bis zu fünf Grad. Wind: neun Stundenkilometer. Das ist nichts. Ich mag das sehr, wenig bis kein Wind, einer der größten Vorteile, wenn man hier lebt und nicht in Holland.

Um halb sechs habe ich kurz Frau Trappen gratuliert. Ich hatte kein Geschenk und brachte ihr nur ein Glas selbstgemachte Marmelade mit. Das Geburtstagskind war nicht sehr empfänglich für Glückwünsche, gar nicht eigentlich. »Ach, hört doch auf«, sagte sie, »wenn man fünfundneunzig wird, was hat man denn dann noch zu feiern?« An der auch anwesenden Monika ließ sie ihren Ärger darüber aus, dass man sie am vergangenen Wochenende im Stich gelassen habe, dass niemand sich um sie kümmere, dass sie im Krankenhaus habe liegen müssen. »Nein«, entgegnete Monika, »du warst im Pflegeheim, weil Sigrun krank war, sie konnte nicht kommen.« »Ja«, sagte ich, »ein schöner kurzer Urlaub zwischendurch!« »Pfui«, sagte sie und stiefelte aus der Küche (»Immer dieser Schwindel!«), um im überheizten Wohnzimmer auf ihren riesigen Fernseher zu starren. Wahrscheinlich war es Zeit für die Lindenstraße. Sie ließ sich nicht mehr blicken.

 

Neben der Grundschule, an sie angebaut sogar, stand die Feuerwache. Wer sich das ausgedacht hat, hatte bestimmt keine Kinder. Eine sehr deutliche Erinnerung. Einer der Keysper-Jungen, nicht Piet, der ältere, der andere, dessen Vornamen ich vergessen habe, wurde eines Tages in der Pause beim Ausrücken der Feuerwehr angefahren. Der Schulhof bestand aus Gehwegplatten, die Feuerwachenausfahrt aus scharfem Kies, dazwischen kein Zaun, man konnte einfach hin- und herlaufen. Es war ein heißer Tag, nirgendwo auf dem Schulhof gab es Schatten. Den Unfall selbst habe ich nicht gesehen, nur wie das Opfer hereingebracht wurde. Ein Erwachsener trug ihn in die Schule, der Junge blutete und schrie. Er war hübsch, makellos, und zu sehen, wie er blutend und übel zugerichtet vorbeigetragen wurde, war für mich wie eine Szene aus einem Fassbinder-Film. Das mache ich natürlich heute daraus, damals hatte ich noch nie von Fassbinder gehört, wahrscheinlich überhaupt noch nie einen Film gesehen. Ein Märtyrer, ein verwundeter Junge. Der gerettet werden musste. Es wühlte so vieles in mir auf, Klischeevorstellungen von Leiden, Schmerz, Liebe; es war erregend, schrecklich und schön zugleich. Nur das weiß ich. Nicht, wie es ihm ging. Er ist jedenfalls nicht gestorben.

Nicht klischeehaft war, dass die Hitze dieses Tages und der verletzte Junge in meiner Vorstellung miteinander verschmolzen. Vielleicht war es schon damals der Gedanke, wie schrecklich es sein muss, gerade an einem heißen Tag so verletzt zu werden, Schmerzen zu haben. Einer der schlimmsten Unfälle überhaupt ist in meiner Erinnerung die Explosion eines mit Propen beladenen Tanklastzugs bei dem spanischen Campingplatz Los Alfaques, am 11. Juli 1978. So furchtbar fand ich diesen Unfall – die genaue Ursache wurde nie ermittelt, man fand Teile des Tanks Hunderte Meter entfernt, und sogar Menschen auf Luftmatratzen im Meer kamen ums Leben, die Angaben zur Zahl der Todesopfer, eine offizielle gab es nie, schwanken zwischen zweihundertfünfzehn und zweihundertsiebzig –, dass ich bis heute nicht ohne Angst einen Tankwagen sehen kann, vor allem nicht im Sommer.

 

Damals nahm ich an, dass alle Jungen schwul wären. Wir hatten Sex, und nie waren Mädchen dabei. Natürlich hatte ich in der Grundschule nicht das Wort »schwul« im Kopf. Das hatte niemand. Wir waren es aber. Jeder zog vor anderen die Hose aus, jeder molk den anderen, oft taten es mehrere Jungen zusammen. Irgendwo im Grünen, in warmen Kinderzimmern, im Heu. Einer, den ich Kees nennen werde, hatte den Größten, einen gewaltigen Schwanz. Mit Kees ging ich am weitesten, oder er mit mir. Wir versuchten uns gegenseitig zu ficken, schoben dem anderen unseren steifen Schniedel zwischen die Pobacken, nahmen Spucke zu Hilfe. Er brachte es fertig, wenn wir draußen unterwegs waren, seinen steifen Schwanz aus der Hose zu holen, ihn in ein Loch in der Erde zu stecken und zu sagen: »Ah, Ficken ist schön.« Zehn, elf, zwölf Jahre alt waren wir. Kees hatte schon Schamhaar. Wir legten den Kopf auf den Hintern eines anderen, steckten die Nase in die Gesäßspalte. Ein süßlicher, ranziger Geruch. Wir ließen unsere Schwänze auf Bäuche klatschen, pumpten und streichelten und schnupperten. Kommen gehörte nicht dazu, das ging noch nicht, dafür muss man älter sein. Trotzdem war da eine Art Befriedigung, ein Glühen, noch keine vollständige Befriedigung allerdings, sondern ein Vorstadium. Schön war das. Fast alle taten es, es war völlig normal, man sprach nicht darüber, weil man es als selbstverständlich empfand. Später habe ich mich dahin zurückgesehnt, zu diesem Selbstverständlichen. Sogar heute sehne ich mich manchmal noch zurück. In die Zeit, als alle Jungen schwul waren, der eine etwas mehr, der andere etwas weniger. In der ersten Klasse der weiterführenden Schule, in der großen Stadt Schagen, als wir dreizehn waren, hörte all das abrupt auf. Plötzlich spielten Mädchen eine wichtige Rolle (ihnen gebe ich, ehrlich gesagt, die Hauptschuld) und begann das Nicht-mehr-Kinder-Leben, in dem Beziehungen oft mühsam sind, vieles besprochen und bedacht werden muss, Eifersucht sich meldet und nichts mehr selbstverständlich ist. Ich erinnere nur an die »Aussicht auf einen Mann«, über die ich zuerst am 27. Dezember geschrieben habe. Geht man da nicht lieber zwei Stunden mit dem Hund spazieren? Oder arbeitet ein halbes Jahr an einem Buch? Schreiben ist nicht viel mehr als sublimierte Sexualität.

Meine Mutter hat Kees und mich eines Tages »ertappt«. Ohne dass wir sie hatten kommen hören, betrat sie plötzlich mein Zimmer. »Was macht ihr da?«, fragte sie. Wir antworteten natürlich nicht. Was soll man in so einer Situation sagen? »Dämel«, sagte sie schließlich. Zur Strafe mussten wir sofort nach unten und meinen Vater begleiten, der im Dorf Wolle ablieferte. Vater auf dem Traktor, wir auf der Heckklappe des Anhängers mit der Wolle. Auch er sagte noch »Dämel« zu uns, davon abgesehen ist mir von dieser Fahrt kein Wort im Gedächtnis geblieben, wahrscheinlich, weil sonst kein Wort gesprochen wurde. Ich erinnere mich, dass wir nebeneinanderstanden und zusahen, wie die Wolle in Ballen gepresst und gewogen wurde, in einer warmen Scheune, in der es überwältigend nach Schaf roch. Ich war also ein Dämel. Wenn ich heute daran zurückdenke, empfinde ich keine nennenswerte Scham, was wohl bedeutet, dass mich auch damals kein nennenswertes Scham- oder Schuldgefühl erfüllte. Selbstverständlich wurde der Vorfall nie wieder erwähnt.

 

Noch etwas anderes fällt mir ein. Als ich etwa vierzehn war, passte ich manchmal auf die Deutsche Dogge von Leuten aus dem Dorf auf, die einen umgebauten Bauernhof bewohnten. Es waren »besondere« Leute: Sie hängten Trockenblumensträuße an die Deckenbalken, aßen Schweizer Reibekäse, brühten Tee aus losen Blättern, was im Dorf damals sonst niemand tat, und frühstückten von Holztellern. Wenn man im Hängesessel fernsah, legte die Dogge einem gern ihren riesigen Kopf auf die Schulter. Ich nahm dort jedes Mal ein Bad, weil das bei uns zu Hause nicht ging. Die Leute hatten außerdem eine Munddusche, so etwas hatte ich noch nie gesehen; auch sie benutzte ich. Eines Tages waren zwei Jungen zu Gast, die im...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2016
Übersetzer Andreas Ecke
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Depression • Eifel • Erinnerung • Familie • Hund • Landleben • Schriftstellerdasein • ST 4819 • ST4819 • suhrkamp taschenbuch 4819 • Tierliebe
ISBN-10 3-518-74788-6 / 3518747886
ISBN-13 978-3-518-74788-9 / 9783518747889
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