Die Spuren meiner Mutter (eBook)

Roman.

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
528 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-16348-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Spuren meiner Mutter -  Jodi Picoult
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Die dreizehnjährige Jenna sucht ihre Mutter, die nach einem tragischen Vorfall im Elefantenreservat von New Hampshire spurlos verschwand. Nachdem Jenna schon alle Vermisstenportale im Internet durchsucht hat, wendet sie sich an die Wahrsagerin Serenity. Diese hat der Polizei beim Aufspüren vermisster Personen geholfen, bis sie glaubte, ihre Gabe verloren zu haben. Zusammen finden sie den abgehalfterten Privatdetektiv Virgil, der als Ermittler mit dem Fall der verschwundenen Elefantenforscherin Alice befasst war. Das kuriose Trio macht sich auf eine spannende, erkenntnisreiche und bewegende Spurensuche - mit verblüffender Auflösung.

Jodi Picoult, geboren 1966 in New York, studierte in Princeton und Harvard. Seit 1992 schrieb sie neunzwanzig Romane, von denen viele auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste standen. Die Autorin versteht es meisterhaft, über ernste Themen unterhaltend zu schreiben. Sie wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem renommierten New England Book Award. Jodi Picoult lebt mit ihrem Mann in Hanover, New Hampshire.

JENNA

Wenn es um das Gedächtnis geht, bin ich so was wie ein Profi. Zwar bin ich erst dreizehn, aber ich habe es studiert, so wie andere Kids meines Alters Modemagazine verschlingen. So gibt es etwa das Gedächtnis, um sich in der Welt zurechtzufinden, wozu das Wissen gehört, dass Öfen heiß sind oder man Frostbeulen bekommt, wenn man im Winter ohne Schuhe nach draußen geht. Dann gibt es das Gedächtnis der Sinne – dass man blinzeln muss, wenn man in die Sonne starrt, und Würmer keine gute Mahlzeit sind. Es gibt Daten, an die man sich aus dem Geschichtsunterricht erinnert und die man dann im Abitur wieder hervorholen kann, weil sie im großen Plan des Universums von Bedeutung sind – sagt man mir jedenfalls. Und es gibt persönliche Details, an die man sich erinnert, wie die Höhepunkte in der eigenen Lebenskurve, die für keinen anderen von Bedeutung sind. Im vergangenen Schuljahr hat mein Lehrer in Naturwissenschaften mich eine Studie über das Gedächtnis anfertigen lassen. Ohnehin erteilen mir die meisten meiner Lehrer Aufgaben, die ich eigenständig ausführe, weil sie wissen, dass ich mich im Unterricht langweile, aber offen gestanden glaube ich, sie tun dies aus Angst, ich könnte mehr wissen als sie, und weil sie nicht in die Situation kommen wollen, dies zugeben zu müssen.

Meine erste Erinnerung ist unscharf mit weißen Rändern, wie ein überbelichtetes Foto. Meine Mutter hält gesponnenen Zucker in Kegelform in der Hand – Zuckerwatte. Sie hebt einen Zeigefinger an die Lippen – das ist unser Geheimnis – und reißt dann ein kleines Stückchen ab. Als sie damit meine Lippen berührt, löst der Zucker sich auf. Meine Zunge wickelt sich um ihren Finger und saugt kräftig daran. Iswidi, erklärt sie mir. Süß. Das ist nicht mein Fläschchen, es ist ein mir unbekannter Geschmack, aber ein guter. Dann beugt sie sich herab und küsst mich auf die Stirn. Uswidi, sagt sie. Liebling.

Ich dürfte höchstens neun Monate alt gewesen sein.

Das ist ziemlich erstaunlich, denn die meisten Kinder können ihre ersten Erinnerungen irgendwo im Alter zwischen zwei und fünf Jahren festmachen. Was aber nicht heißen soll, dass Babys an Amnesie leiden – sie verfügen über Erinnerungen, lange bevor sie über eine Sprache verfügen, haben aber verrückterweise keinen Zugang zu ihnen, wenn sie zu sprechen anfangen. Womöglich erinnere ich mich an die Episode mit der Zuckerwatte deshalb, weil meine Mutter Xhosa mit mir sprach, eine uns fremde Sprache, die sie sich angeeignet hatte, als sie in Südafrika an ihrer Promotion arbeitete. Vielleicht lässt sich diese zufällige Erinnerung aber auch mit einem Tausch erklären, den mein Gehirn vorgenommen hat – denn ich kann mich nicht an das erinnern, woran ich mich so verzweifelt gern erinnern würde: an Einzelheiten jener Nacht, als meine Mutter verschwand.

Meine Mutter war Wissenschaftlerin, und für kurze Zeit beschäftigte sie sich sogar mit dem Gedächtnis. Das war Teil ihrer Arbeit über die kognitiven Fähigkeiten von Elefanten. Sie kennen doch das alte Sprichwort, dass Elefanten niemals vergessen? Nun, das ist eine Tatsache. Ich könnte Ihnen alle Daten liefern, die meine Mutter dazu zusammengetragen hat, wenn Sie Beweise haben möchten. Ich habe diese praktisch auswendig gelernt. Ihre offiziell veröffentlichten Ergebnisse waren die, dass das Gedächtnis in direktem Zusammenhang mit starken Gefühlen steht und negative Momente sich wie eine Schrift mit Permanentmarker in die Wand des Gehirns einprägen. Die Trennlinie zwischen einem negativen und einem traumatischen Moment ist schmal. Negative Momente werden erinnert. Traumatische werden vergessen oder so verzerrt, dass sie nicht mehr zu erkennen sind oder sich in das große, trostlose weiße Nichts verwandeln, das ich in meinem Kopf habe, wenn ich versuche, mich auf diese Nacht zu konzentrieren.

Hier ist das, was ich weiß:

  1. Ich war drei Jahre alt.
  2. Meine Mutter wurde etwa anderthalb Kilometer südlich eines toten Körpers bewusstlos auf dem Gelände des Schutzgebiets gefunden. So stand es in den Polizeiakten. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht.
  3. Ich werde in den Polizeiakten nicht erwähnt. Anschließend nahm meine Großmutter mich zu sich in ihr Haus, weil mein Vater mit der toten Elefantenpflegerin und der Frau, die man bewusstlos geschlagen hatte, schon genug um die Ohren hatte.
  4. Irgendwann bevor es Tag wurde, kam meine Mutter wieder zu Bewusstsein und verschwand aus dem Krankenhaus, ohne dass jemand vom Personal sie hätte gehen sehen.
  5. Ich sah sie nie wieder.

Manchmal stelle ich mir mein Leben als zwei Zugteile vor, die sich in dem Moment aneinandergekoppelt haben, als meine Mom verschwand – aber wenn ich zu erkennen versuche, worin diese Verbindung besteht, kommt es zu einem Rütteln auf den Gleisen, das meinen Kopf wieder herumreißt. Ich weiß, dass ich ein Mädchen mit rotblonden Haaren war, das wie eine Wilde herumrannte, während meine Mutter unentwegt Aufzeichnungen über die Elefanten machte. Jetzt bin ich eine Jugendliche und für mein Alter viel zu ernst und klüger, als gut für mich ist. Aber sosehr ich auch mit wissenschaftlichen Statistiken zu beeindrucken vermag, so elend versage ich, wenn es um Fakten des wirklichen Lebens geht, wie etwa, dass Wanelo eine Website und keine neue geile Band ist. Betrachtet man die achte Klasse als einen Mikrokosmos der sozialen Hierarchie heranwachsender Menschen – und als solchen hätte meine Mutter sie sicherlich gesehen –, dann zählt es einfach nicht, wenn man fünfzig Elefantenherden des Tuli Block in Botswana aufzählen kann, dafür aber die Mitglieder von One Direction nicht kennt.

Dass ich ohne Mutter aufgewachsen bin, erklärt meine Anpassungsschwierigkeiten in der Schule nicht. Schließlich gibt es jede Menge Kids, denen ein Elternteil fehlt, oder Kids, die nicht über ihre Eltern sprechen, oder Kids, deren Eltern nun mit neuen Lebenspartnern und neuen Kindern zusammenleben. Aber ich habe eigentlich keine Freunde auf der Schule. Beim Mittagessen sitze ich immer am Tischende und esse das, was meine Großmutter mir eingepackt hat, während die coolen Mädchen – die, ich schwör’s bei Gott, sich selbst die Eiszapfen nennen – davon träumen, als Erwachsene für die OPI-Nagellackfirma zu arbeiten, und Nagellacknamen erfinden, die auf berühmten Filmen basieren: Magent-lemen Prefer Blondes; A Fuchsia Good Men. Ich habe ein- oder zweimal versucht, mich an ihren Gesprächen zu beteiligen, aber sie sehen mich dabei für gewöhnlich an, als würde ich einen üblen Geruch ausdünsten, denn sie rümpfen ihre kleinen Nasen und wenden sich dem zu, worüber sie sich gerade unterhalten haben. Aber ich kann nicht behaupten, dass ihre Ignoranz mich zur Verzweiflung treibt. Denn vermutlich habe ich einfach wichtigere Dinge im Kopf.

Die Erinnerungen an die Zeit nach dem Verschwinden meiner Mutter sind nicht weniger punktuell. Ich kann Ihnen das neue Schlafzimmer bei meiner Großmama beschreiben, in dem ein großes Mädchenbett stand – mein erstes. Auf dem Nachttisch stand ein kleines geflochtenes Körbchen, das unerklärlicherweise mit rosa Päckchen Süßstoff gefüllt war, obwohl es gar keine Kaffeemaschine gab. Noch bevor ich zählen konnte, spähte ich jeden Abend hinein, um mich zu vergewissern, dass sie noch alle da waren. Ich tue das noch immer.

Ich kann Ihnen auch von meinen anfänglichen Besuchen bei meinem Vater erzählen. In den Fluren von Hartwick House roch es nach Ammoniak und Pisse. Wenn ich, bedrängt von meiner Großmama, auf sein Bett kletterte, um mit ihm zu reden, sagte er nichts und rührte sich nicht, und ich fing zu zittern an, weil ich es unerträglich fand, jemandem nah zu sein, den ich zwar erkannte, aber überhaupt nicht kannte. Ich kann beschreiben, dass sich Tränen aus seinen Augen lösten, ein natürliches Phänomen, das von ihm erwartet wurde, so wie eine kalte Limonadendose an einem heißen Sommertag schwitzt.

Ich erinnere mich an die Albträume, die mich quälten, die aber gar keine richtigen Albträume waren, da ich einfach nur von Mauras lautem Trompeten aus dem Tiefschlaf geweckt wurde. Und da nützte es wenig, wenn Großmama in mein Zimmer gerannt kam und mir erklärte, dass die Matriarchin nun in einem neuen Schutzgebiet Hunderte von Kilometern entfernt in Tennessee lebte, denn ich wurde das bohrende Gefühl nicht los, dass Maura versuchte, mir etwas mitzuteilen, was ich verstehen könnte, wenn ich ihre Sprache so gut spräche, wie das meine Mutter tat.

Das Einzige, was mir von meiner Mutter geblieben ist, sind ihre Forschungsarbeiten. Ich brüte über ihren Aufzeichnungen, weil ich weiß, dass sich ihre Worte eines Tages auf der Seite neu ausrichten und mich zu ihr führen werden. Sie lehrte mich, selbst in absentia, dass jede gute Wissenschaft mit einer Hypothese beginnt, die nichts weiter ist als eine in hochtrabende Worte gekleidete Vermutung. Und meine Vermutung ist folgende: Niemals hätte sie mich zurückgelassen, nicht freiwillig.

Und wenn es das Letzte ist, das ich tue, ich werde es beweisen.

Wenn ich aufwache, liegt Gertie über meinen Füßen, ein riesiger Hundeteppich. Sie zuckt, weil sie hinter etwas herrennt, was sie nur in ihren Träumen sehen kann.

Und wie sich das anfühlt, weiß ich.

Ich versuche aufzustehen, ohne dass sie dabei wach wird, aber sie springt auf und bellt die geschlossene Tür meines Schlafzimmers an.

»Ruhig«, sage ich und grabe meine Finger in das dicke Nackenfell. Sie leckt mir die Wange, wird aber keineswegs ruhiger. Mit ihren Blicken fixiert sie die Schlafzimmertür, als könnte sie sehen, was sich auf...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2016
Übersetzer Elfriede Peschel
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Leaving Time
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Bis ans Ende der Geschichte • eBooks • Elefanten • Frauenroman • Frauenromane • Liebesromane • Medium • Mutter-Tochter-Beziehung • Privatdetektiv • Romane für Frauen • spiegel bestseller • Spurensuche • Trauerverhalten • vermisste Mutter
ISBN-10 3-641-16348-X / 364116348X
ISBN-13 978-3-641-16348-8 / 9783641163488
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