Der Flug nach Marseille (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
256 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-16043-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Flug nach Marseille -  Michael Wallner
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Die Liebe in den Zeiten der Revolution
München im Winter 1918/1919. Der Krieg ist verloren, der bayerische König ist gestürzt, und Arbeiter- und Soldatenräte versuchen die Macht zu ergreifen, während konservative und deutschnationale Kräfte zur Gegenwehr ansetzen.

Am Schwabinger Krankenhaus operiert die junge Ärztin Julie Landauer Tag und Nacht Kriegsverletzte und Invaliden, die von den Schlachtfeldern in die Heimat zurückgebracht wurden. Julie hat in ihrer Kindheit nie erfahren, was echte Zuneigung und Geborgenheit bedeuten. Deshalb vertraut sie der Liebe nicht und kann sich allenfalls auf flüchtige, gefühlsleere Affären einlassen. Bis sie dem liberalen Zeitungsredakteur Karl Kupfer begegnet, dessen unheilbar an Diabetes erkrankte Frau Nina sie behandelt. Den Mann einer Patientin zu lieben, ist absolut tabu für Julie - und doch kann sie ihre Gefühle ebenso wenig ersticken wie Karl Kupfer dies vermag, der sich von der jungen Ärztin magisch angezogen fühlt.

Als sich Nina Kupfers Zustand dramatisch verschlechtert, gibt es für sie nur eine Rettung: Sie muss nach Marseille gebracht werden, wo gerade eine revolutionäre Therapie gegen Diabetes entwickelt wurde. Wider alle politischen Hindernisse kann Nina nach Südfrankreich ausgeflogen werden, wo sich ihr Gesundheitszustand rasch bessert. Karl indessen, der Sorgen um seine Frau enthoben, wird von einer verzehrenden Sehnsucht nach Julie ergriffen. Unter einem Vorwand reist er Hals über Kopf zurück nach München. Für einen Augenblick scheint es, als ob Julies und Karls heimliche Liebe Erfüllung finden könnte - doch dann reißt das Schicksal die beiden grausam auseinander ...

»Der Flug nach Marseille« entwirft gleichsam im Cinemascope-Format die Geschichte einer großen Liebe vor dem Hintergrund der Münchner Räterepublik. Klug, vielschichtig, historisch fundiert und extrem bewegend erzählt, ist Michael Wallners neuer Roman eine einfach mitreißende Lektüre.

Michael Wallner wurde 1958 in Graz geboren. Er lebt seit 1997 als Roman- und Drehbuchautor sowie als Regisseur in Berlin. Seine Inszenierung von 'Willy Brandt - Die ersten 100 Jahre' am Theater Lübeck wurde 2013 in der Kritikerumfrage der WELT unter die zehn besten deutschsprachigen Theateraufführungen des Jahres gewählt. International bekannt wurde Michael Wallner als Autor durch den in über 20 Länder übersetzten Roman 'April in Paris'.

2

Die bemalten Holzklötze stellten einen Wagen dar. Karl Kupfer beobachtete, wie sein kleiner Sohn ihn über den Boden bewegte. Dabei benutzte er die Rillen der Dielen als Schienen. Das Holzmännchen, das er daraufgesetzt hatte, trug weder Pickelhaube noch Uniform, sondern Zivil. Karl ermunterte den Buben, mit Dingen zu spielen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten, also nichts mit dem Krieg. Dieser Wagen fuhr in Friedenszeiten.

»Ich setze jetzt eine Frau darauf«, sagte Moritz.

Karl streichelte den rotblonden Schopf. Der Junge hatte das Haar seiner Mutter geerbt. Die Linie der pechschwarzen Mähnen, wie sie in Karls Familie häufig waren, wurde mit Moritz durchbrochen.

»Einverstanden. Aber dann geht es ab ins Bett. Es ist schon spät.«

»Die Mama hat mich aufbleiben lassen, bis du zurückkommst.«

»Schon recht.« Karl war müde bis in die Knochen. Er wollte nicht mehr denken und konnte doch nicht anders. Er dachte an die Frau in der Löwengrube und wie furchtlos sie sich auf den Hof gewagt hatte, wo zwei Menschen erschossen worden waren. Sie hatte den Schwerverletzten notdürftig verarztet und die Leichen untersucht. Sie hatte auch mit der Polizei gesprochen. Keiner von Karls Begleitern hatte eine klare Aussage machen können. In der allgemeinen Verwirrung war nur sie sachlich geblieben und ohne jede Furcht. Wie konnte man in Zeiten wie diesen so wenig Angst zeigen? Wie konnte man sich so ungezwungen in die Nähe des Todes begeben? Ihr Verhalten war das Gegenteil von Tollkühnheit, dachte Karl, zeigte aber auch keine Abgestumpftheit, sondern etwas anderes, etwas, das er nach einiger Überlegung für Verzweiflung hielt. Ein unerklärliches Unglück schien über dem Wesen dieser Frau zu liegen. War das allgemeine Elend nach vier Jahren Krieg schuld daran, die Zeitenwende, von der jeder herumgewirbelt wurde? Oder war es ihr persönliches Unglück, eine Wunde, die ihr ganz allein geschlagen worden war? Zugleich war diese Frau voller Humor gewesen; sie hatte sogar, nachdem die Verletzten versorgt waren, einen Witz über Karl gemacht, weil er nur mit einem Regenschirm bewaffnet in die Revolution zog. An ihren Nachnamen konnte er sich nicht erinnern, doch sie hatte ihm gesagt, dass sie Julie heiße. Er hatte den Namen französisch ausgesprochen.

»Nicht Jülie«, hatte sie ihn korrigiert, »man spricht es wie den Sommermonat aus.«

»Juli«, hatte Karl gesagt. »Julie.«

Er wandte sich zu seinem Jungen. »So, mein Großer, jetzt werden die Zähne geputzt.«

Er lockte Moritz von den Spielsachen weg, goss Wasser in das Porzellanbecken und öffnete das Zahnpulver. Moritz zog sich selbständig aus, Karl half ihm nur bei den Hosenknöpfen und ließ schließlich das Nachthemd über den schmalen Körper gleiten. Er breitete das rosa Tuch über die Nachttischlampe, was den Raum in ein heimeliges Zauberreich verwandelte. Hier drohte keine Gefahr, in diesem Zimmer gab es keine Angst vor dem Morgen.

Sie beteten zusammen, die kurze Formel, wonach Gott sie sicher durch die Nacht bringen und sich Moritz’ Mutter annehmen sollte. Karl las ihm das Märchen von den drei goldenen Haaren des Teufels vor und blieb noch eine Weile bei seinem Sohn, auch als er schon dessen gleichmäßige Atemzüge hörte. Karl wollte seine Traurigkeit bezwingen, er fühlte sich heute Nacht schrecklich allein. Er drückte den Kleinen und küsste ihn. An der Decke des Kinderzimmers bewegte sich ein gelber Papierfalter, den Moritz seinen französischen Schmetterling nannte. Karl hatte nie herausgefunden, was es mit diesem Namen auf sich hatte.

Plötzlich war die Nacht durchdrungen von der Erinnerung an Frankreich. Im herbstlich nebeligen München fühlte Karl die Hitze von damals, er sah sich mit dem riesigen Sonnenschirm hinter Nina herlaufen. Trotz ihrer blassen Haut, die sich beim kleinsten Sonnenstrahl rötete, hatten sie an einem Ort gelebt, wo das ganze Jahr die Sonne schien. Nina musste schallend lachen, als er den Sonnenschirm von der Hotelterrasse stahl und wie ein Page hinter ihr herlief. Sie schlug absichtlich Haken, um ihn abzuschütteln. Karl in weißen Shorts, heiß brannte der Sand unter seinen Sohlen, Nina im bodenlangen flaschengrünen Kleid, das so wunderbar zu ihrem Haar passte. Seit der Zeit in Antibes hatte er sie nie mehr in diesem Kleid gesehen. Damals war Frieden gewesen, dachte er, kaum jemand hatte das Verhängnis kommen sehen, nicht so bald und nicht so endgültig.

Sie waren auf Einladung von Dumarchellier, Ninas früherem Lehrer, nach Antibes gefahren. Sein Haus lag in den Hügeln über der Halbinsel, ein zweihundert Jahre altes Bauernhaus, von violetter Bougainvillea überwachsen. Dumarchellier galt in Frankreich als bedeutender Maler, Karl hatte jedoch bald herausgefunden, dass der braungebrannte Franzose seit Jahren nichts mehr geschaffen hatte. Er gab Meisterklassen, genoss die Bewunderung seiner vorwiegend weiblichen Schüler. Nina und er verstanden sich wie Vater und Tochter. Das Cap am Mittelmeer, Handelsstation der Antike, später frühchristlicher Bischofssitz, von den Grimaldi an Frankreich verkauft, vom französischen König zur Festung ausgebaut – an diesem Ort, in diesem Haus, hatte Karl arbeiten können, wie es ihm in München nie gelungen wäre. Er schrieb an seinen Texten wie im Rausch.

Sie kannten sich damals erst ein paar Monate, Nina studierte in München Malerei bei Habermann, brannte für den Blauen Reiter und schwärmte für Kandinsky. Bei der Ausstellung in der Galerie Thannhäuser begegneten sie einander zum ersten Mal. Ninas künstlerische Helden waren sämtlich anwesend: Klee, Macke, Marianne von Werefkin; ein Wunder, dass Nina Karl überhaupt bemerkt hatte. Während er sich mit Kandinsky unterhielt, hatte sie sich dazu gestellt und mitgeredet. Sie merkte, dass Karl sich Notizen machte, und fragte, für welche Zeitung er schreibe.

Nina war pures Feuer. Sie war aus dem langweiligen Düsseldorf davongelaufen, weil sie dazugehören wollte – München, die Kunststadt, München, der Brennpunkt. Das war 1913 gewesen.

Es war so leicht, sich in Nina zu verlieben. Die Maler, denen sie Akt stand, die Studenten, mit denen sie sich die Nächte um die Ohren schlug, jeder liebte Nina. Merkwürdigerweise entschied sie sich für Karl. Weil es ihr bei ihm die Rede verschlagen habe, wie sie sagte, bei ihm brächte sie keinen einzigen geraden Satz heraus, das sei ihr noch nie passiert, also müsse es Liebe sein. Die Heirat fand überstürzt statt. Karls Vater war schuld daran, er hatte sich noch heftiger in die schöne Rheinländerin verliebt als sein Sohn. Der Vater wollte entweder diese Schwiegertochter oder keine.

Im Schein der Nachttischlampe lächelte Karl. Damals war Frieden gewesen, das Leben hatte weit ausgebreitet vor ihnen gelegen. Bis zu dem Vorfall mit dem französischen Jungen hatte er nicht verstanden, weshalb Nina die Einladung Dumarchelliers zunächst ausgeschlagen und später nur zögerlich angenommen hatte. Wie konnte man einen Besuch im Paradies ablehnen? Im Norden von Dumarchelliers Besitz erhoben sich die Alpen, tief unten sah man die Küste, die jedes malerische Klischee in den Schatten stellte. Farben wie aus einem Traum, ihre Spaziergänge durch das Kastell, die Abende, wenn die Sonne sich mit dem Untergehen lange zierte, bis sie plötzlich ins Meer stürzte. Dumarchellier war eitel und gönnerhaft, die Schläfen grau, der Körper, den er im offenen Hemd gern zur Schau stellte, kräftig. Er kochte gut und war trinkfest. Junge Frauen kamen zu ihm, um etwas zu lernen. Auch Nina war früher als seine Studentin an einer dieser Staffeleien gestanden. Oft blieben er und Nina als Letzte am Tisch, während die anderen und Karl sich schon zu Bett legten.

Ein Junge aus dem Dorf arbeitete manchmal im Haus, sie nannten ihn Pip. Er lud Einkäufe vom Wagen ab, brachte Weinflaschen in den Keller. An jenem Morgen war Karl, seinen ersten Kaffee in der Hand, durch das Atelier geschlendert und hatte die halbfertigen Bilder von Dumarchelliers Schülerinnen betrachtet. Eine Skizze fiel ihm auf, ein umschlungenes Paar am Strand, die Details wurden schicklich von einem wehenden Tuch verdeckt.

»Das ist genau wie bei Monsieur Dumarchellier und Madame Nina«, sagte Pip hinter ihm. Der Junge hatte frisches Brot geholt und wollte in die Küche.

Karl betrachtete die Skizze und versuchte sich vorzustellen, was Pip zusammenfantasierte. »Unsinn. Wir waren seit Tagen nicht mehr am Strand«, antwortete er.

»Nicht am Strand. Im Zimmer von Monsieur.«

Dumarchellier wohnte in einem riesigen Raum unter dem Dach, in der Mitte führte der Schornstein nach oben, um den sich eine Treppe zur Schlafempore wand. »Was sagst du da?«

»Ich habe sie gesehen. So.« Arglos zeigte Pip auf das Bild der nackten Liebenden. Ich habe auf dem Hang hinterm Haus Holz gesammelt. Das Fenster zu Dumarchelliers Zimmer lag direkt vor mir. Da habe ich hineingesehen.«

»Wann?«

»Gestern Nachmittag.«

Karl ließ ihn gehen und stellte den kalt gewordenen Kaffee auf das Fensterbrett. Nachmittags zogen sich die meisten Gäste im Haus zur Siesta zurück, nur Nina lief währenddessen gern in den Wald und machte Skizzen. Der Junge könnte alles Mögliche gesehen haben oder unterschiedliche Ereignisse durcheinanderbringen, dachte Karl. Warum sollte Nina so etwas tun? Sie liebten einander, nicht die kleinste Wolke trübte ihr Glück. Dumarchellier mochte ein Faun sein, dem die bewundernden Blicke seiner Schülerinnen schmeichelten, aber war er ein Lüstling?

An jenem frühen Morgen in Antibes kehrte Karl in ihr gemeinsames Zimmer zurück und legte sich zu der schlafenden Nina. Als sie erwachte, liebten sie einander....

Erscheint lt. Verlag 15.8.2016
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anton Graf von Arco auf Valley • Diabetes • eBooks • Frankreich • Krankheit • Kurt Eisner • Liebe • München • November 1918 • Räterepublik • Roman • Romane • Spanische Grippe • Südfrankreich
ISBN-10 3-641-16043-X / 364116043X
ISBN-13 978-3-641-16043-2 / 9783641160432
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