Milch und Kohle (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
210 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74553-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Milch und Kohle -  Ralf Rothmann
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Deutschland, Ende der sechziger Jahre: Der fünfzehnjährige Simon lebt mit Eltern und jüngerem Bruder in einer Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet. Alltagssorgen und die Enge des Milieus lassen nur wenig Raum für das Glück, um das hier jeder auf seine Weise kämpft. Die Mutter näht sich jede Woche ein neues Kleid und vergißt samstags beim Tanz die Tristesse ihrer Ehe. Simons Freund Pavel, ein melancholischer Rebell, durchstreift die Gegend auf seiner Zündapp, immer auf der Suche nach Mädchen und Abenteuern. Simon selbst ist mit dem Erwachsenwerden beschäftigt und versucht nebenbei, seinen halb verwilderten Bruder zu bändigen. Als eines Tages zwei italienische Gastarbeiter auftauchen, fällt ein Hoffnungsschimmer in das Dunkel - ein Erlebnis, das die mürbe gewordenen Beziehungen auf eine harte Probe stellt.



Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er lebt seit 1976 in Berlin.

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin. Renate von Mangoldt, geboren 1940 in Berlin, besuchte die Bayerische Staatslehranstalt für Fotografie in München. Seit vielen Jahren betreut sie als Fotografin das Fotoarchiv des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB). 

»Das war eine Lid-Lähmung

»Ja. Und macht in der Schule nur Mist und ist halb kriminell mit den Feketes. Wieso? Kannst du mir das sagen? Wieso krieg ich immer alles ab. Bin doch auch nur ’n Mensch!«

Sie weinte jetzt hemmungslos, neigte den Kopf, zerrte an dem kleinen Taschentuch in ihrem Schoß herum. Es war transparent vor Nässe, ich sah die lackierten Nägel durch das Gewebe. Auf dem Nachbartisch stand ein Glas mit Papierservietten. Im Lokal war niemand mehr.

Sie putzte sich die Nase, atmete leise japsend ein. »Was für ein Leben … Hab ich dir je von meinem Vater erzählt? Der ist ja vor dem Krieg gestorben, Tuberkulose. Wir waren uns immer fremd, weißt du, keiner hat den anderen groß beachtet. All die vielen Kinder – er hat dauernd unsere Namen verwechselt. Und einmal hatte ich Geburtstag, meinen achten oder neunten oder was. Und nichts hab ich gekriegt, gar nichts, wir waren ja arm. Meine Mutter wollte abends einen Hefezopf backen. Aber dazu war sie dann auch zu müde. Und da saß ich auf der Schwelle, und er kam vorbei. Er war immer auf Achse, weiß der Teufel wo, hat fast nie bei uns gewohnt. War eh alles zu eng. Und ich guck zu ihm auf und sage: Hallo Papa, ich hab heut Geburtstag … Da blieb er stehen und sah mich an. Vielleicht nur eine Sekunde, aber mir kams ewig vor. Er griff mir in die Haare, so, es tat richtig bißchen weh, schüttelte langsam meinen Kopf und sagte: Ach ja? Na fein. Dann laß dir mal was Schönes schenken.«

Sie schloß kurz die Augen. »Tja, so war das.« Sie schluckte. »Und so ist es immer noch. Wie sehe ich aus? Verschmiert?«

»Nein«, sagte ich. »Komm, wir gehen.«

»Gut. Oder wollen wir noch eine rauchen?«

Ich schüttelte den Kopf, und sie schob mir ihre Börse hin. »Dann mach du das, ja?«

Doch ich zeigte ihr mein Geld, den Fünfziger. »Ich lad dich ein.«

»Gewonnen? Im Ernst?« Wieder Tränen, und noch einmal putzte sie sich die Nase. Dann lachte sie hinter der Serviette, lachte und schniefte und sagte: »Im Moment scheinen wir eine Glückssträhne zu haben, was?«

Der Plattenspieler war von Woolworth, ein Koffergerät aus hellgrauem Plastik, neunundneunzig Mark. Der Lautsprecher, Mono, befand sich in dem Klappdeckel mit der Kroko-Struktur. Neben dem Schalter für die Umlaufgeschwindigkeit steckte eine kleine Bürste zur Reinigung der Nadel. »Echt Saphir«, stand auf dem Tonkopf.

Ich wußte, daß Christiane Schneehuhn ein Bandgerät hatte und jemanden suchte, bei dem sie die neue Beatles-Platte aufnehmen konnte. Doch als ich sie ansprach, hob sie nicht einmal den Kopf. »Du hast Rubber Soul?« Dann blätterte sie weiter in ihrem Buchführungsheft. – »Na, mal sehen. Der Fredy wollte sie sich heute holen. Da müßte ich nicht so weit fahren.«

Doch am nächsten Tag brachte sie ihr Gerät in die Schule und kam nach dem Unterricht mit zu mir. Sie trug samtblaue Cordhosen und ein orangefarbenes Twinset; am Kragen des Pullovers und an den Rändern der Wolljacke lindgrüne Streifen. Auch ihre knöchelhohen Wildlederschuhe waren blau.

Meine Mutter hatte alle Gardinen abgenommen und in die Reinigung gebracht, auch die in meinem Zimmer. Das Fenster war geputzt, die beiden Stühle standen auf dem Bett, und der Pegulan-Fußboden, frisch gebohnert, stank. Sie trug Gummihandschuhe und hielt Christiane ein Handgelenk hin. Erstaunlich freundlich klang deren Stimme jetzt, hell und lieb, und auch meine Mutter lächelte herzlich. Doch hinter ihrem Rücken schoß sie einen verärgerten Blick auf mich ab.

Ich nahm uns eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und drückte die Tür meines Zimmers zu. Wir stellten die Stühle auf den Boden, und Christiane blickte sich um. »Also? Wo ist das gute Stück.«

Ich zeigte auf die LP. Ich hatte sie an die Wand gepinnt, neben ein kleines Foto von Francoise Hardy.

»Schon klar«, sagte Christiane. »Ich meine den Plattenspieler.«

Ich nahm das Gerät vom Kleiderschrank, und sie verzog das Gesicht. »Was denn? Mono?«

»Aber sehr gute Qualität.«

Als ich es aufklappte, löste sich der Tonarm, die Nadel schlug auf den Teller, und ich nahm die Platte aus der Hülle. Christiane machte ihr Band klar.

»Am liebsten mag ich Nowhere Man«, sagte ich. »Und Girl und Norwegian Wood. Und natürlich Michele. Die Gitarre auf den Stücken ist manchmal zum Verrücktwerden. Überhaupt finde ich George Harrison sehr sympathisch. Der steht immer so still abseits und spielt dabei die tollsten Sachen.«

»Ja, ja«, murmelte sie, einen kleinen Stecker in der Hand. »Hat das Ding hier keine Buchse für das Überspielkabel?«

»Eine was? Wieso? Nimmt man denn nicht mit dem Mikro auf?«

Ungläubiges Kopfschütteln. »O Gott! Das werden wir jetzt wohl müssen.« Sie öffnete ein Lederetui, nahm ein kleines Stativ heraus, legte das Mikrophon darauf und schob es an den Lautsprecher. »Daß solche Kisten überhaupt noch gebaut werden …«

Ich goß uns Cola ein. Wir setzten uns an den Schreibtisch, und sie legte den Tonarm auf die Platte und zischte: »Absolute Stille jetzt!«

Als das erste Lied gespielt war, stoppte sie die Aufnahme und hörte sie ab. Das Prickeln der Kohlensäure war mit drauf, und wir stellten die Gläser auf den Boden und starteten die Apparate nochmal.

Während der Dreiviertelstunde sprachen wir kein Wort. Wir saßen uns gegenüber und blickten aneinander vorbei, wippten mit den Fußspitzen oder tranken, weit zurückgelehnt, von unseren Colas. Nur einmal zog Christiane die Nase kraus. Traska war in seinen neuen Fußballschuhen nah an der Tür vorbeigestampft, und wir spielten das Lied, Run for your Live, noch einmal. Dabei blickte Christiane mich über den Glasrand an, machte sich lang und schob mir ihren Fuß, der in einer kurzen weißen Socke steckte, ins Hosenbein. Ihr kastanienbraunes Haar war so glatt und dicht und schwer – ich hätte gern mit beiden Händen hineingefaßt. Und hatte gleichzeitig Angst davor.

»Kannst du Petting?« fragte sie. Die Musik war zu Ende, und ich nickte. »Denke schon.«

Sie schaute sich im Zimmer um. »Und welche Platten hast du sonst?«

»Keine«, sagte ich. »Nur die.«

Wir spielten sie noch einmal und legten uns aufs Bett. Christianes Lippen waren so weich, daß mir fast schwindelig wurde. Auch ihr Atem roch gut; am liebsten hätte ich mir sofort die Zähne geputzt. Ich legte eine Hand unter ihre Brust, betastete die Rippen, und sie fuhr hoch und blickte durch das blanke Fenster auf die Balkone der umstehenden Häuser. »Kann uns hier jemand sehen?«

»Ach was!« sagte ich, und sie sank zurück, biß mir ins Ohr und zog meine Hand – »Da gehört sie hin!« – richtig auf ihre Brust.

Obwohl ich doch größer war als sie, hatte ich das Gefühl, daß sie größer war als ich. Vielleicht weil sie im Gegensatz zu mir nie die Augen schloß, mich immer zu beobachten schien. Mir wurde warm, ich küßte sie heftiger, und sie drückte mich etwas weg und küßte mich immer sanfter. Doch sie mochte es, wenn ich ihre Brustwarzen fest zusammenpreßte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, starrte zur Zimmerdecke, biß sich auf die Unterlippe und betastete vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen, mein Glied durch den Hosenstoff hindurch. Dabei lächelte sie, und ihre Zähne glänzten rein und weiß wie irgendwas im Frühling, im Tau.

Aber plötzlich rückte sie ab, setzte sich auf, runzelte die Brauen. »He, was denn? Was ist los? Zitterst du?« Ich konnte nichts sagen, räusperte mich, schluckte, und sie sah mich an. »Junge, du zitterst

»Ja doch«, murmelte ich. »Na und? Komm her.«

Doch sie schüttelte den Kopf, klappte den Tonbanddeckel zu, langte nach dem Kabel und wickelte es rasch um ihre Hand.

»Nein, nein. Dein Zittern macht mir angst …«

Auf dem Küchentisch lagen Fische, ein Dutzend frischer, in Zeitung gewickelter Heringe. Mit der Schere schnitt Gino sie der Länge nach auf. Er schabte sie aus, wälzte sie im Mehl, legte sie in heißes Fett, und meine Mutter machte Salat an.

Traska hielt zwei der neuen Weingläser ins Licht, schlug sie leise gegeneinander. »He, Perfetto!« sagte er. »Kann ich gleich ’ne Runde auf deinem Rennrad drehen?« Er blickte sich um.

»Klar«, sagte Gino. »Stehte draußen.«

»Das wirst du bleiben lassen«, sagte meine Mutter und schob mir den Brotkorb hin. »Bring den mal ins Wohnzimmer.« Sie zeigte mit dem Messer auf Traska: »Und du wäschst dir die Pfoten und ziehst mir diese dreckige Hose aus!«

»Wem?« fragte ich. Sie rammte mir einen Ellbogen in die Seite.

Der Tisch war weiß gedeckt. Es gab sogar Stoffservietten, und auf dem Aquarium brannte eine Kerze, ein Duftlicht von Avon. Meine Mutter stellte den Fernseher aus, doch Traska, der sich Limonade ins Weinglas goß, streckte den Arm vor und stellte ihn wieder an. Sie wurde blaß, drohte ihm mit einem Blick. Dann ging sie noch einmal zu dem Apparat, drehte den Ton ab, und er zuckte mit den Schultern und blätterte in dem Comic-Heft, das neben seinem Teller lag.

Es gab eine Vorspeise, ein paar Salamischeiben mit Oliven und gedörrten Tomaten, und die Heringe, goldbraun gebraten, reichten nicht ganz. Auch von dem Fenchelsalat mit Olivenöl und Zitrone und dem knusprigen Brot hätte es mehr geben können. Den Weißwein aus der schmalen Flasche verdünnten wir mit Wasser. Aber daß alles nicht ganz reichte, war das Köstliche an dem Essen, und mein...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2016
Illustrationen Renate von Mangoldt
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1960er Jahre • 20. Jahrhundert • Arbeiter • Arbeitersiedlung • Deutschland • Erwachsenwerden • Evangelischer Buchpreis • Familie • Gastarbeiter • Hoffnung • Ralf Rothmann • Roman • Ruhrgebiet • Scheitern • ST 3309 • ST3309 • suhrkamp taschenbuch 3309
ISBN-10 3-518-74553-0 / 3518745530
ISBN-13 978-3-518-74553-3 / 9783518745533
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