Lügen in Zeiten des Krieges (eBook)

Roman

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2016 | 1. Auflage
224 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74556-4 (ISBN)

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Lügen in Zeiten des Krieges -  Louis Begley
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Lügen in Zeiten des Krieges erzählt die Geschichte einer Kindheit in Polen. Maciek, Sohn jüdischer Eltern, wächst - in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts - behütet in einem wohlhabenden Arzthaushalt auf, bis der Herbst 1939 mit einem Schlag das Schicksal seiner Familie verändert. Louis Begley erzählt in seinem ersten Roman die Geschichte unseres Jahrhunderts, eine Geschichte, die hier mit den mal märchenhaft, mal brutal einfachen Worten des jungen Maciek geschildert wird.



<p>Louis Begley, 1933 in Polen geboren, arbeitete bis 2004 als Anwalt in New York. Als Schriftsteller wurde er mit seinem Roman<em> L&uuml;gen in Zeiten des Krieges</em> weltweit bekannt. Seine B&uuml;cher wurden in 18 Sprachen &uuml;bersetzt und vielfach ausgezeichnet.</p>

Louis Begley, 1933 in Polen geboren, arbeitete bis 2004 als Anwalt in New York. Als Schriftsteller wurde er mit seinem Roman Lügen in Zeiten des Krieges weltweit bekannt. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen zuletzt Schmidts Einsicht (2013), Erinnerungen an eine Ehe (2013) und Zeig dich, Mörder (2015). Christa Krüger übersetzte u.a. Werke von Louis Begley, Penelope Fitzgerald und Richard Rorty. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Louis Begley, 1933 in Polen geboren, arbeitete bis 2004 als Anwalt in New York. Als Schriftsteller wurde er mit seinem Roman Lügen in Zeiten des Krieges weltweit bekannt. Seine Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen zuletzt Schmidts Einsicht (2013), Erinnerungen an eine Ehe (2013) und Zeig dich, Mörder (2015).

II


Seit über zwei Wochen hatte es fast ununterbrochen geregnet. Wir hörten, daß der Fluß über die Ufer getreten war und die Brücke den Fluten vielleicht nicht standhalten könnte. Unser Keller stand unter Wasser. Mein Großvater stellte die Fässer mit eingelegten Gurken und Sauerkraut hochkant und schob Bretter darunter, damit das Wasser nicht an sie herankam. Er leerte die Kartoffel- und Rübenkisten, und wir verstauten alles in Säcken, die er und Tanja dann nach oben trugen und in Küche und Wäschekammer unterbrachten. Auch Säcke mit Mehl und Reis mußten heraufgetragen werden und Beutel mit getrockneten Bohnen; die waren nicht so schwer. Dabei durfte ich helfen.

Später an diesem Tag stand ich im Sprechzimmer meines Vaters am Fenster und sah zu, wie das Wasser, das schon fast so hoch wie der Bürgersteig war, in Richtung des Bahnhofs flutete. Im Haus gegenüber, das dem älteren der beiden jüdischen Kollegen meines Vaters gehörte, hatte sich die SS einquartiert. Im Juni 1941 war Ostpolen von deutschen Truppen eingenommen worden, nachdem Hitler den Molotow-Ribbentrop-Pakt gebrochen und Rußland angegriffen hatte. Als die Russen in den Tagen der Panik unmittelbar vor dem Einmarsch der Deutschen das gesamte Krankenhauspersonal evakuiert hatten, war Dr. Kipper nicht mitgegangen. Familien durften den Evakuierungszug nach Rußland nicht benutzen, und mein Vater und der jüngere jüdische Arzt waren allein und schweigend abgefahren. Ich hatte auf der mit weißem Gummi bedeckten Liege in seinem Untersuchungsraum gelegen, mit dem Gesicht nach unten, weinend, atemlos, unfähig zu sprechen, während er seine Sachen zusammensuchte. Dr. Kipper weigerte sich, ohne seine Frau zu fahren. Der russische Chefarzt nannte ihn einen Deserteur und sagte, er werde ihn exekutieren lassen, aber dazu reichte die Zeit nicht mehr. Dr. Kipper und seine Frau wurden dann ein paar Tage später mit anderen Juden von den Deutschen erschossen. Das geschah am frühen Nachmittag, in dem Gelände auf der anderen Seite von T., wo Zosia und ich immer gerodelt hatten; die Leichen brachten sie aber auf einem Lastwagen wieder in die Stadt und trieben andere Juden zusammen, die den Wagen entladen mußten. Am Morgen desselben Tages war ein großer Teil der katholischen Bevölkerung T.s in den Straßen zusammengelaufen, um die deutschen Soldaten zu empfangen. Es war alles sehr heiter; diese gutgekleideten Krieger auf Lastwagen und Motorrädern mit umgehängten Ledertaschen und Feldstechern waren soviel ansehnlicher als die zurückflutenden abgerissenen, verdreckten russischen Soldaten. Mädchen überreichten den Deutschen Blumen. Sie waren glücklich, daß sie die Russen los waren. Zosia wollte mich auf ihren Schultern reiten lassen und zusehen; aber das verbot Tanja streng. Sie ließ nicht einmal Zosia allein gehen. Daß Juden zusammengetrieben worden waren, daß man Juden erschossen und die Leichen auf die Straße geworfen hatte, machte die Leute mißtrauisch. Man konnte nicht wissen, ob das nur eine Sache zwischen Deutschen und Juden war.

Der Regen wurde heftiger. Schon standen die Bürgersteige unter Wasser. Die SS-Männer stürzten in kurzen Hosen ohne ihre schwarzen Stiefel aus Dr. Kippers Haus und hielten die Karabiner über ihre Köpfe. Eine Weile liefen sie im knietiefen Wasser durcheinander. Dann brüllte der Feldwebel ein Kommando, und alle marschierten hintereinander zum Bahnhof.

Ich ging in die Küche. Tanja kochte. Mein Großvater rauchte. Er hatte sich neuerdings eine andere Sorte Zigaretten zugelegt, die wie ein aus zwei Teilen zusammengesetztes Röhrchen aussahen. In den einen Teil, ein dünnes Papierröllchen, stopfte man den Tabak mit einem kleinen Metallschieber, der die Form einer Brennschere hatte. Dabei mußte man ganz vorsichtig sein, sonst riß das Papier. Großvater zeigte mir, wie man es richtig machte. Das andere Ende war eine Art Zigarettenspitze. Meine Großmutter hatte sich aus Angst vor der Feuchtigkeit in ihren Pelzmantel gehüllt. Sie wollte wissen, was zu machen sei, wenn die Küche unter Wasser stünde. Tanja beruhigte sie; Gott würde uns schützen, in dieser wie in anderen schlimmen Lagen. Und wenn nicht, sei auch nichts verloren, lange könnten wir sowieso nicht mehr in dem Haus bleiben.

Meine Großeltern waren im September 1939 nach T. gekommen. Sie flohen vor den Deutschen und wollten in Zeiten der Gefahr in unserer Nähe sein. Sie wohnten in unserem Haus. Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter war gespannt wie immer, und jetzt mußte Tanja alle Hausarbeit so gut wie allein machen. Fast immer schlug sie Großmutters Hilfe aus; sie brauche jemanden, der wirklich mit zupacke, sagte sie, aber keine Belehrungen, wie dies oder jenes getan werden müsse. Großvater ermahnte und verspottete Tanja abwechselnd: Mal sagte er, sie solle bedenken, was für ein Vorbild sie mir gebe, und mal lachte er nur. Dann erklärte er, die beiden Frauen keiften wie zwei Bäuerinnen und Tanja könne sich gratulieren – sie sei auf bestem Wege zu proletarischem Verhalten.

Bis die Russen ihn mitnahmen, hatte mein Vater diesen Familienstreit manchmal mit angehört, aber eingemischt hatte er sich nie. Er sagte nur, er fühle sich mitschuldig daran, daß Tanja immer so müde sei. Denn schließlich hatte er verfügt, gleich nachdem die Russen 1939 gekommen waren, daß wir Zosia behalten würden, wenn sie bereit sei, im Haushalt mitzuhelfen; alle anderen aber müßten wir entlassen. Wir dürften uns nicht mehr wie Großbürger aufführen, erklärte er, vor allem wegen der Großeltern. Gutsbesitzer galten als die übelste Klasse. Eine Denunziation, und schon würden wir nach Sibirien geschickt. Das Totenhaus sei kein gemütlicher Ort für Familien, scherzte er.

Jetzt war Zosia auch weg. Arier durften nicht mehr für Juden arbeiten. Zosia weinte und sagte, mit uns habe das gar nichts zu tun und ich sei schließlich ihr Kind. Sie wollte bleiben. Sie wollte Jüdin werden und zu mir gehören. Aber ihr Vater kam aus Drohobycz und sagte, er wolle Tanja sprechen. Er erklärte ihr, sein Kind dürfe keinem Judenbastard mehr den Hintern abwischen; es sei höchste Zeit, daß das aufhöre. Was geschehen sei, könne man nicht rückgängig machen, das gebe er zu, aber eine Entschädigung sei fällig. Was für eine Zukunft stehe Zosia denn noch offen, bei dem Judengeruch, der an ihr hänge? Zum Glück war mein Großvater nicht im Haus. Tanja sagte zu Zosias Vater, er solle bitte am Bahnhof warten und bei einem nächsten Besuch gefälligst nicht vergessen, den Dienstboteneingang zu benutzen. Dann holte sie ihren Biberpelzmantel und Pelzhut und gab Zosia beides und Geld dazu. Großmutter wollte Zosia auch einen Pelz geben, aber Zosia weinte bitterlich und weigerte sich, ihn anzunehmen; da gab ihr Großmutter statt dessen den Ring mit den kleinen Diamanten, den sie immer am Mittelfinger trug. Dann packte Zosia ihre Sachen zusammen. Sie fragte, ob sie noch auf Großvater warten dürfe, aber Tanja sagte, lieber nicht, der lange tränenreiche Abschied führe nur dazu, daß ich wieder zum Zweijährigen werden und ewig ein Kleinkind bleiben würde.

Tanja hatte mit dem Haus recht gehabt. Ein paar Tage nachdem die Flut zurückgegangen war, stellte sich ein deutscher Offizier vor, fragte sehr höflich, ob Tanja die Eigentümerin des Hauses sei, und erklärte ihr, wir müßten das Haus bis zum Ende des folgenden Tages räumen. Das Haus werde als Gestapohauptquartier gebraucht. Kleider und persönliche Dinge könnten wir mitnehmen – alles andere müsse bleiben. Man werde ein Verzeichnis des Inventars anlegen. Er riet ihr, dabei persönlich anwesend zu sein und sich zu vergewissern, daß alles seine Ordnung habe; dann äußerte er noch, es sei sehr angenehm, in diesem Teil der Welt ein so korrekt gesprochenes Deutsch zu hören.

Unsere Mieter mußten das Haus auch verlassen. Pan Kramer kam zu Tanja und sagte, er habe einen Vorschlag zu machen, der ihm selbst peinlich sei, aber wenn wir es wünschten, könnten wir doch zusammenziehen. Er wisse eine Wohnung am Markt, ein paar Häuser neben seinem Geschäft. Eine bescheidene Wohnung, nicht das, was Tanja gewohnt sei, aber sie war zu haben, und möbliert war sie auch. Die alte Dame, die darin wohnte, war bereit, die Wohnung aufzugeben und zu ihren Kindern zu ziehen. Für Kramers allein war die Miete zu hoch. Da wir schon so lange Nachbarn seien, mache es uns vielleicht nichts aus, mit ihnen zusammenzuziehen. Sie seien sehr ruhig, den größten Teil des Tages im Geschäft, und Irina und ich könnten zusammen spielen. Mein Großvater wurde gefragt und war einverstanden. Für Juden gab es keine Wohnungen in T. – alle Juden waren auf die Straße gesetzt worden. Den Transport unserer Sachen würde vielleicht der Mann übernehmen, der unsere Pferde in seinem Stall untergebracht hatte; Großvater wollte sich darum kümmern.

Die neue Wohnung lag in einem vierstöckigen Haus. Wir sollten im dritten Stock wohnen, was für Großmutter wegen ihres Herzens mühsam war. Man ging durch eine Einfahrt, die breit genug für einen Pferdewagen war, in einen rechteckigen Hof. Die Wohnungseingänge lagen in allen Stockwerken an umlaufenden Galerien, die miteinander durch Treppen verbunden waren. Unsere Wohnung bestand aus drei Zimmern und einer großen Küche, mit der meine Großmutter sehr zufrieden war. Die drei Kramers sollten in einem Zimmer schlafen; Tanja bestand darauf, daß sie das größte bekamen. Meine Großeltern bewohnten das Zimmer daneben, in dem zwei Betten waren. Tanja und ich nahmen das Wohnzimmer; sie wollte auf dem Sofa schlafen und ich auf einem Faltbett, das wir abends aufschlagen konnten. Wir stellten fest, daß es kein fließend Wasser gab; man mußte es von der Pumpe im Hof holen. Pan Kramer zeigte mir, wie man die...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2016
Nachwort Louis Begley
Übersetzer Christa Krüger
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Wartime Lies
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Arzt • Belletristische Darstellung • Familie • Geschichte 1930-1939 • Geschichte 1939-1945 • Juden • Judenverfolgung • Polen • ST 2546 • ST2546 • suhrkamp taschenbuch 2546
ISBN-10 3-518-74556-5 / 3518745565
ISBN-13 978-3-518-74556-4 / 9783518745564
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