Der Tag, an dem die Hummer schwimmen lernten (eBook)

Roman
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2016 | 1. Auflage
320 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-17522-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Tag, an dem die Hummer schwimmen lernten -  Colette Victor
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Es bringt den ganzen Ort in Aufruhr: ein Aquarium voller Hummer, das urplötzlich im örtlichen Lebensmittelladen von Klippisfontein, Südafrika, steht. Kinder und Erwachsene beäugen gebannt die faszinierenden Krustentiere. Dabei will der verheiratete Ladenbesitzer Oom Marius eigentlich nur seine Angebetete Missies Patty beindrucken, indem er endlich die Haute Cuisine nach Klippisfontein holt. Doch dann erkrankt seine Frau Tattie und soll in Kapstadt behandelt werden. Jemand muss den Laden weiterführen. Und der Einzige, der sich auf die Schnelle finden lässt, ist Marius' schwarzer Assistent Petrus. In einem Dorf, das seit Urzeiten nach den gleichen Regeln funktioniert, ein Skandal! Neid und Argwohn brechen sich Bahn. Doch dann haben Marius und einige Dorfbewohner eine wunderbare Idee - und die hat mit viel Liebe und einigen Hummern zu tun.

Colette Victor wuchs in Südafrika auf. Die letzten dreizehn Jahre hat sie in Belgien gelebt. Sie ist als Sozialarbeiterin in einer ehemaligen Bergbaugemeinde tätig. Zudem unterrichtet sie Schreibkurse für sozial Benachteiligte und engagiert sich in der Leseförderung von Kindern. Sie hat Jugendbücher veröffentlicht, bevor sie mit »Der Tag, an dem die Hummer schwimmen lernten« ihren ersten, preisgekrönten Roman für Erwachsene schrieb.

1

Niemand in der Stadt hatte so etwas jemals gesehen. Na ja, außer in dem Werbespot für dieses Mineralwasser. Natürlich ging Fanus’ Aquarium mit den exotischen Fischen, die jeder begaffte, irgendwie in diese Richtung. Aber ein Hummeraquarium mit knallblauem Hintergrund und braunen Hummern, die Scheren mit gelbem Klebeband umwickelt … Niemals hätte sich irgendwer träumen lassen, dass so etwas ausgerechnet in Klippiesfontein auftauchen würde.

Zuerst erntete der Lieferwagen, der vor Oom Marius’ Gemischtwarenladen hielt, das gleiche milde Interesse wie jede Woche. Ein paar vertraute Gestalten, die auf der Straße herumlungerten, kamen träge angeschlendert, um nachzusehen, was diese Woche mit der Lieferung eingetroffen war. Da kam es zum Vorschein. Der Lieferant brachte seine Sackkarre an die Heckseite des Lastwagens, schob die Schaufel unter das Aquarium und senkte es zu Boden. Das Interesse der Umstehenden war geweckt. Aufgeregtes Murmeln ging durch die kleine Schar.

»Oom Marius!«, rief Lenny und vertraute darauf, dass die stehende Luft seine Stimme bis in den Laden hineintrug. »Was ist das hier, dieses Fischdings?«

»Ach, das …«, rief Oom Marius zurück. »Das ist ein Hummeraquarium.«

Seine Stimme war gewollt beiläufig. In diesem Moment wusste jeder, dass etwas Großes im Gange war. Aufgesetzte Beiläufigkeit war einfach nicht Oom Marius’ Art. Offensichtlich, schlossen sie, hatte das hier etwas mit Patty zu tun.

Fünf oder sechs Männer folgten dem Lieferanten in den dunklen Laden, der nach Waschpulver und Paraffin roch. Sie beobachteten aufmerksam, wie Oom Marius das Ding in eine Steckdose einstöpselte und mit Wasser füllte.

»Was soll das heißen, Oom Marius?«, fragte Frikkie. »Wirst du da Hummer reintun? Werden die nicht nach zwei Tagen mordsmäßig stinken?«

»Hast du denn gar keine Ahnung?«, fuhr Oom ihn an. »Man tut da doch keine toten Hummer rein.«

»Du meinst, sie sind …«

Ebenda kehrte der Lieferant mit einer weiteren Ladung zurück. In den Armen hielt er eine weiße Styroporkiste, die er Oom Marius behutsam vor die Füße stellte. Er reichte ihm ein Klemmbrett und wartete auf den Scheck.

Nachdem er fort war, bedeutete Oom Marius seinem treuen Gehilfen Petrus mit einem Nicken, dass dieser mit dem Auspacken der Kartons anfangen sollte.

»Die hier überlässt du mir, hörst du?«, rief Oom Marius und deutete auf die weiße Kiste.

Der stumme Petrus nickte.

Oom Marius verbrachte den ganzen Nachmittag damit, sich um sein Hummeraquarium zu kümmern. Er las die Anleitung, hielt alle paar Minuten ein Thermometer ins Wasser und tat so, als würde er den lieben langen Tag nichts anderes machen, und zwar jeden Tag. Die Menschenschar sowohl im Ladeninnern als auch draußen auf der brütend heißen Veranda wurde größer. Um zwanzig vor zwei war Schulschluss, und die Menge wuchs sogar noch weiter an, um barfüßige Jungen in grauen Shorts und Hemden und Mädchen in roten Trägerkleidchen. Sie trugen den Geruch von Staub mit sich herein.

»Oom, wat het Oom daar binne in die boks?«, wagte ein kleines Kind zu fragen.

»Dann komm, ich zeig dir, was ich in der Kiste habe«, gab er nach. Wie dem Rattenfänger von Hameln folgten ihm die kichernden Kinder vom Ladentisch zum Hummeraquarium, wo die geheimnisvolle Kiste immer noch unangetastet herumstand.

Oom Marius nahm das Taschenmesser von seinem Gürtel und schlitzte geschickt das Klebeband auf, mit dem der Deckel befestigt war. Mit der Eleganz eines Zirkusdirektors riss er ihn herunter und hielt ihn über seinen Kopf. Meeresgeruch, der zu lange in Plastik eingeschlossen gewesen war, überwältigte diejenigen Kinder, die in der ersten Reihe standen. Während jeder einen Blick ins Innere der weißen Kiste erhaschte, erhob sich sowohl von den Jugendlichen als auch den Erwachsenen ein Chor aus Aaahs.

Schlagartig dem Licht ausgesetzt fingen vier Hummer an, sich zu winden und zu bewegen, und die Aaahs verwandelten sich in aufgeregtes Kreischen. Auch wenn keiner, der ihm zusah, darauf getippt hätte, dass Oom Marius noch nie im Leben einen Hummer angefasst hatte, streckte er behutsam die Hand in die Kiste, ergriff den glänzenden Rücken eines Tiers und hob es hoch. Er schwang es in die Nähe seines Publikums. Das Ding wand sich in seinen Händen. Alle wichen zurück. Er hielt das Tier über das Aquarium und ließ es ins Wasser fallen. Mit dem gleichen publikumswirksamen Gebaren machte sich Oom Marius daran, die anderen drei Hummer ebenfalls hineinplumpsen zu lassen.

»Wirst du die Dinger hier im Laden verkaufen?«, fragte Frikkie.

»Selbstverständlich. Moderne Supermärkte auf der ganzen Welt verkaufen Hummer wie diese. Warum sollte das in Klippiesfontein anders sein?«, verkündete er stolz.

»Aber wer wird sie kaufen, Oom?«, die Augen des kleinen Daan starrten den Ladenbesitzer vertrauensvoll an.

»Was soll man mit ihnen anfangen? Sind sie wie Welpen?«

»Sie sind zum Essen da, mein Kind. Zum Essen.«

Die Gruppe brach in spontanes Gelächter aus. Die Anspannung, die den ganzen Tag im Laden geherrscht hatte, fiel von ihnen ab. Oom Marius hatte endlich den Beweis erbracht, dass er mal war. Verrückt. Die Kinderbande riss sich los und stürmte nach draußen, um sich eine bessere Beschäftigung zu suchen, als riesige Wasserkakerlaken anzustarren, die man essen sollte. Die Erwachsenen drifteten ebenfalls davon. Nur Frikkie und Lenny blieben auf der Veranda, wo sie rauchten und Passanten grüßten.

Am späten Nachmittag war es dunkel und kühl im Laden. Es war die Tageszeit, die Oom Marius am meisten liebte. Eine vorübergehende Geschäftsflaute. Das einzige Geräusch war Petrus’ rhythmisches Rascheln mit dem Besen, zum zehnten Mal am heutigen Tag. Diesem Petrus konnte man viel nachsagen, aber eines ließ sich nicht behaupten, nämlich, dass er faul war.

Soweit in der Stadt bekannt war, hatte Petrus nie im Leben ein Wort von sich gegeben. Natürlich hatte sich niemand die Mühe gemacht, bei Petrus’ Mutter nachzufragen, denn zu der Zeit, als er vor zweiundzwanzig Jahren bei Oom Marius angefangen hatte, machten sich Weiße nicht die Mühe, Schwarze viel zu fragen. Befehle zu blaffen war eher an der Tagesordnung.

Damals suchte Oom Marius nach jemandem, der seinen Laden putzte, beim Auffüllen der Regale half und tat, was er ihm auftrug. Er hatte Mitleid mit einer liederlichen schwarzen Frau verspürt, die ihre Tage damit verbrachte, sich durch die Stadt zu schleppen und Menschen um Kleingeld anzubetteln, damit sie sich und ihren schwachsinnigen Jungen ernähren konnte. Ein Blick auf die jämmerliche Frau genügte Oom Marius, um zu wissen, dass er sie nicht in den Laden stellen konnte. Mit ihrem unterernährten Aussehen würde sie die Kundschaft vergraulen.

Er ging auf sie zu. »Hey, du, wie heißt das Kind?«

»Das ist Petrus, Baas«, antwortete sie.

»Wie alt ist er?«

»Er ist acht, Baas.«

»Ist er stark?«

»Er ist stark, Baas.«

»Bring ihn morgen früh um sieben hierher, damit er mit der Arbeit anfangen kann. Und bade ihn gefälligst heute Abend. Ich will nicht, dass er nach Holzfeuer stinkt.«

»Danke, Baas. Danke, Baas.« Sie versuchte, Oom Marius’ Hand zu ergreifen.

»Geht jetzt nach Hause. Und hier, nimm das«, knurrte er und drückte ihr eine Plastiktüte mit einem Laib Brot, einem Stück knallorangen Cheddarkäse und einem Liter Milch in die Hände. »Aber erzähl niemandem, woher du das hast, hörst du?«, fuhr er sie an. »Sonst habe ich morgen früh jeden Bastard aus der Township vor der Tür.«

»Danke, Baas. Nein, Baas, ich werde nichts sagen.«

Während der Nachmittag verging und der Stundenzeiger näher an die Fünf heranrückte, wurde Oom Marius immer aufgeregter, wie jeden Nachmittag etwa um diese Uhrzeit. Petrus fiel auf, dass die Blicke auf die Wanduhr und die raschen Spurts vom hölzernen Ladentisch an der Rückseite des Geschäfts hinaus auf die Veranda, wo Oom Marius die Main Street entlangspähte, heute häufiger waren, fieberhafter.

Es musste etwas mit Missies Patty zu tun haben, folgerte Petrus. Um fünf Uhr hielt der Schulbus aus Springbok, wo sie als Sekretärin an der Highschool arbeitete. Die Schüler strömten dann in ihren grün-weißen Uniformen auf den Gehsteig vor Baas Bothas Metzgerei. Dann stieg Missies Patty auf ihre gewandte Art aus dem Bus und überquerte die Straße zum Gemischtwarenladen, um für sich und ihren Ehemann Zigaretten zu kaufen. Das war, wie jeder in der Stadt wusste, Oom Marius’ liebster Teil des Tages.

Niemand wusste mehr, wann es an die Öffentichkeit gelangt war – die Gefühle, die Oom Marius für Missies Patty hegte. Es schien ganz so, als wäre es einfach schon immer so gewesen. Natürlich sagte Oom Marius Missies Patty nicht, wie er empfand, und sie tat so, als wüsste sie von nichts. Ja, sich zu verstellen funktionierte in dieser Stadt so gut, dass sogar Missies Pattys Ehemann Shawn und Oom Marius’ Ehefrau Tannie Hettie so taten, als wüssten sie von nichts. Es war eine gute Stadt für Verstellungskünstler, dieses Klippiesfontein.

Auch wenn sich niemand erinnerte, wann er angefangen hatte, so zu empfinden, wusste doch jeder, warum er es tat. Es lag daran, dass Missies Patty viele Jahre in der großen Stadt gelebt hatte und über Großstadtangelegenheiten Bescheid wusste, von denen keiner in Klippiesfontein eine Ahnung hatte. Es lag daran, dass Oom Marius immer davon geträumt hatte, selbst in der Großstadt zu wohnen und ein...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2016
Übersetzer Ute Brammertz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel What to Do with Lobsters in a Place Like Klippiesfontein
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Dorfgemeinschaft • eBooks • Hummer • Roman • Romane • Südafrika • Wohlfühlbuch
ISBN-10 3-641-17522-4 / 3641175224
ISBN-13 978-3-641-17522-1 / 9783641175221
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