Simultan (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97463-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Simultan -  Ingeborg Bachmann
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Ingeborg Bachmann veröffentlichte 1972 mit »Simultan« ihren zweiten Erzählungsband, der ihre letzte Buchveröffentlichung seit dem Ende der sechziger Jahre parallel zu den Arbeiten am »Todesarten«'-Projekt war. Mit diesem haben sie das Thema der von der Männergesellschaft verletzten, im Leben behinderten Frau gemeinsam. In der umfangreichsten Erzählung des Bandes, »Drei Wege zum See«, findet sich denn auch der vorläufig abschließende Satz zum Patriarchat: »...solange es diesen Neuen Mann nicht gab, konnte man nur freundlich sein und gut zueinander, eine Weile. Mehr war nicht mehr daraus zu machen, und es sollten die Frauen und die Männer am besten Abstand halten...«

Ingeborg Bachmann gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.  Sie wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, Österreich geboren. Bachmanns Karriere als Schriftstellerin Nach ihrem ersten Studienjahr in Innsbruck und Graz (1945/46) gelang ihr mit der Erzählung »Die Fähre« die erste Veröffentlichung. Sie setzte ihr Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie in Wien fort, wo sie unter anderen Paul Celan, Hans Weigel, Ilse Aichinger und Victor Kraft traf. Nach ihrer Promotion mit einer Dissertation über »Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers« im Jahr 1949 veröffentlichte sie erste Gedichte in der Zeitschrift Lynkeus und Erzählungen in der Wiener Tageszeitung. Bachmann arbeitete auch an einem ersten, unveröffentlichten und verschollenen Roman »Stadt ohne Namen«. Nach ihrem Studium arbeitete sie für den amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot und schrieb Dramen, Rundfunkessays und Hörspiele, darunter »Ein Geschäft mit Träumen« (1952), »Die Zikaden«(1955) und»Der gute Gott von Manhattan« (1958). Bachmanns Überzeugung, dass nur Literatur und Kunst die existenziellen Grunderlebnisse des modernen Menschen ausdrücken können, entstand aus der Perspektive der Wiener Schule, der neopositivistischen Wissenschaftstheorie ihres Doktorvaters Victor Kraft und der Sprachkritik Ludwig Wittgensteins. Ihre Beschäftigung mit Viktor E. Frankls psychotherapeutischer Forschung und ihrer Freundschaft mit dem Dichter Paul Celan, dessen Familie zu den Opfern des Holocaust gehörte, führten zu einer »tiefgreifenden Verwandlung ihres Denkens und Schreibens« im Sinne eines kritischen Ethos. Lyrik und Musik Bachmanns erster Lyrikband »Die gestundete Zeit« (1953), für den sie den renommierten Preis der Gruppe 47 erhielt, appellierte an das kritische Gewissen der Zeitgenossen angesichts des Kalten Krieges und der gesellschaftlichen Restauration. In ihrem zweiten Gedichtband »Anrufung des Großen Bären«(1956) kehrte sie zu traditionelleren lyrischen Formen zurück. Bachmanns Synthese von Zeitkritik, literarischer Moderne und lyrischer Tradition bildete die Grundlage ihres raschen Aufstiegs zur wichtigsten deutschsprachigen Dichterin der Nachkriegszeit. Auf Einladung des Komponisten Hans Werner Henze brach Bachmann im Sommer 1953 nach Italien auf, um dort eine Existenz als freie Schriftstellerin zu begründen. Die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Henze, der sie insbesondere in die Welt der Oper einführt, schlägt sich u.a. in den Opernlibretti »Der Prinz von Homburg« (1958) und »Der junge Lord« (1965) sowie in theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Dichtung nieder. Die Rolle der Literatur in der Nachkriegszeit In den zehn Jahren nach dem Aufbruch aus Wien lebte sie in Rom, München, Neapel und Zürich und eröffnete im Wintersemester 1959/60 die Frankfurter Vorlesungen zur Problematik zeitgenössischer Dichtung. Dabei fasste sie ihre poetologischen Überlegungen erstmals systematisch zusammen und verortete sie im Prozess der Moderne literarhistorisch. Bachmann vertraute der Fähigkeit der Literatur, angesichts der verzweiflungsvollen »Dunkelhaft der Welt« unsere Möglichkeiten zu erweitern. Diese Haltung spiegelt sich in ihren Erzählungen des Bandes »Das dreißigste Jahr« wider. Beziehung mit Max Frisch Zwischen 1958 und 1962 waren sie das Traumpaar der deutschen Literatur. Die Trennung von Max Frisch 1962 fiel mit einer Lebenskrise zusammen, die den Ausgangspunkt für einen literarischen Neuansatz bildete. Die Erfahrungen von Schmerz und existenziellen Krisen fanden sich u.a. in ihrem »Todesarten«-Projekt. Am 17. Oktober 1973 starb Ingeborg Bachmann im Alter von 47 Jahren in Rom an den Folgen eines Brandunfalls.

Simultan


Bože moj! hatte sie kalte Füße, aber das mußte endlich Paestum sein, es gibt da dieses alte Hotel, ich versteh nicht, wie mir der Name, er wird mir gleich einfallen, ich habe ihn auf der Zunge, nur fiel er ihr nicht ein, sie kurbelte das Fenster herunter und starrte angestrengt seitwärts und nach vorne, sie suchte den Weg, der nach rechts, credimi, te lo giuro, dico a destra, abbiegen mußte. Dann war es also das NETTUNO. Als er an der Kreuzung verlangsamte und den Scheinwerfer aufblendete, entdeckte sie sofort das Schild, angeleuchtet im Dunkel, unter einem Dutzend Hotelschildern und Pfeilen, die zu Bars und Strandbädern wiesen, sie murmelte, das war aber früher ganz anders, hier war doch nichts, einfach nichts, noch vor fünf sechs Jahren, nein wirklich, das ist doch nicht möglich.

Sie hörte den Kies knirschen unter den Rädern und Steine zurückschlagen gegen die Karosserie, blieb zusammengesunken sitzen, massierte sich den Hals, streckte sich dann gähnend, und als er zurückkam, sagte er, damit sei es nichts, sie müßten in eines der neuen Hotels gehen, hier überzogen sie nicht einmal mehr die Betten, es gab keine Gäste mehr für alte Hotels neben Tempeln, inmitten von Rosen und unter Bougainvilleen, und sie war enttäuscht und erleichtert, es sei ihr übrigens auch völlig gleichgültig, todmüde, wie sie sei.

Im Fahren hatten sie wenig miteinander reden können, auf der Autobahn war immer dieses scharfe Geräusch da, vom Wind, von der Geschwindigkeit, das beide schweigen ließ, nur vor der Ausfahrt in Salerno, die sie eine Stunde lang nicht finden konnten, gab es dies und jenes zu bemerken, einmal französisch, dann wieder englisch, italienisch konnte er noch nicht besonders gut, und mit der Zeit nahm sie den alten Singsang wieder an, sie melodierte ihre deutschen Sätze und stimmte sie auf seine nachlässigen deutschen Sätze ein, wie aufregend, daß sie wieder so reden konnte, nach zehn Jahren, es gefiel ihr mehr und mehr, und nun gar reisen, mit jemand aus Wien! Sie wußte bloß nicht, was sie deswegen einander zu sagen hatten, nur weil sie beide aus dieser Stadt kamen und eine ähnliche Art zu sprechen und beiseite zu sprechen hatten, vielleicht hatte sie auch nur, nach einem dritten Whisky auf der Dachterrasse im Hilton, geglaubt, er bringe ihr etwas zurück, einen vermißten Geschmack, einen fehlenden Tonfall, ein geisterhaftes Gefühl von einem Daheim, das nirgends mehr für sie war.

Er hatte in Hietzing gewohnt, dann brach er ab, etwas mußte also noch in Hietzing geblieben sein, schwer auszusprechen, und sie war aufgewachsen in der Josefstadt, Wickenburggasse, dann kam das unvermeidliche namedropping, sie tasteten das Wiener Terrain ab, fanden aber keine gemeinsamen Leute, die ihnen weitergeholfen hätten, die Jordans, die Altenwyls, von denen wußte sie natürlich, wer die waren, aber kennengelernt, nie, die Löwenfelds kannte sie nicht, Deutschs auch nicht, ich bin schon zu lange weg, mit neunzehn bin ich weg, ich spreche nie mehr deutsch, nur wenn es gebraucht wird, dann natürlich, aber das ist etwas anderes, für den Gebrauch. Auf dem römischen Kongreß hatte sie zuerst Mühe gehabt, eigentlich eher Lampenfieber, wegen Italienisch, es war dann aber sehr gut gegangen, für ihn war das natürlich unbegreiflich, wenn man, wie sie, so viele Diplome in der Tasche hatte, sie erwähne es auch nur, weil sie einander sonst nie kennengelernt hätten und sie doch keine blasse, nicht einmal die blässeste Ahnung, eben nach dieser Überanstrengung und mit allen Gedanken woanders, in dieser Hilton-Pergola danach, und er in der FAO brauchte also nur Englisch und Französisch, so? und Spanisch konnte er recht gut lesen, aber wenn er nun in Rom bleiben wollte, dann war es doch ratsam, und er schwankte zwischen Privatstunden und einem Italienischkursus, den die FAO organisierte.

Er war einige Jahre lang in Rourkela gewesen und zwei Jahre in Afrika, in Ghana, dann in Gabun, länger in Amerika selbstverständlich, sogar ein paar Jahre zur Schule dort gegangen, während der Emigration, sie irrten beide die halbe Welt ab, und am Ende wußten sie ungefähr, wo sie, von Zeit zu Zeit, gewesen waren, wo sie gedolmetscht und er etwas erforscht hatte, was denn bloß? fragte sie sich, aber sie fragte es nicht laut, und sie kehrten aus Indien wieder nach Genf zurück, wo sie studiert hatte, zu den ersten Abrüstungskonferenzen, sie war sehr gut, sie wußte es auch, sie wurde hoch bezahlt, zu Hause hätte sie es nie ausgehalten mit ihrem Selbständigkeitsdrang, es ist eine so unglaublich anstrengende Arbeit, aber ich mag das eben trotzdem, nein, heiraten, nie, sie würde ganz gewiß nie heiraten.

Die Städte wirbelten auf in der Nacht, Bangkok, London, Rio, Cannes, dann wieder Genf unvermeidlich, Paris auch unvermeidlich. Nur San Francisco, das bedauerte sie lebhaft, no, never, und gerade das hatte sie sich immer gewünscht, after all those dreadful places there, und immer nur Washington, grauenhaft, ja, er auch, er hatte es auch grauenhaft gefunden und er könnte dort nicht, nein sie auch nicht, dann schwiegen sie, ausgelaugt, und nach einer Weile stöhnte sie ein wenig, please, would you mind, je suis terriblement fatiguée, mais quand-même, c’est drôle, n’est-ce pas, d’être parti ensemble, tu trouves pas? I was flabbergasted when Mr. Keen asked me, no, of course not, I just call him Mr. Keen, denn er schien immerzu keen auf etwas zu sein, auch auf sie während der Party im Hilton, but let’s talk about something more pleasant, I utterly disliked him.

Mr. Keen, der nicht so hieß und der Mr. Ludwig Frankel in der FAO-Hierarchie im Weg stand, war vor den Bahnschranken von Battipaglia ein Gegenstand gemeinsamen Interesses, erwies sich aber auch als wenig ergiebig, da sie ihn ja nur einmal gesehen hatte und Mr. Frankel ihn auch erst seit drei Monaten um sich und über sich hatte, einen hemdsärmeligen Amerikaner, un casse-pied monolingue, emmerdant, aber, wie er sich ohnmächtig zugeben mußte, sonst ein ganz entwaffnend hilfsbereiter und argloser Mensch. Sie mußte noch einmal mißbilligen und weiterreden, I couldn’t agree more with you, I was just disgusted, the way he behaved, und was hatte der Mann sich eingebildet mit seinen gut und reichlich fünfzig Jahren und einer schon kaum mehr zu übersehenden Glatze unter den dünnen Haaren, und sie fuhr ihrem Mr. Frankel durch die vielen dunklen Haare und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Er war nicht geschieden, das nicht, aber in der Scheidung, die eine Frau Frankel in Hietzing und er nur langsam betrieben, er war sich noch immer nicht schlüssig, ob eine Scheidung das Richtige war. Bei ihr wäre es fast bis zu einer Heirat gekommen, aber kurz davor doch auseinandergegangen, und über das Warum hatte sie jahrelang nachgedacht, und nie kam sie auf den Grund, nie vermochte sie einzusehen, was damals vorgefallen war. Als sie am Lido von Paestum hielten und sie wieder im Auto wartete, während er sich in den neuen Hotels umsah und verhandelte, fiel es ihr halbwegs ein, denn es hatte niemand Dritten gegeben und keine Zerrüttung, so etwas gab es jedenfalls nicht für sie, so was würde sie niemals zugelassen haben, obwohl sie Leute kannte, denen ekelhafte Dinge passierten oder die in theatralischen Vorstellungen dachten oder vielleicht brockten die sich solche Geschichten einfach ein, damit sie etwas erlebten, how abominable, wie geschmacklos, alles, was degoutant war, hatte sie in ihrer Nähe nie aufkommen lassen, nur gegangen war es doch nicht, weil sie ihm nicht zuhören konnte, höchstens wenn sie beisammen lagen und er ihr wieder und wieder versicherte, wie sehr ihm dies und jenes an ihr, und er gab ihr viele winzige Namen, die anfingen mit: ma petite chérie, und sie ihm viele große Namen, die endeten mit: mon grand chéri, und sie waren ineinander verhängt gewesen, leidenschaftlich, sie hing vielleicht noch heute an ihm, das war der beste Ausdruck dafür, an einem zu einem Schemen gewordenen Mann, aber wenn sie damals aufgestanden waren am späten Vormittag oder am späten Nachmittag, weil man doch nicht immerzu aneinander hängen konnte, dann redete er von etwas, was sie nicht interessierte, oder er erzählte ihr, wie jemand, der verkalkt ist, und er konnte doch nicht mit dreißig schon an einer schweren Arteriosklerose leiden, drei oder vier wichtige Ereignisse aus seinem Leben und gelegentlich noch einige kleinere Begebenheiten, sie kannte sie alle nach den ersten Tagen auswendig, und gesetzt den Fall, sie hätte, wie andere, die ihr Privatleben den Gerichten dieser Welt auslieferten, vor einen Richter treten müssen, um sich zu verteidigen oder um anzuklagen, so wäre weiter nichts herausgekommen, als daß es eine Zumutung für einen Mann war, wenn eine Frau ihm nicht zuhörte, aber auch eine Zumutung für sie, weil sie ihn anhören...

Erscheint lt. Verlag 24.6.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1972 • Buch • Bücher • Drei Wege zum See • Ingeborg Bachmann • Kanon • Klassiker • Literatur nach 45 • Literatur von Frauen • Männergesellschaft • zweiter Erzählungsband
ISBN-10 3-492-97463-5 / 3492974635
ISBN-13 978-3-492-97463-9 / 9783492974639
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