Sämtliche Erzählungen (eBook)

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2016 | 1. Auflage
496 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-97462-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sämtliche Erzählungen -  Ingeborg Bachmann
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Ingeborg Bachmanns Erzählungen sind unverzichtbarer Bestandteil der Gegenwartsliteratur. Sie zeigen Menschen an den Schnittpunkten ihrer Existenz, vor Entscheidungen, in denen es um das Leben geht, die Wahrheit, um die Liebe und den Tod. Neben den Erzählungen aus »Simultan« enthält der Band die Erzählungen aus »Das dreißigste Jahr« sowie alle kürzeren erzählenden Werke, die in der Gesamtausgabe von 1978 publiziert wurden.

Ingeborg Bachmann gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.  Sie wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, Österreich geboren. Bachmanns Karriere als Schriftstellerin Nach ihrem ersten Studienjahr in Innsbruck und Graz (1945/46) gelang ihr mit der Erzählung »Die Fähre« die erste Veröffentlichung. Sie setzte ihr Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie in Wien fort, wo sie unter anderen Paul Celan, Hans Weigel, Ilse Aichinger und Victor Kraft traf. Nach ihrer Promotion mit einer Dissertation über »Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers« im Jahr 1949 veröffentlichte sie erste Gedichte in der Zeitschrift Lynkeus und Erzählungen in der Wiener Tageszeitung. Bachmann arbeitete auch an einem ersten, unveröffentlichten und verschollenen Roman »Stadt ohne Namen«. Nach ihrem Studium arbeitete sie für den amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot und schrieb Dramen, Rundfunkessays und Hörspiele, darunter »Ein Geschäft mit Träumen« (1952), »Die Zikaden«(1955) und»Der gute Gott von Manhattan« (1958). Bachmanns Überzeugung, dass nur Literatur und Kunst die existenziellen Grunderlebnisse des modernen Menschen ausdrücken können, entstand aus der Perspektive der Wiener Schule, der neopositivistischen Wissenschaftstheorie ihres Doktorvaters Victor Kraft und der Sprachkritik Ludwig Wittgensteins. Ihre Beschäftigung mit Viktor E. Frankls psychotherapeutischer Forschung und ihrer Freundschaft mit dem Dichter Paul Celan, dessen Familie zu den Opfern des Holocaust gehörte, führten zu einer »tiefgreifenden Verwandlung ihres Denkens und Schreibens« im Sinne eines kritischen Ethos. Lyrik und Musik Bachmanns erster Lyrikband »Die gestundete Zeit« (1953), für den sie den renommierten Preis der Gruppe 47 erhielt, appellierte an das kritische Gewissen der Zeitgenossen angesichts des Kalten Krieges und der gesellschaftlichen Restauration. In ihrem zweiten Gedichtband »Anrufung des Großen Bären«(1956) kehrte sie zu traditionelleren lyrischen Formen zurück. Bachmanns Synthese von Zeitkritik, literarischer Moderne und lyrischer Tradition bildete die Grundlage ihres raschen Aufstiegs zur wichtigsten deutschsprachigen Dichterin der Nachkriegszeit. Auf Einladung des Komponisten Hans Werner Henze brach Bachmann im Sommer 1953 nach Italien auf, um dort eine Existenz als freie Schriftstellerin zu begründen. Die Freundschaft und Zusammenarbeit mit Henze, der sie insbesondere in die Welt der Oper einführt, schlägt sich u.a. in den Opernlibretti »Der Prinz von Homburg« (1958) und »Der junge Lord« (1965) sowie in theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Dichtung nieder. Die Rolle der Literatur in der Nachkriegszeit In den zehn Jahren nach dem Aufbruch aus Wien lebte sie in Rom, München, Neapel und Zürich und eröffnete im Wintersemester 1959/60 die Frankfurter Vorlesungen zur Problematik zeitgenössischer Dichtung. Dabei fasste sie ihre poetologischen Überlegungen erstmals systematisch zusammen und verortete sie im Prozess der Moderne literarhistorisch. Bachmann vertraute der Fähigkeit der Literatur, angesichts der verzweiflungsvollen »Dunkelhaft der Welt« unsere Möglichkeiten zu erweitern. Diese Haltung spiegelt sich in ihren Erzählungen des Bandes »Das dreißigste Jahr« wider. Beziehung mit Max Frisch Zwischen 1958 und 1962 waren sie das Traumpaar der deutschen Literatur. Die Trennung von Max Frisch 1962 fiel mit einer Lebenskrise zusammen, die den Ausgangspunkt für einen literarischen Neuansatz bildete. Die Erfahrungen von Schmerz und existenziellen Krisen fanden sich u.a. in ihrem »Todesarten«-Projekt. Am 17. Oktober 1973 starb Ingeborg Bachmann im Alter von 47 Jahren in Rom an den Folgen eines Brandunfalls.

Der Kommandant


Ein Fragment aus dem frühen Roman ›Stadt ohne Namen‹


S. fuhr schwer aus dem Schlaf. Im Fenster traten die Vorhänge auseinander. Dunkel und dicht lag die Nacht draußen. Er hielt die Augen in Schwarzblau geöffnet, ohne etwas darin wahrzunehmen, während in seinem Kopf fremde Geräusche gurgelten. Müdigkeit griff nach seinem Arm, der sich verängstigt in die Richtung des Lichtschalters bewegte, und überfiel ihn so plötzlich, daß er sein Vorhaben aufgeben mußte.

Er fand sich kaum zurecht. Doch da war die breite Straße wieder, eine begeisternde, tiefrote, breite Straße. Fröhlich schritt er aus und näherte sich der Station. Ein Zug rollte heran. Nur mehr wenige Schritte hatte er zu machen, um ihn zu erreichen und mitzukommen; dennoch hielt er an. Es wurde ihm noch rechtzeitig bewußt, daß er seine Ausweispapiere vergessen hatte. Was war ihm nur eingefallen, ohne Ausweis wegfahren zu wollen!

Er kehrte zurück. Kühl und wohltätig, seine Hast dämpfend, umfing ihn das strenge Weiß seiner Wohnung. Ehe er sich erneut auf den Weg machte, ließ er sich in den kühlsten und weißesten der Stühle fallen und atmete ein paarmal tief.

Die Station erreichte er gleichzeitig mit dem Zug. Das erschien ihm köstlich und bedeutungsvoll, und er erklomm die hohen Stufen behender, als er es zu tun pflegte.

Ein Klingeln zeigte die Abfahrt an. Im allerletzten Augenblick gelang es ihm, mit einem gefährlichen Sprung wieder die Straße zu erreichen. Seine Vergeßlichkeit war ihm ärgerlich bewußt geworden; er hatte seine Legitimation nicht zu sich genommen, und es blieb ihm nicht erspart, noch einmal zurückzugehen. Diesmal gönnte er sich keine Ruhe, er wagte nicht einmal, sich einem der verlockend bequemen Stühle zu nähern, sondern verließ die Wohnung sofort wieder, nachdem er sie betreten hatte.

An der Station unterdrückte er die Verzweiflung, die in ihm aufbrannte, denn er wußte sich wieder ohne Dokument. Aber nun war er entschlossen, auch ohne die wichtigen Papiere auf dem Fußweg sein Ziel zu erreichen!

Er nahm alle Abkürzungen, die ihn zeitsparend dünkten, und kam nach kürzester Zeit zur Kontrollbarriere XIII. Seine Vermutung bestätigte sich. Vier bis fünf Männer standen, ihren Dienst aufmerksam versehend, vor der kleinen Hütte neben der Barriere.

»Guten Tag«, lächelte S. vorsichtig.

»Die Papiere, bitte«, begann einer freundlich.

»Ich will nicht hinüber«, versicherte S., berauscht von einem Einfall. Die Männer blickten einander an, als mißtrauten sie ihm. Er zerstreute ihre Bedenken.

»Wir haben einen heißen Tag heute«, sprudelte er munter hervor.

Einer der Uniformierten zerkaute eine Überlegung.

»Wenn Sie in die Hütte hineingehen«, setzte der Posten endlich ein, »sehen Sie drin einen von uns liegen. Vielleicht ist er betrunken, aber nehmen Sie ihm ruhig das Glas aus der Hand. Er hat heute dienstfrei und kann machen, was er will.«

Blinzelnd nahm S. dies zur Kenntnis. Das gefiel allen, und nachdem er eine Weile in der Hütte gewesen war, kamen die anderen dazu, um nach ihm zu sehen.

»Ausgezeichneter Keller«, lobte S. und reichte das Glas herum. »Ihr müßt mir aber Gesellschaft leisten, sonst habe ich keinen rechten Genuß.«

Sie tranken zögernd.

»Es versteht sich von selbst«, erklärte S., »daß ich darüber zu niemandem sprechen werde, am wenigsten zu eurem Kommandanten.«

»Wenn man nur überhaupt verstünde, warum man für dieses bißchen Trinken bestraft wird!«, sagte einer, schluckte hastig und dachte weiter nach. »Man könnte ebenso gut für das Essen von Obst bestraft werden.«

Sie tranken und scherzten fort; ab und zu sah einer nach der Barriere, aber niemand kam an diesem heißen Tag vorbei. Nachdem eine geraume Zeit vergangen war, wollte S. die Hütte verlassen. Er warf sein Glas an die Wand, so daß die Scherben den erschrockenen Wächtern vor die Füße fielen und keiner wagte, ihn aufzuhalten. Als er sie verlassen hatte, tröstete der Älteste die anderen. »Dieser Mann wird uns nicht gefährlich werden.«

Der Gedanke übertrug sich auf S. »Ich werde diesen armen Burschen nicht gefährlich werden«, dachte er und setzte seinen Weg fort, als kennte er ihn.

In Wahrheit wußte er jedoch nicht, wohin ihn seine Absicht führte, die ihm nun nicht mehr so deutlich schien, wie anfangs. Er hatte sich zum Beispiel gedrängt gefühlt, seine Papiere ordnungsgemäß mitzuführen – nicht daß sie ihm hätten Aufschluß geben können, aber man hätte ihm vielleicht an der Barriere bedeutet, daß er diese oder jene Bestimmung habe, oder an einen bestimmten Ort befohlen werde. Nun aber gehorchte er nicht einem Weg, der ihm vorgeschrieben war und der aus seinen Papieren hervorging, sondern einem, von dem er hoffte, er würde ihn aus eigenem wählen und finden dürfen.

Zu beiden Seiten der Straße sausten die Telegraphendrähte; er horchte den fliegenden Signalen nach und war wunderbar belebt von dem Gedanken der Mitwisserschaft, bis ihm einfiel, daß er wohl vom Sausen der Drähte und der Übersendung von Berichten wußte, keinesfalls hingegen von ihrem Inhalt, der vielleicht ihn selbst betraf. Müde senkte sich sein Kopf zu Boden, aber sein Tempo ließ nicht nach; noch hatte er keinen Grund, aufzugeben und zurückzuschrecken, denn nach jeder Seite vermutete er Gutes und Böses, ohne daß er für das eine oder andere Bestätigungen finden konnte. Der Wein, der sich leicht in ihm eingenistet hatte, verscheuchte seine Gedanken und schob ihm ein fröhliches Lied auf die Lippen.

Plötzlich hielt er an. Tönte seine Stimme nicht vertäusendfältigt in die Gegend? Er preßte seine Hand auf den Mund, der sich anfühlte, als wäre er zu einem riesigen Instrument angewachsen, aber das Lied sang sich trotzdem weiter. Vielleicht fehlte nun die Stimme, die er dazu beigesteuert hatte, aber wer hätte das genau feststellen können? Endlich klärte sich der Himmel zu beiden Seiten der Straße und gab die Urheber der Stimme frei. Ein unübersehbarer Trupp von Uniformierten marschierte singend auf gleicher Höhe mit S., ja, man könnte sagen, eine Handbreit hinter S., wenn nicht auf diese Weise der Eindruck entstünde, daß S. die Marschierenden anführte – und es wäre ihm nichts ferner gelegen, als diese Leute anzuführen, da er ja selbst seines Weges und Zieles nicht sicher war. Es kam ihm jedenfalls nicht zum Bewußtsein, daß er ihnen in der Mitte der Straße um diese Handbreit voranschritt und daß die Kolonnen am Straßenrand den Eindruck eines Gefolges erweckten.

Immerhin sang sich das Lied jetzt, seit es Unterstützung gefunden hatte, leichter, und man bezwang die öde, endlos wirkende Straße müheloser und schneller.

Gegen Abend mündete die Straße in eine Treppe, die sich ebenso breit und grau gegen den Horizont abzeichnete. Über der Treppe erhob sich ein Bau von überwältigender Einfachheit. Fenster liefen so unaufhörlich zur Höhe, einer grandiosen Höhe, daß man die Augen schließen mußte. Zwischen ihnen verbarg sich ein Netz feiner Apparate und ließ eine komplizierte Maschinerie hinter der kahlen Fassade ahnen.

S. blickte befriedigt auf die schwarzen Lettern, die zwischen der ersten und zweiten Fensterreihe die Aufschrift »Kommandantur« ergaben, und war überzeugt davon, daß man ihn vorgeladen hatte und daß er hier eine Weisung empfangen sollte.

Unbesorgt schritt er die Treppe hinauf und hörte, daß die marschierenden Kolonnen anhielten und er allein den Weg fortsetzte.

Lautlos flogen die Flügeltüren auf; er eilte an zwei undurchdringlich vor sich hinblickenden Wachen vorbei, die ihre Gewehre stumpf zu Boden gestreckt hielten, und sah sich in einer Halle, die ihm den Atem nahm vor Weite, Leere und Stille. Tiefer im Raum schien eine Beratung abgehalten zu werden. Dem Flüstern, das sich auf- und abschwellend zu ihm fortpflanzte, entnahm er, daß der neue Kommandant zur Übernahme der Geschäfte erwartet werde.

S. zögerte, weiter zu gehen, bis sich ein Mann aus der Gruppe löste und sich ihm mit entschiedenen, sicheren Schritten näherte. Mit einem gleichgültigen Blick maß er S. zuerst, nahm dann jedoch die Haltung einer niederen Charge an und bat ihn mit leiser, monotoner Stimme, sich zum Stab zu begeben.

Den Uniformierten mit einem halb wohlwollenden, halb Distanz gebietenden Blick zurücklassend, setzte S. die Durchquerung des Saales fort. Die letzten hundert Schritte, die ihn noch von der Gruppe der Beratenden trennten, machten ihn zum Zeugen einer lebhaften Auseinandersetzung. Niemand schien zu wissen, wer der neue, zu erwartende Kommandant war, und S. fürchtete, die Kommandantur in einem äußerst ungünstigen Augenblick erreicht zu haben und wenig...

Erscheint lt. Verlag 24.6.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Buch • Bücher • Entscheidung • Erzählungen • Ingeborg Bachmann • Kanon • Klassiker • Leben und Tod • Literatur nach 45 • Literatur von Frauen • Meisterwerk • Mensch • menschliche Existenz
ISBN-10 3-492-97462-7 / 3492974627
ISBN-13 978-3-492-97462-2 / 9783492974622
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