Elephantinas Moskauer Jahre. (eBook)

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2016 | 1. Auflage
233 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74465-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Elephantinas Moskauer Jahre. -  Julia Kissina
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Wie eine junge Frau aus Kiew loszog, in Moskau ihr Glück zu suchen Von Sehnsucht nach dem freien Künstlerdasein gepackt, folgt die junge Elephantina ihrem Idol in die Katakomben Moskaus. Der rotgesichtige Dichterguru Pomidor, ein Mann in den besten Jahren, prominenter Kopf der Avantgarde, hat sie die »neue Achmatowa« genannt. Vergessen das provinzielle Kiew, die öde Kunstschule. Durch Bahnhöfe, Theatergarderoben und Museen von einer Schlafstatt zur nächsten irrend, findet die nonnenhaft gekleidete Nomadin eine Wohnung, die sie schon bald in eine Künstlerkolonie verwandelt. Dichterabende in überfüllten Studentenklubs mit Spitzeln in den hinteren Reihen, verbotene Kunstaktionen in Moskau und Umgebung, die Begegnung mit Allen Ginsberg, eine Vorladung beim KGB - doch all das ist nur die Kulisse, vor der Elephantina sich nach Pomidor verzehrt. Eine éducation sentimentale in kräftigen Farben, episodenreich und voller Temperament und Gelächter.

<p>Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den 80er Jahren zum Kreis der Moskauer Konzeptualisten um Vladimir Sorokin und Pawel Pepperstein und machte sich mit spektakulären Kunstaktionen und als Fotokünstlerin auch international einen Namen. 2005 erschienen auf Deutsch <em>Vergiß Tarantino</em> sowie das Kinderbuch <em>Milin und die Zauberkreide</em>. Sie lebt in New York und Berlin.</p>

Abscheu vor dem Theater


Alles begann in Venedig. Im Jahre 1519, als er gerade die Arbeit an seiner »Assunta« beendet hatte, erhielt Tizian einen neuen Auftrag: Die Familie Pesaro bestellte ein großes Gemälde für eine Seitenkapelle der Basilica dei Frari. »Die Madonna der Familie Pesaro« sollte das Andenken des Admirals Jacopo Pesaro bewahren, welcher im Jahre 1502 mit der Flotte Papst Alexanders IV. einen bedeutenden Sieg über die Türken errungen hatte.

Nun denn, die Madonna sitzt auf einem hohen Thron (eine Reminiszenz an die »Treppenmadonna« – dieses Motiv griff viele Jahre später auch Marcel Duchamp auf). Zu Füßen der Jungfrau lehnt der Apostel Petrus, auf der rechten Seite des Bildes stehen die Schutzheiligen Franziskus und Antonius von Padua. Links, neben dem heiligen Georg, kniet Jacopo Pesaro. Georg schaut zu einem Türken, der sich im Schatten verbirgt. Das Gemälde ist voller Pathos. Schwupps sind da auch ein paar ganz reizende, erfrischend lebendige Motive eingeflochten: Der kleine Jesus versucht, tapsig und übermütig, Maria das weiße Tuch vom Kopf zu ziehen. Neben den älteren Mitgliedern der Familie Pesaro sehen wir mein durchgeistigtes Gesicht im Alter von zwölf Jahren, das uns nachdenklich anschaut.

Ja, das bin ich, so erkenne ich mich immer wieder!

Weitere enigmatische Beschreibungen dieses Bildes in Büchern oder im Internet. Zum Beispiel:

Die Komposition des Altarbildes der Pesaro-Madonna lässt eine klare, tiefe Durchgeistigung spüren. Die ausdrucksvolle Charakterisierung der dargestellten Personen schlägt den Betrachter in Bann. Besonders entzückend ist der Kopf des kleinen Jungen!

Tatsächlich, damals sah ich noch wie ein Junge aus. An der Malschule wurde ich »Madonna Pesaro« genannt. Später nicht mehr. Später sah ich ganz anders aus, aber das war schon im 20. Jahrhundert, und auch nicht mehr in Italien, sondern in der ruhmreichen Stadt Kiew.

Hier, in einer von Sonnenstaub durchschwirrten Wohnung in einem alten, windschiefen Betongebäude, ertönte jeden Morgen das fabrikmäßige Rattern einer Schreibmaschine. Das war mein Papandrelo. Er schrieb Stücke für ein schmutziges Theater in der Bolschaja Wassilkowskaja. Bei den Premieren applaudierte das Publikum wie auf dem Broadway. Samstags machten sich die Damen der Stadt festlich herausgeputzt auf den Weg ins Theater, überquerten ein großes Stück Brachland, staksten über Hundeleichen und Konservendosen, um nach der Aufführung mit Plastikfächern zu wedeln und zu sagen:

»Es war einfach umwerfend!«

In der Stadt gab es noch ein anderes Theater – einen erhabenen Monolithen aus grauem Stein, der sich an einer laubgelockten Straße befand. Um das graue Theater herum herrschte fieberhafter Betrieb, vor allem damals im September, als man »Richard III.« aus Tiflis brachte. Shakespeare, der große georgische Dramatiker! Das wurde nur noch von den »Saisons russes« in Paris übertroffen! Zuchthausfilz und Pappkronen beherrschten die Bühne! Shakespeare wurde zu Brecht!

Stunden vor Öffnung der Theaterkasse begann die Schlacht. Das Publikum prügelte und würgte sich, trat und schubste, fluchte und spuckte. Ingenieure in verwaschenen Socken und hungerleidende Ärzte trieben Schwarzhandel mit Eintrittskarten.

Und die jungen Leute? Wie kamen die in die Vorstellungen? Sie krochen durch die Keller- und Toilettenfenster, sickerten in die Ziegelmauern ein und rieselten als Goldregen auf die düstere Galerie herab. Ach, goldene Zeit der großen Taten! Manchmal kletterten sie sogar mit Bergstock und Karabiner an den Steilwänden des Theaters empor und drangen durch das Dach ins Innere. Das war wie im fernen Colorado, wo verwegene Hitzköpfe vereiste Wasserfälle hinaufkraxeln. Manch einer stürzt dabei ab. Im Frühling findet man sie dann – jung und nackt: Wer nicht zerschmettert wurde, ist erfroren. Es kommt auch vor, dass solche Alpinisten erst dreißig Jahre später von ihren erwachsenen Kindern und gealterten Ehefrauen entdeckt werden. Mit dem Theater ist es wie mit den Bergen: Wer einmal hinter die Kulissen fällt, der liegt dort bis in alle Ewigkeit.

Die Vorstellung hatte immer schon begonnen, wenn wir endlich in den Tempel eingedrungen waren. Aber dort oben auf dem Schnürboden zu stehen, auf dem Olymp, wo die Götter weilen, und in den Abgrund hinabzublicken, zu den winzigen Schauspielerfigürchen auf der beleuchteten Bühne – das war atemberaubend!

Eines Tages im Herbst war es aus damit. Ein Dichter stürzte von der Brandmauer, ein Dichter, wie es ihn bis heute nicht wieder gegeben hat! Er war siebzehn Jahre alt.

Da sagte ich mir:

Von nun an gehört mein Leben nicht mehr der Malerei und auch nicht dem Theater, sondern der Poesie!

Und was ist mit der Malschule? Mit den Landschaftsstudien, den neuen Barbizons, der Madonna Pesaro? Wir waren weder Mädchen noch Jungen, unser Geschlecht hatten wir einer wichtigen Sache zuliebe abgelegt und waren eine Armee von Buckligen geworden, verzauberte Käfer, die Holzkästen auf dem Rücken schleppten. Das Ritual, mit Malkästen auf die Hügel zu wandern, war wichtiger als die Sache selbst, für die wir es taten. Dort, auf den Steilhängen des Dnepr, auf dem Gipfel der Glückseligkeit, auf dem Gletscher der Träume, stellten wir unsere Staffeleien auf, Insekten mit Aluminiumbeinen, und schmierten bunten Ölfarbenkot auf unsere Leinwände. Das Ganze nannte sich dann »plein air«.

Aber die Wirklichkeit war um einiges feierlicher als unsere jämmerlichen Versuche, sie im Bild festzuhalten.

Zu Ehren jenes siebzehnjährigen Toten, der mir nie vor die Augen gekommen war, schrieb ich ein Poem.

»Wenn du mit der Literatur ernst machst, werden dich Selbstzweifel und Geldmangel quälen. Bist du dazu bereit?«, fragte Papandrelo mich eines Tages.

Um großer Ziele willen war ich sogar bereit, mich in das tiefste sibirische Schlammloch zu stürzen.

Jahre später erst fiel mir auf: In der Familie meiner Mitschülerin Scherwinskaja waren alle Historiker gewesen, das heißt Inhaber nutzloser Berufe, Gipfelstürmer der Exzellenz, geistige Avantgarde!

Scherwinskaja selbst war eine raffinierte Klugscheißerin, die ihre kastanienbraunen Augen gekonnt aufblitzen ließ.

»Die Zunge ist ein Säbel. Das Blut des Feindes muss von ihm herabtropfen!«, orakelte sie.

Ich betrachtete ihre reifenden Brüste und dachte an Entscheidungsschlachten.

An Energie mangelte es uns nicht. Wir wollten den Alltag in die Luft sprengen, der Welt den Kampf ansagen: Zu diesem Zweck simulierten wir Ohnmachtsanfälle im öffentlichen Nahverkehr! Wir geschlechtsreifen Komsomolzinnen nannten uns damals ganz altmodisch Fräulein. Besonders lieb ist mir die Geschichte von dem Korsett, das in einem morschen, der Revolution durch ein Wunder entgangenen Großmutterschrank der Scherwinskis gefunden wurde. Ein solcher, jeden Bezug zur Gegenwart entbehrender Gegenstand wie ein Korsett musste bei halbwüchsigen Mädchen zwangsläufig zu geistiger Umnachtung führen. Wie trugen das Korsett abwechselnd, unter der trostlosen Schuluniform, bis es eines Tages, als die Dickste und Gefräßigste von uns es anhatte, mit einem martialischen Geräusch platzte, mitten im Unterricht, als wir gerade die Geschichte der Kommunistischen Partei durchnahmen.

Scherwinskaja brachte Pausenbrote mit in die Schule. Der Belag glich einem säuberlich aufgebügelten, schwarzen Filz mit blassen Milchglasstückchen aus angetautem Speck.

»Mit dieser Salami ist der Boden in der Basilica San Marco ausgelegt. Sag bloß, du weißt das nicht? Logisch, woher auch. Ihr seid ja keine Adligen oder Weißgardisten, nicht einmal Kosaken. Die haben die Wurst mit ihren Säbeln – zack – in der Luft zerschnitten, dass es nur so pfiff, als die osmanischen Kanonen damit auf sie feuerten im Russisch-Türkischen Krieg! Und den gleichen Belag findest du in der Basilius-Kathedrale!«

Ich ging weiterhin zu den Scherwinskis, um teilzuhaben am Allerhöchsten. Ihre Maman war das Inbild gezügelter Leidenschaft und guten Geschmacks. Ihr Großvater fragte uns ab:

»Also was ist, Mädels, seid ihr bereit zum Musendienst? Ihr wisst ja, der Kampf ist unvermeidlich: Mann gegen Mann, der Künstler gegen die Menge!«

Er hatte eine schnittige Kopfform und glatt geöltes Haar, wie ein pomadisiertes Stachelschwein. Immer wieder zog er seine Parade vor uns ab.

»Das Leben des Künstlers ist sagenhaft schwer. Und es soll auch schwer sein, er ist schlechterdings dazu verpflichtet! Man muss die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Denn justamente wir, das sowjetische Volk, sind die Aristokraten des Geistes! In dieser Situation, da alles Materielle in den Staub getreten und geschändet ist, bleibt uns keine Wahl. Und wenn wir uns schon vom Geist ernähren, sind wir auch echte Engel mit Flügeln. Vor allem ihr, Mädels!«

Unter dem Einfluss dieser grausigen Großväter und Janitscharen verfassten wir ein Künstlermanifest, das folgendermaßen lautete:

Niemals auf die Meinung anderer hören.

Sich dem Werk opfern.

Keine Lehrer akzeptieren, immer den eigenen Weg gehen.

Die allgemeine Ordnung in Frage stellen.

Allen Einflüssen und Autoritäten Widerstand leisten.

Sich niemals verlieben!

Das letzte Gebot war das wichtigste.

Diesen Schwur legten wir eines schönen Herbsttags auf dem Steilhang im Park des Ruhmes ab, in der Nikolajewskaja-Einsiedelei, im ugrischen Hain, auf Askolds Grab, direkt an der Rotunde, auf totem, blindem Laub, und besiegelten ihn mit Blut, indem wir unsere verschorften Wunden aufeinanderpressten. Und als wir unseren Schwur taten, dort oben über dem mächtigen...

Erscheint lt. Verlag 8.5.2016
Übersetzer Ingolf Hoppmann, Olga Kouvchinnikova
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Elefantina ili Korablekrusccenija Dostoevceva
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte »éducation sentimentale« • Künstlerroman • Moskau • Theater
ISBN-10 3-518-74465-8 / 3518744658
ISBN-13 978-3-518-74465-9 / 9783518744659
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