Es hätte mir genauso (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
320 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-19966-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Es hätte mir genauso -  Ali Smith
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Man stelle sich vor: Jemand gibt eine Dinnerparty, man unterhält sich gepflegt über Gott und die Welt, und zwischen Hauptgang und Dessert steht einer der Gäste auf und geht kurz nach oben. Und kommt nicht wieder. Hat sich im Gästezimmer eingeschlossen. Auf Tage, Wochen, Monate ...

Zu einer Dinnerparty bringt der Freund eines Freundes einen Fremden mit, Miles Garth. Man unterhält sich, wird angenehm betrunken, die Diskussionen werden lebhafter, und manchmal schrammen sie auch kurz am Streit vorbei. Man kennt das. Miles fügt sich einigermaßen in die Runde ein, auch wenn er als Vegetarier, der nicht trinkt und manchmal allzu offen spricht, irgendwie anders ist. Doch dann steht Miles mitten unter dem Essen auf, schließt sich im Gästezimmer ein und ist fortan nicht mehr dazu zu bewegen, wieder herauszukommen. Das kennt man eher nicht. Und es ist überdies ganz schön peinlich, zumal der ungebetene Dauergast bald überregionale Prominenz erlangt und sich um das Haus in Greenwich eine Miles-Fangemeinde schart, inklusive Protestbannern und Merchandising. Währenddessen versuchen vier Personen das Rätsel um Miles zu lösen: Anna, die vor dreißig Jahren mit Miles durch Europa reiste; Mark, der Miles zur Party mitgebracht hat; May, eine alte, demente Frau, deren Verbindung zu Miles sehr überraschend ist (und sehr zu Herzen geht); und die neunjährige Brooke, die vor Wissbegierde strotzt und Wortspiele über alles liebt.

Ali Smith erzählt diese aberwitzige Geschichte, die eigentlich jedem hätte genauso passieren können, mit unvergleichlichem Wortwitz und rasantem Charme. Ihr Roman ist eine umwerfende Satire über die Brüchigkeit gesellschaftlicher Konventionen - und wie wenig es nur braucht, um die geheiligte Ordnung unseres bürgerlichen Lebens gehörig durcheinanderzubringen.

Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten. Sie ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Ihr Roman »Beides sein« wurde 2014 ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award, dem Saltire Society Literary Book of the Year Award, dem Goldsmiths Prize und 2015 mit dem Baileys Women's Prize for Fiction. Mit »Herbst« kam die Autorin 2017 zum vierten Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize sowie auf Platz 6 der SWR-Bestenliste, für »Sommer« erhielt sie den George Orwell Prize. 2022 wurde Ali Smith mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet.














wenn und aber, warum schließt einer sich ein / glaubt er, er sei am Ende, oder soll es ein Neuanfang sein?

Marks Mutter Faye war seit siebenundvierzig Jahren tot. Ihr neuester Trick, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, war das Reimen.

Mark ging im Park spazieren. Er hatte ganz vergessen, wie schön es hier war. Und wenn er testet, ob man um ihn trauert / heißt das im Umkehrschluss, dass er nicht dauert? Das war interessant, denn sonst war sie viel platter und plumper als heute Vormittag. Außerdem sah es ihr nicht ähnlich, Fragen zu stellen. Fragen erheischen ja eine Antwort, nicht? Sie erheischen eine Reaktion. Ausgenommen rhetorische Fragen, und zugegeben, die waren bei ihr an der Tagesordnung (»rhetorisch nennt man eine Frage, bei welcher man keine Antwort erwartet oder welche die Antwort implizit schon enthält«: Grundzüge des Englischen, Wälzer der Wahl bei den Älteren an der St. Faith, wenn sie Jüngeren den Hintern versohlten, was einen nachhaltigen Schmerz hinterließ, der lebenslang mit Grammatik verknüpft im Gedächtnis gespeichert wurde). Mark ging den langen Weg um den Hügel herum und durch das Wäldchen hinauf zum Observatorium, weil der vielleicht etwas weniger steil anstieg. Na, steil genug war es immer noch. Um wieder Atem zu schöpfen, setzte er sich auf eine Bank gegenüber der Stelle, an der einst einer der Königlichen Hofastronomen – oder war es ein Hofastronomen-König – einen ziemlich tiefen Schacht in die Erde gegraben hatte. Laut Hinweistäfelchen hatte der Königliche Hofastronom dort unter der Erde gesessen, buchstäblich im Berg, und den Himmel durch ein Teleskop betrachtet. Der Schacht war zum Fürchten tief.

Danach ging Mark um das Hauptgebäude herum und trat für einen Moment in die kleine Camera Obscura ein, und jetzt stand er wenige Schritte neben dem Sprechenden Fernrohr und schaute, am Geländer lehnend, auf den Park, den er gerade durchquert hatte so, so, durchquert einen Park / und fühlt sich wunder wie stark ja, so kannte er sie. Er blickte über den Hang auf die Bäume, so hübsch zerzaust, auf die Wege, die sich hier und da kreuzten, so elegant, dass ihre Anlage planvoll und zufällig zugleich erschien; elegant auch die weißen Kolonnaden und die weiß getünchten Prachtbauten am Fuße des Parks. Die neuen Geschäftstürme der City standen Schulter an Schulter auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses im Bildhintergrund wie eine Fata Morgana, wie doppelt belichtet. Greenwich. Einst und jetzt. Er war lange nicht hier gewesen. Er sollte öfter herkommen. Ihm gefiel wo manch alte Königin gern zu Gast / dich zu sehen, mein Junge, kein Wunder, das passt und gleich, wie um ihr eins auszuwischen, dachte er mit aller Kraft an die echte alte Königin, die historische, die im Wortsinn die Jungfräuliche Königin war, und als Erstes fiel ihm etwas ein, was sich in ihrer Jugend zugetragen hatte, wo hatte er das bloß gelesen? Er kam nicht drauf, aber der Verfasser, wer immer es war wie oft muss ich’s dir unters Näschen reiben / sind nicht alles bloß Männer, die Bücher schreiben hatte Elizabeth I. sehr eindrucksvoll geschildert. Hier hatte sie getanzt, in der großen Halle ihres Lieblingspalasts, genau hier in Greenwich, vor so vielen Hunderten von Jahren, sie war jung und schön, blass und dünn, war sie doch krank gewesen, genau genommen genas sie von langer Krankheit, einer, bei der es einmal so schlecht um sie gestanden hatte, dass man um ihr Leben fürchtete, und genoss es daher, dass sie seit Monaten zum ersten Mal richtig Antrieb verspürte, war erhitzt und glücklich von der Jagd gekommen und wollte unbedingt tanzen. Höflinge und Musiker waren also in die Halle geströmt, und sie hatte sich zurechtgemacht; sie sah bei den Verbeugungen und Drehungen aus wie eine prachtvolle Tulpe, schrieb der Verfasser, aber da kam Cecil, ihr Sekretär, schob sich durch die Reihen der Tänzer, er hatte eilige Neuigkeiten und flüsterte der Königin von England ins Ohr, ihre Cousine, die Königin von Schottland, habe einen Sohn geboren. Die Jungfräuliche Königin erbleichte vor Schreck und errötete vor Schreck, hörte auf zu tanzen, stand starr. Dann machte sie, die sonst so Beherrschte, so Herrische, weltweit für ihre Gleichmut Berühmte, auf dem Absatz kehrt und lief zum Saal hinaus, die verängstigten Zofen aufgescheucht und mit raschelnden Ballkleidern ihr allesamt nach, und fanden, in ihren Privatgemächern angelangt, die in einen Sessel gesunkene Königin schluchzend. »Die Königin von Schottland ist Mutter eines hübschen Sohns, und ich bin nur ein dürres Holz« denn Kinder gebären ist einzige Weiberpflicht / sie taugen weiß Gott ja zu anderem nicht aber der Witz an der Geschichte, Faye, ist: Tags darauf war sie wieder die Alte, ruhig und gefasst, empfing Staatsmänner, ging ihren politischen Geschäften nach fast wie eh und je, sie war nämlich, auch wenn ihre schlimmsten Befürchtungen eintrafen, auch wenn ihre Dämonen sie heimsuchten, das, was man eine Kämpferin nennen würde, diese alte Königin. Und es war reine Charakterstärke, die ihr alle Wechselfälle der Geschichte zu bestehen half, nicht wahr?

So!

Das würde sie fuchsen.

Tat es auch.

Schweigen.

Vogelgezwitscher drang Mark ans Ohr, einige volle Sekunden lang, Gemurmel von Leuten, die sich hinter ihm an der Meridianlinie anstellten, er verstand sogar einiges von dem, was sie redeten, aber dann brüllte wieder sie ihm ins rechte Ohr mit der Kraft eines Windkanals, er hätte beinahe das Gleichgewicht verloren wart nur, kleines Rabenaas / die Geschichte, die mich aus dem Leben fraß / lugt schon ums Eck, wirst auch nicht jünger / und endest wie alle als Tulpendünger.

Stilles Grab, dass ich nicht lache!, sagte er laut.

Das Paar mit dem kleinen Kind, das dicht neben ihm stand und ihm, als er kam, freundlich zugelächelt hatte, hob das Kleine hoch und rückte von ihm ab. Ein Stück weiter setzten die Eltern es vor dem Geländer wieder auf den Boden.

Mark wartete ab. Ob sie seine Bemerkung über das Grab kommentieren würde?

Nein.

Nichts.

Auch gut, dachte er.

Er fühlte sich wie immer: aggressiv und ein bisschen enttäuscht. Ich und mein Schatten. Er steckte den Zeigefinger ins Ohr und ruckelte darin herum, wollte schauen, ob er den Windkanaleffekt wegbrachte. Es war frustrierend. Jonathan, jetzt seit über fünf Jahren tot, sprach nie zu Mark, immer nur Faye. Inzwischen kam es ihm vor, als würde er von einer Pennerin attackiert, einer Stadtstreicherin in einem zerschlissenen Mantel, der fünfzig Kriege mitgemacht hat; sie schreit nur noch, als hätte sie schon lange das Gehör verloren.

Das hört sich vielleicht komisch an, aber »spricht« sie mit dir auch?, hatte Mark in einer Aufwallung, die für eine kurze Weile aussah wie echter Kontakt, an David gesimst, als Handys noch neu und aufregend waren. David hatte mit der aufreizenden Lässigkeit des jüngeren Bruders einen Durchblickersermon zurückgesimst, und das in etwa der Zeit, die Mark allein dafür brauchte, den Knopf wiederzufinden, den er drücken musste, um ein Leerzeichen vor dem nächsten Wort zu setzen. Selbst wenn würd ich nicht antwortn glaub mir ohne ist das Leben viel besser du bist BEKLOPPT mark DAS weiß ich seit dem 1 Frühstück als ich 7 war & du 12 & dich beim Toast entschuldigt hast weil du Cornflakes wolltest! ;-) David wäre nie so uncool, ein Semikolon in einem Text richtig zu verwenden oder einen Apostroph. Mark fehlte sein Bruder. Sie kamen nicht mehr oft zusammen, weil Davids Frau Mark nicht leiden konnte. Mark hatte bei ihrer Trennung von David nämlich für sie Partei ergriffen, hatte bei zig Telefonaten mit der Angesäuselten verständnisvoll in den Hörer gebrummelt und sie in der Zeit ihrer Trennung sogar eine Weile bei sich im Gästezimmer wohnen lassen – demütigend für sie, wenn sie nach der Versöhnung mit David irgendwo Mark begegnete.

Zeit, Erinnerungen, Familie, Geschichte und Verluste hin oder her – es war mitten an einem Oktobervormittag im Park von Greenwich. Der Himmel drohte lahm mit Regen, und es war ein warmer Tag, neunzehn oder zwanzig Grad vielleicht, viel zu warm für die Jahreszeit, ein letztes Prangen mit Wärme, bevor die Schotten für den Winter dichtgemacht wurden. Menschen waren so anpassungsfähig! Ohne es auch nur zu merken, glitten sie blindlings von einem Zustand in den nächsten. Den einen Morgen war Sommer, den nächsten wachte man auf, und das Jahr war herum; den einen Moment war man dreißig, den nächsten sechzig, seine Sechzig nächstes Jahr waren wie ein Lidschlag. Es ging alles so schnell. Schnell und reibungslos und dabei, wenn man es sich recht überlegte, bestürzend, wie die Jahreszeiten und die Jahre eins auf das andere folgten Herrgott, muss das so banal sein/muss Philosophie eine Qual sein / statt zu predigen schenk lieber Wein ein er schottete sich ab gegen sie, dachte mit aller Kraft an das herrliche Foto, das er im Frühjahr für die Herbst/Winter-Ausgabe von Wildlife aufgespürt hatte. Er hatte vorgeschlagen, es für den Umschlag zu verwenden, aber auf Arbeitsbienen, die bloß Fotos recherchierten, hörte ja keiner (sie hatten wieder Pinguine genommen). Es war das Foto eines goldfarbenen kleinen Vogels, der im Winter irgendwo auf einem Feld in Italien sang, eine Nahaufnahme: das Feld mit Reif bedeckt, der Vogel sommerfarben und so leicht, dass er auf dem gebogenen Stängel einer abgestorbenen Blume sitzen konnte. Das eigentlich Interessante an dem Foto aber war, dass man sah, wie das...

Erscheint lt. Verlag 28.4.2016
Übersetzer Silvia Morawetz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel There But For The
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • England • Greenwich • Roman • Romane • Satire
ISBN-10 3-641-19966-2 / 3641199662
ISBN-13 978-3-641-19966-1 / 9783641199661
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